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XXX
Wieder und wieder zog es ihn an diesen dunklen, kalten und modrigen Ort. Umgeben von Getier aller Art, von Schmutz und von Fäulnis, fühlte sich der sonst so polierte und geputzte Peter Hasenstock wohler als in seinem nach Bienenwachs und Rosenwasser duftenden Schlafgemach. Er war dem Herrgott dankbar dafür, dass ihm dieser Ort wieder ins Gedächtnis gekommen war.
Ja, diese kalte Höhle enthielt so viele heiße Erinnerungen an solch bedingungslose Hingabe und solch maßlose Selbstvergessenheit, dass sie erneut zu einer regelrechten Sucht für den Apotheker wurde. Allein hierherzuschleichen und nicht dabei beobachtet zu werden, wie man sich durch den engen Spalt in der Mauer hinein in die feuchte Grube zwängte, löste in ihm eine größere Reizwirkung aus als der heimliche Besuch des Frauenhauses, wo man auf Schritt und Tritt bekannten, verschämten Gesichtern begegnete. Hier jedoch kam niemand her, niemand außer ab und an einmal der elende Wurm Carnifex, um mit seinem neuen Meister die Lage zu besprechen. Doch dieser Halunke wagte nur auf Einladung den Weg hierher. Seine beiden Freunde jedoch, die Männer aus den Habsburger Kernlanden, waren fort, genauso wie der mysteriöse angebliche Sohn Marias, der Hasenstock ohnehin Angst gemacht hatte. Ja, all diese Leute waren fort und hatten nur Gutes hinterlassen, nämlich eine um einiges an Geld erleichterte und dafür ordentlich verunsicherte Margarethe Gänslein.
Auch an diese Frau dachte Hasenstock mitunter, wenn er, auf altes, stinkendes Stroh gebettet, in seiner Höhle lag und nicht nur den Erinnerungen, sondern auch seiner regen Phantasie freien Lauf ließ. Doch leider, leider – selbst wenn er versuchte, sich gehörig anzustrengen, blieben all seine phantasievollen Anstrengungen, Margarethe Gänslein betreffend, unbefriedigend. Und das lag daran, so musste er sich wohl oder übel eingestehen, dass er sie noch nicht voll und ganz in der Hand hatte – die schroffe, schöne Witwe.
Die Dinge entwickelten sich seit einigen Wochen zwar zu seinen Gunsten, aber alles gedieh doch äußerst langsam. Man war in Besitz des Schlüssels zum Hause dieser Frau, aber man durfte keinen merklichen Schaden anrichten. Ein paar Steinchen im Pfeffer hier, ein paar Larven im Safran da und eine Handvoll Holzkügelchen im Muskat, das hatte reichen müssen. Außerdem hatte man sich öffentlich geschlagen gegeben und gebeugten Hauptes auf die Vormundschaft für die alleinstehende, reiche Frau verzichtet, da diese nun ihr ganzes Hab und Gut dem Sohn ihrer Base, diesem Herumtreiber Georg, vermachen wollte, sobald dieser unversehrt wieder europäischen Boden betrat. Ja, Hasenstock hatte nachgegeben, um keinen Verdacht zu erwecken, denn aller Verdacht, der auf ihn als aktiven Feind der Witwe Gänslein fiele, könnte für ihn äußerst gefährlich werden. Wäre diese Gefahr nicht, so dachte er bei sich, während er eine riesige Spinne in ihrem Netz dabei beobachtete, wie sie eine Motte einspann – wäre diese Gefahr ein für alle Mal aus der Welt geschafft, dann könnte er endlich alles geben, könnte zuschlagen, könnte sie in Ketten legen lassen oder sie dazu zwingen, seine Frau zu werden.
Letzteres, das musste er sich eingestehen, war ihm mehr und mehr der liebste Gedanke, und das lag vorwiegend daran, dass er damit mehrere Fliegen mit einer Klappe schlug. Zum einen sollte man die Kuh, die man melken möchte, nicht zur Schlachtbank führen, und dass Margarethe Gänslein die bessere und erfahrenere Kauffrau war, wusste auch er. Lebend wäre sie ihm nützlicher als tot, und zudem könnte nur so dieser plötzlich ins Feld geworfene Erbe, der Spross ihrer Base, unschädlich gemacht werden. Als Gemahl der reichen Kauffrau wäre das Dasein des Peter Hasenstock ein weitaus angenehmeres, weniger arbeitsames als das eines Apothekers, der sich nach dem Vernichten seiner Feindin als Fernhändler würde üben müssen.
Außerdem kam hinzu, dass Margarethe ihn schon immer gereizt hatte. Er hasste sie, das stand ohne Zweifel fest, aber genauso sehr wollte er sie auch besitzen, sehr viel mehr als sein zwar wunderschönes, junges, aber dafür langweiliges Weib – diese Last, die es ohnehin loszuwerden galt, bevor er frei für eine neue Heirat wäre. Doch das sollte eine nur geringe Sorge darstellen, über die es sich jetzt nicht den Kopf zu zerbrechen galt.
Wichtig war nun, endlich dieser Beweise habhaft zu werden, die, kämen sie schwarz auf weiß ans Tageslicht, ihn ins abgrundtiefe Verderben stürzen würden. Er wusste, dass es derartige Beweise gab, und er konnte sich auch vorstellen, wie sie aussahen. Es mussten Schriftstücke sein. Denn dieser elende Schuft Reinold hatte immer und überall geschrieben. Selbst unter den widrigsten Umständen, selbst bei Regen und Schnee, bei Hagel und Sturm, wenn sie auf ihrer Flucht aus den Bergen lediglich unter einer Plane oder in einem verfallenen Schober Unterschlupf gefunden hatten – auch dann hatte Reinold seine Büchlein gezückt und darin geschrieben. Und diese Tagebücher musste er gemeint haben, als er Peter Hasenstock kurz vor seinem Ableben gedroht hatte, dass er ausreichend vorgesorgt habe, falls Hasenstock ihm posthum einen Streich spielen wolle.
»Die Wahrheit nehme ich nicht mit in mein Grab«, hatte Gänslein gedroht, und Hasenstock hatte es ihm geglaubt.
»Irgendwo hat er diese Bücher versteckt, und sein Weib hat sie noch nicht gefunden. Hätte sie schon darin geblättert und alles in Erfahrung gebracht, dann würde sie sich gewiss anders betragen. Gewiss würde sie sich dann anders betragen«, so sinnierte er nun.
Bislang hatte er aus reiner Verdrängungskunst und auch aus Bequemlichkeit nicht daran gedacht, auf die Suche nach diesen verfluchten Schriftstücken zu gehen. Denn selbst wenn Margarethe alles eines Tages in Erfahrung brächte, wäre das für ihn ohne Belang, zumindest solange auch sie noch etwas zu verlieren hätte. Sie müsste schweigen, um ihre eigene Haut als Erbin eines Mörders und Betrügers zu retten. Denn auch diese Gewissheit würde sie nach der Lektüre der Tagebücher erlangen. Säße sie aber im Blumenloch, im Kerker unter dem Rathaus, wartete nichts weiter als der nackte Tod auf sie, dann würde sie singen wie ein Vögelchen, und das durfte nicht sein. Das war der unbequeme Zwiespalt, in dem Hasenstock schon seit Jahren steckte. Er wollte sie so gern vernichten oder wenigstens erobern, doch das konnte ihm nur gelingen, wenn er für dieses gerissene Weib unantastbar war. Und eine oberflächlich weiße Weste erhielt er nur dann, wenn – ja, wenn er die Beweise für den Pakt, welchen er in jungen Jahren mit Reinold Gänslein geschlossen hatte, fand und vernichtete.
Es war an der Zeit dazu, denn, so schmerzhaft dieses Eingeständnis war: Viele Jahre blieben ihm nicht mehr. Allein bei diesem Gedanken begann das entsetzliche Jucken wieder Oberhand zu gewinnen, doch hier, an diesem Ort, wo ihn lediglich Spinnen, Schaben, Fledermäuse und Ratten beobachteten, durfte er dem schrecklichen Reiz ungehemmt nachgeben und sich an allen Stellen kratzen, die dies von ihm verlangten. Vielleicht waren es noch zwei, vielleicht drei Jahre, aber sterben würde er gewiss daran, auch wenn der verfluchte Zwerg gesagt hatte, dass dies nicht unbedingt der Fall sein müsste. Hasenstock jedoch wusste von niemandem, der das überlebt hatte, nicht dauerhaft.
Es half nichts. Er war gezwungen, die vermaledeiten Bücher zu finden, bevor er starb, bevor der Herumtreiber aus der Neuen Welt nach Hameln zurückkam und bevor seine Kassen völlig leer waren. Denn aus der Geldtruhe, welche die Tiroler Halunken und Carnifex in ebenseiner, der Hasenstockschen Höhle, gehoben hatten, war ihm von seinem ohnehin gering ausgehandelten Anteil nur ein kläglicher Rest geblieben. Wieder einmal war er blank, blank wie eine nackte Maus.
Aber zum Glück hatte er ja den Schlüssel.
»Meister«, vernahm er nun die gedämpfte, raue Stimme von Till Carnifex vor dem Eingang zu seinem Unterschlupf.
Rasch nahm Hasenstock seine Hand aus der engen Strumpfhose und zog sich sein teures Wams zurecht.
»Was will er?«, raunte er sodann.
»Ihr habt mich hergebeten.« Nun steckte der hässliche Kerl seinen großen, kahlen Schädel in die Höhle. Es verwunderte ihn offenbar nicht, den feinen Herrn stets in einem solchen Drecksloch vorzufinden, zumindest machte er nicht den Eindruck, dies als ungewöhnlich anzusehen.
»Ich will, dass er das Haus der Gänslein beobachtet und mir Bescheid gibt, wenn alle Vögel ausgeflogen sind. Zur Not soll er dafür sorgen, dass die verbleibenden Mägde ruhiggestellt sind. Es werden etwa zwei Stunden völliger Ruhe benötigt, in denen ich mich sorgsam dort drinnen umsehen kann.«
»Aber gern doch«, sagte Carnifex, grinste sein übliches, fauliges Grinsen und zog den Kopf wieder aus der Höhle heraus, während Peter Hasenstock erleichtert damit fortfuhr, seinen furchtbaren Juckreiz mit aller Kraft zu bekämpfen.
Die Witwe Mechthild war nur wenigen sündhaften Lastern verfallen. Ihre Putzsucht zählte sicherlich dazu, auch wenn sie bei ihr weitaus geringer ausgeprägt war als bei anderen Hamelner Bürgersfrauen. Des weiteren liebte sie Orakel und Hellseherei, was wenig zu ihrer Gottesfurcht passte, und dann den Weinbrand, von dem sie sich täglich einen gehörigen Schluck gönnte, durchaus auch mal zwei, und wenn der Hals kratzte – was häufig der Fall war –, auch mal einen ganzen Becher. Mehr jedoch ließe sich zu ihren Ungunsten nicht anführen. Im Gegenteil, die Liste ihrer guten Eigenschaften nahm sich ungleich länger aus. Eine ihrer besten Tugenden war ihre Verlässlichkeit. Denn alles, was man dieser guten Seele anvertraute, behielt sie für sich, machte es zu ihrer eigenen Sorge und schloss denjenigen inbrünstig in ihre Gebete ein. Das Wohl ihrer Base Margarethe war schon von jeher ein wichtiger Bestandteil der Gebete Mechthilds, und das nicht etwa, weil es sich bei der reichen Kauffrau um ihre Gönnerin handelte, sondern weil Mechthild die Tochter der Schwester ihres Vaters aufrichtig liebte.
Und da sie Margarethe so sehr liebte, war sie auch sehr um deren Wohlergehen besorgt. Die letzten Wochen und Monate hatten der Hausherrin ordentlich zugesetzt, sie war abgemagert und blass geworden, von Sorgen zerfressen – berechtigten Sorgen, mit denen sie sich nur anfänglich, und das auch nur in Bruchstücken, an Mechthild gewandt hatte. Natürlich ging es dabei um turbulente Geschäfte, um untreues Gesinde, und es ging wohl auch, so vermuteten Mechthild und Regine gemeinsam, um eine unglückliche Liebe. Doch all das waren, laut Regine, nur winzige, zusätzliche Probleme, denn im Grunde drehe sich doch alles um Reinold und dessen Erbe.
Mechthild hatte den Gemahl ihrer Base niemals richtig kennengelernt. Nur auf dem Hochzeitsfest, welches in Anbetracht des Todes von Margarethes Vater wenig aufwendig gefeiert worden war, hatte sie den damals noch jungen Bräutigam zu Gesicht bekommen und nachher lediglich durch den Briefwechsel mit Margarethe von seinen Geschäftserfolgen als Gewürzhändler erfahren. Der Mensch Reinold Gänslein war ihr fremd geblieben, jedoch schätzte sie ihn als einen frommen und inbrünstigen Reliquiensammler, obgleich Margarethe der Base niemals erlaubt hatte, die für einen Privatmann enorme Sammlung in Augenschein zu nehmen.
Ja, da gab es diesen Raum.
Das stets abgesperrte Gelass, in dem all die persönlichen Dinge des Verstorbenen aufbewahrt wurden. Selten nur fand Margarethe selbst den Weg dort hinein, niemals aber jemand anders, nicht einmal Mechthild.
»Nur unnützer Tand ist dort verborgen. Damit brauchst du dich nicht abzugeben, gutes Hildchen«, waren stets Margarethes Ausflüchte, wenn Mechthild sie auf die geheime Kammer ansprach. In letzter Zeit aber hielt Margarethe sich ausgesprochen häufig in diesem vermeintlich unnützen Raum auf, ganze Sonntage verbrachte sie dort und kam nicht einmal herunter, um gemeinsam mit ihrer Base das Mittagsmahl einzunehmen.
»Es sind die Sorgen um Reinolds Vergangenheit, die sie so sehr plagen«, wiederholte Regine immer wieder, wenn Mechthild ihr davon berichtete. »Man sollte ihr helfen, meine Gute.«
Und mit dieser Hilfe hatte die Begine – so gut verstand Mechthild ihre langjährige Freundin mittlerweile – gemeint, dass man heimliche Nachforschungen betreibe.
Es war also an jenem Morgen eine Frage des Gewissens, als Mechthild sich aufmachte, eben diese Nachforschungen zu beginnen, und damit der kurzen Liste ihrer Laster eine neue Sünde hinzufügte. Eine Sünde, von der sie hoffte, dass sie ihr als gut gemeinte Verzweiflungstat vergeben würde, diese Sünde des Hintergehens, ja der Betrügerei, wenn man so wollte.
Das Haus war leer. Margarethe, eine der beiden Mägde und ihr Sekretär Bennheim waren auf dem Weg zum entfernten Kloster Corvey, wo die Hamelner Gewürzhändlerin sich höchstpersönlich für die schlechte Qualität ihrer letzten Lieferung entschuldigen wollte. Der Küchenbursche hatte an diesem Tage frei, und die andere Magd – das hatte Mechthild vom Fenster aus beobachtet, als sie sich zu ihrer Mittagsruhe begeben wollte – war rasch über den Pferdemarkt davongeschlichen, um sich, ohne Wissen der Herrin und deren vermeintlich schlafender Base, eine faule Zeit zu gönnen.
Die beste Gelegenheit also, um sich den Schlüssel zu dem heimlichen Gemach aus dem Mechthild längst bekannten Versteck zu holen und herauszufinden, was sich, abgesehen von den wunderbaren Reliquien, noch an Sammlungen in dem Kämmerlein verbarg.
Ihre Hände zitterten, als sie die schmale und niedrige Türe zu dem Gelass aufschloss. Wie sehr hatte sie sich schon immer gewünscht, die heiligen Schätze zu bestaunen, die der Kaufmann aus aller Herren Länder mitgebracht und sorgsam verwahrt hatte. Jetzt also war es so weit, jetzt also trat sie ein in das Reich des Verstorbenen, in dem dieser, so vermutete die allwissende Regine, nicht nur Denkmale seiner Frömmigkeit aufbewahrte.
Ganz so, als betrete sie eine heilige Stätte, setzte Mechthild andächtig und vorsichtig den ersten Fuß in das Kämmerlein. Der modrige Geruch abgestandener Luft und feuchten Staubes schlug ihr entgegen, stockfinster war es, sodass sie eine Kerze aus der angrenzenden kleinen Stube holen musste.
Eine große Enge herrschte in dem Gelass, in dem zahlreiche massive Holzregale bis zur Decke reichten. Sie waren allesamt befüllt mit Schachteln, Schatullen, Büchern und auch Stapeln von losem Papier.
Mechthild sah sogleich ein, dass es nicht die geringste Aussicht darauf gab, in diesem überfüllten, ja chaotischen Zimmerchen etwas zu finden, was auch nur ansatzweise Licht ins Dunkel der Vorgänge brachte, in welche ihre unglückliche Base hineingeraten war. Ja, vielmehr musste sie sich eingestehen, dass sie gar keine große Lust verspürte, in all den verstaubten Papieren und den von Würmern zerfressenen Büchern herumzustöbern. Vielmehr reizte sie die fromme Sammlung des Kaufmanns. Ja, die heiligen Reliquien, die Haare, Knochen und getrockneten Eingeweide zahlreicher Märtyrer, die Splitter eines vom Zimmermann Josef aus Nazareth eigens gehauenen Balkens, die Tränen der Maria Magdalena, aufgefangen unter dem Kreuze Christi und in ein Fläschchen aus venezianischem Glas gefüllt, das geronnene Blut des großen Paulus, welches aus seinem Halse troff, nachdem er zum Tode durch das Schwert verurteilt worden war, nicht zu vergessen der Strick, an dem sich der Verräter Judas aufgehängt hatte. All das wünschte sie sehnlichst zu sehen, es zu berühren, dabei zu beten und zu hoffen, durch ihre fromme Inbrunst Gott ein Wohlgefallen zu sein und somit die eigene und auch die Seelen anderer zu retten oder zumindest ihre Zeit im Fegefeuer zu verkürzen.
Als Mechthild es gerade wagen wollte, eine sehr kleine, aber reich mit bunten Edelsteinen verzierte Dose zu öffnen, da hörte sie plötzlich die Dielen der nahen Stube knarren.
Schnell zog sie ihre Hand zurück und starrte zur Türe.
Jemand war im Haus!
Mechthild nahm sich nicht die Zeit, darüber nachzudenken, wer dieser Jemand sein könnte – ob es vielleicht die viel zu früh zurückgekehrte Margarethe, eine der ausgegangenen Gesindekräfte, ein unerwarteter Besucher oder gar ein brutaler Räuber war, der sich da näherte. Nein, diese Zeit nahm sie sich nicht. Rasch blies sie die Kerze aus, lief schneller, als man es von ihr erwartet hätte, durch den stockdusteren Raum bis hinter dessen letztes Regal, und verbarg sich dort in einer Ecke. Es war ein nur unzureichendes Versteck, aber eine bessere Möglichkeit, sich zu verbergen, gab es hier nicht. Nun musste sie Ruhe bewahren, still beten und hoffen, denn der ungebetene Gast hatte bereits die geheime Kammer Reinold Gänsleins betreten.
Mechthild versuchte angestrengt, in der Gestalt, die sie durch die zahlreichen überfüllten Regale hindurch nur schwer ausmachen konnte, ihre Base erkennen zu können. Angenehm wäre es ihr nicht, von Margarethe beim Herumschnüffeln ertappt zu werden, aber immerhin besser, als dass ein Einbrecher sie aufspürte und meuchelte. Zitternd lugte sie zwischen Büchern und Schatullen hindurch, wohlbedacht, nichts zu berühren, um ja kein Geräusch von sich zu geben. Doch leider konnte sie nicht mehr als einen menschlichen Schatten ausmachen, der Größe und Statur nach zu urteilen jedoch eindeutig männlichen Geschlechts. Margarethe war es nicht und ebenso wenig der schmächtige Küchenbursche, geschweige denn der dürre, krumme Bennheim.
Ein Fremder hatte sich also Zutritt zum Hause verschafft. Und sie, die fromme Witwe Mechthild, war ganz allein mit ihm.
Ihr Herz begann nun noch wilder zu schlagen. So wild, dass sie sich ihre rechte Hand beruhigend auf die Brust legte, womit sie jedoch keine Wirkung erzielte. Im Gegenteil, ihr wurde regelrecht schwindelig, sie begann zu wanken, war aber noch geistesgegenwärtig genug, sich eilig, aber leise auf den Boden zu setzen, bevor sie krachend in die Regale gestürzt wäre. Mechthild schloss die Augen und legte ihre Handflächen an die kühle Wand, um durch die Kälte des Putzes wieder ein wenig Leben in ihren Körper zurückzubringen.
Doch seltsamerweise war da gar kein Putz. Nicht dort unten, wo sie nun hockte.
Stattdessen ertastete Mechthild Holz. Vorsichtig drehte sie sich um. In der Dunkelheit war es nicht genau zu erkennen, aber deutlich war immerhin, dass sich von dem grauen Putz der Rückwand weiter unten ein etwas dunkleres Viereck abzeichnete. Eine Luke.
In diesem Moment verließ der Eindringling den Raum. Sie hörte, wie sich seine Schritte entfernten. Jedoch ging er nicht ganz fort. Er schien in der angrenzenden kleinen Stube hin und her zu laufen.
Eilig. Suchend.
Er holt sich mehr Licht, dachte Mechthild und wusste nun, dass ihr nur wenig Zeit blieb, um sich besser zu verbergen, bevor er mit Laternen und Kerzenleuchtern den gesamten Raum erhellte.
Mechthild tastete nach der Holzluke. Und tatsächlich, welch Wunder, sie ließ sich öffnen. Nahezu lautlos ließ sie sich öffnen. Allein das Hochdrücken des Riegels hatte ein leicht scharrendes Geräusch verursacht, welches jedoch leicht mit Wühlen von Mäusen oder Ratten hätte verwechselt werden können und somit unverdächtig war. Ohne darüber nachzudenken, was sie hinter dieser geheimen Klappe erwartete, kroch Mechthild ungeachtet ihrer ungeübten Knochen hinein und schloss das hölzerne, kleine Tor wieder hinter sich.
Da saß sie nun, in diesem verborgenen Kämmerlein, das größer zu sein schien, als sie erwartet hatte. Zudem war es hier ganz und gar nicht stickig – im Gegenteil, es wehte ein leichtes Lüftchen, und der Atem ging frisch und frei. Es war eine Holzkonstruktion. Der Boden war aus Holz, und auch die Wände, denn durch die schmalen Ritzen der Bretter drang ein wenig Tageslicht herein.
Wo in Gottes Namen war sie?
Diese Frage konnte sie sich später stellen. Jetzt galt es erst einmal, sich ruhig zu verhalten, denn der Fremde schien wieder in das Reliquienzimmer zurückgekehrt zu sein. Von dort war nämlich ein durchaus vorsichtiges Wühlen und Räumen, hin und wieder auch ein leises Fluchen zu vernehmen. Derjenige, der sich in Gänsleins Gelass zu schaffen machte, ging äußerst achtsam zu Werke. Und so leise, wie er war, fürchtete er offenbar, ertappt werden zu können. Er war sich wahrscheinlich nicht sicher, allein im Hause zu sein. Wie konnte er auch? Jedermann in dieser Stadt wusste, dass die Base der Gewürzhändlerin hier Asyl gefunden hatte und das Haus am Pferdemarkt so gut wie nie verließ. Handelte es sich also um einen kundigen Räuber, so war er darüber informiert, dass wenigstens Mechthild daheim sein musste. Dieser Einfall behagte ihr ganz und gar nicht. Dennoch war sie froh, nicht in ihrem Zimmer gewesen zu sein, als der Dieb eingedrungen war, denn ein besseres Versteck als dieses, welches ihr mit Gottes Hilfe offenbart worden war, hätte sie im ganzen Hause niemals finden können.
Jetzt stahl er mit Sicherheit all die wertvollen Reliquien! Das Erbe Reinold Gänsleins. Sein Schatz, der ihm die Pforten zum Himmelsreich öffnen sollte. Welch eine Sünde, welch eine unglaubliche Sünde war es doch, einen solchen Raub zu begehen. Die Haut würde ihm bei lebendigem Leibe abgezogen, sollte man diesen Schandtäter ausfindig machen.
Margarethe hingegen, das wusste Mechthild, wäre nicht traurig, den Tand losgeworden zu sein. Allein um die goldenen Kistchen und die edelsteinverzierten Schatullen täte es ihr leid. Sie hielt die Knöchelchen, Haut- und Stofffetzen, die einst in und an den Leibern von Heiligen und Märtyrern getragen worden waren, ohnehin für Trug und Blendwerk. Und seit dem raschen Bekanntwerden der Thesen Luthers war mit Sicherheit auch der Marktwert solcher heiligen Gebeine und sonstiger Überreste gesunken. So viel hatte auch Mechthild nach jahrelangem Aufenthalt in einem Kaufmannshaus unweigerlich lernen müssen. Doch Angebot und Nachfrage hin oder her, für Mechthild waren und blieben diese Dinge unantastbar heilig, und das Vergehen, welches sich dort drüben abspielte, war ein Verbrechen, das den verantwortlichen Übeltäter mit großer Sicherheit am Fegefeuer vorbei unmittelbar in die Hölle transportieren würde.
Gerade hatte sie sich mit diesen Gedanken abgelenkt, als es plötzlich ruhiger wurde. Er schien sein Vorhaben vollbracht zu haben und war nun hoffentlich fort. Mechthild wartete eine weitere halbe Stunde regungslos. Dann – sie wagte es noch immer nicht, die Holzluke zu öffnen – erinnerte sie sich, dass sie noch den Kerzenstumpf und auch die Zündhölzer in ihrem Unterrock verborgen hielt. Es reizte sie nun doch, ein wenig mehr Licht zu machen, um zu sehen, wo genau sie sich hier befand.
Was sie dann erblickte, nachdem sie die Kerze entzündet hatte, ließ sie trotz der gefährlichen Lage, in die sie geraten war, ein wenig schmunzeln.
Hierher hatte es sie also verschlagen. In den vergessenen Erker.
Mechthild befand sich nirgendwo anders als in dem hölzernen Anbau, welcher am hinteren Teil des Hauses auf Höhe des ersten Stockwerks angebracht war. Dort stieß er fast an die Wand des Nachbargebäudes, eines Handwerksbetriebes in der Emmerngasse, und diese Nähe war es auch, welche den Erker gezwungenermaßen unbrauchbar gemacht und ihn dann in völlige Vergessenheit hatte geraten lassen. Laut Margarethe war dies die Sorge der Vorbesitzer des Kaufmannshauses gewesen, einer alten, jedoch verarmenden Stadtadelsfamilie, denen Reinold Gänslein ihr prächtiges Gebäude vor mehr als zwanzig Jahren zu einem günstigen Preise hatte abkaufen können. Zu diesem Zeitpunkt war der Vorsprung bereits seines Zweckes verlustig gegangen, denn ursprünglich hatte er als Abort gedient. Eine in jeglicher Hinsicht angenehme Idee war dies gewesen, denn zum einen hatte es mühseliges Treppensteigen erspart, man war nicht gezwungen gewesen, auch des Winters oder bei Regen den Hinterhof aufzusuchen. Und zum anderen war es auch eine weniger geruchsbelästigende Angelegenheit als ein Nachttopf im Zimmer, denn von diesem Erker aus fiel das Davongegebene durch ein Loch unmittelbar nach unten. Aber genau das war das Problem gewesen, weshalb die Adelsfamilie und der nachbarliche Handwerksmeister sogar bis vor den Rat gegangen waren. Denn die Gasse zwischen den beiden Häusern war nach einigen Jahren durch ebendieses wie ein Schwalbennest am Hause hängende, heimliche Gemach zu einem mehr als ungemütlichen Platz geworden. Und das konnten weder der Nachbar noch der Rat der Stadt weiterhin dulden. Somit war das Örtchen nun schon lange stillgelegt und vergessen, sein innerer Zugang zugemauert und lediglich mit einer hölzernen Klappe versehen worden, die Mechthild jedoch ein Rätsel aufgab.
Warum hatte man diese Öffnung offenbar nachträglich in die zugemauerte Wand geschlagen? Das sah ganz nach Heimlichkeiten aus. Jemand hatte also Grund, hin und wieder diesen verbotenen Ort zu betreten.
Es dauerte nicht lange, und die findige Frau entdeckte den Grund: als sie nämlich den runden, hölzernen Deckel von dem kastenartigen »Donnerbalken« nahm, den Deckel, der ursprünglich dazu gedient hatte, das Loch, auf dem man im Fall des Falles Platz nehmen sollte, vor unangenehmer Zugluft zu schließen. Denn als Mechthild ebendiesen Deckel anhob, blickte sie nicht, wie erwartet, in die Tiefe zwischen den beiden Stadthäusern. Nein, das Loch war mit Brettern verstopft, und der Hohlraum mit nichts anderem als Büchern gefüllt, in Leder eingebundenen Büchern. Mehr als ein Dutzend mochten es sein.
Mechthild ließ etwas von dem Wachs ihrer Kerze auf den Donnerbalken tropfen, um das Licht dort zu befestigen, denn ihre Neugierde verlangte nun nach beiden Händen. Unverhohlen griff sie in die Tiefe und fischte eines der Bücher hervor. Es war kalt und feucht, das Leder stank modrig, und die Seiten klebten aneinander. Doch als Mechthild es auf einer willkürlichen Seite aufschlug, erkannte sie sofort, was sie da vor sich hatte.
»Tagebücher.«
Die Kerze flackerte in diesem zugigen Bau stark, das Licht war schlecht, und sie musste sich arg anstrengen, um die teils von der Feuchtigkeit verschwommene Handschrift entziffern zu können. Doch sosehr Mechthild sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, denn die Worte waren ihr vollkommen fremd.
Allein die Jahreszahl war zu entziffern: MDV.
»Aufzeichnungen aus dem Jahre 1505«, murmelte Mechthild leise vor sich hin.
Die Base der Kaufmannswitwe wusste in diesem Moment noch nicht, dass sie soeben den Schlüssel zu einem großen Rätsel in Händen hielt.
Bedächtig, als handele es sich auch hierbei um eine heilige Reliquie, legte Mechthild das Buch zurück in den Abortkasten und verschloss diesen wieder mit dem dafür vorgesehenen Deckel. Dann lauschte sie eine Weile angestrengt. Doch als sie nichts weiter vernahm als die Geräusche des Marktes und der angrenzenden Gasse und sie nun nach so langer Zeit sicher sein konnte, dass der Wüstling das Haus verlassen hatte, öffnete sie vorsichtig die Holzluke, die wieder zurück in die Reliquienkammer führte. In der niedrigen Öffnung hockend, verharrte sie eine weitere Weile lauschend, um dann langsam in das dunkle Kämmerlein mit seinen vielen Regalen zu kriechen.
Dem Anschein nach war alles beim Alten. Nichts hatte sich verändert. Alle Kisten, Schatullen und Bücher standen an ihrem Platz.
Mechthild staunte.
Ein wenig erleichtert wagte sie, einen Blick in die angrenzende, helle, kleine Stube zu werfen.
Auch diese schien verlassen und aufgeräumt.
Ebenso das gesamte weitere Haus, dessen Räume sie in einem Anflug ungeahnten Mutes durchschritt.
Niemand, keine Menschenseele. Niemand außer den raschelnden Mäusen und den drei umherstreifenden faulen Katzen.
Hatte sie sich etwa getäuscht, und es war gar kein Räuber gewesen, der es gewagt hatte, ungefragt und unangekündigt am helllichten Tage ins Haus der Hamelner Gewürzkauffrau einzudringen?
War es etwa nur eine Traumgestalt, ein Geist gewesen?
Oder gar ein von Gott gesandter Engel, der auf diese Art und Weise der ängstlichen Frau eine bis dato unbekannte Pforte gewiesen hatte?
Mechthild war sich nicht mehr sicher.
Verwirrt ließ sie sich auf einem Stuhl in der menschenleeren Küche nieder und schenkte sich gleich einen ganzen Pokal voller Weinbrand ein. Ein Birnengeist, den Margarethe von einem entfernten Landgastwirt bezog, eine wunderbare, beruhigende Medizin. Und eine solche benötigte Mechthild nun mehr als dringend.
»Lasst mich bitte hier schon heraus, guter Mehlmann«, rief Margarethe dem pfeifenden und gut gelaunten Fuhrmann zu, der sie, die junge, neue Magd sowie den Secretarius zwei Tage lang begleitet hatte und seinen Wagen nun vom entfernten Kloster Corvey an der Weser nach Hameln zurücklenkte. Fritz Mehlmann hatte allen Grund, froh zu sein, hatte er doch ein lohnendes Geschäft gemacht.
»Mit dem Kahn den Fluss hinunter wäre es Euch günstiger gekommen«, war Bennheim die ganze Fahrt über nicht müde geworden zu betonen und hatte Margarethe damit gehörig ins Gewissen geredet, denn nachdem sie beinahe den Abt und sein Kloster als wichtige Kunden verloren hätte und die Geschäfte auch sonst alles andere als rosig liefen, wäre es tatsächlich angebracht gewesen, ein wenig sparsamer mit dem bis dato als unerschöpflich angesehenen Vermögen umzugehen.
Ja, die zwei Tage außerhalb der Stadt hatten ihr gutgetan, jedoch nur in der Hinsicht, als dass sie verdrängen konnte, was hinter den vertrauten Mauern nun wieder auf sie warten würde. Und aus diesem Grund wollte sie wenigstens noch ein halbes Stündchen hinauszögern und die Ruhe ihres nun im Frühling wunderschönen, frischen und umso wilderen Rosengartens genießen.
Allein, verstand sich, während Bennheim und das Mädchen weiter mit dem Fuhrmann in die Stadt und zu ihrem Hause fuhren.
Dort, unter jungem Löwenzahn und frischem Moos lag es, das Grab ihrer Magd, die hier, so musste Margarethe vermuten, nun allein ohne ihre Kinder ruhte. Die junge Gerda, welche, obwohl läufig und unkeusch, dennoch die treueste Seele unter den Gesindekräften der Gewürzhändlerin gewesen war. Doch daran wollte Margarethe nun nicht mehr denken.
Sie wollte vielmehr einfach nur dasitzen, dem Zwitschern der Vögel lauschen und die Seele frei sein lassen. Ja, ein leerer Kopf, der wäre seit einigen Wochen Gold wert. Doch so einfach das klingen mochte, nichts war schwieriger zu erlangen als Gedankenlosigkeit. Aber vielleicht würde es ihr ja hier, an diesem ihr eigenen, freien Ort gelingen, obgleich auch diesem so viele schwere Erinnerungen anhafteten.
Ungeachtet des Vogeldrecks und einiger Erdkrümel, die auf der steinernen Bank lagen, ließ sie sich erleichtert nieder und schloss für einen Moment die Augen. Sie legte den Kopf in den Nacken und schüttelte ihn dann leicht, um auch die Gedanken an das zunächst unangenehme Gespräch mit dem von ihren Waren enttäuschten Abt zu verdrängen. Durch Demut, hundertfache Entschuldigungen und das Versprechen, zukünftig die Gewürze für die bedeutende Reichsabtei eingängiger zu prüfen, war es ihr schließlich gelungen, den Gottesmann wieder milde zu stimmen, denn schließlich wusste er, dass weit und breit niemand derartig gute und außergewöhnliche Waren lieferte wie die Hamelner Kauffrau.
Margarethe öffnete, noch immer ihr Gesicht zur sprießenden und blühenden Decke der Laube gerichtet, die Augen. Doch mit einem Mal verengte sich ihr Blick.
»Was ist das?«, murmelte sie und stand auf. Da zwischen den Zweigen steckte ein hohles Stück Holz, aus welchem ein zusammengerolltes Papier herausschaute.
Margarethe griff nach der Röhre und zog den Brief ganz heraus.
Hastig brach sie das einfache Siegel und entrollte das Schreiben. Sofort erkannte sie in den Zeilen ein Gedicht.
Wer verbarg an diesem Ort ein Gedicht?
»Treue ist kein wertlos Gut,
nicht für verwandte Seelen.
Verzweiflung gar und kleiner Mut
zwangen einst, mich fortzustehlen.
Ich bin noch da und denke oft
an längst vergangne Stunden.
Mitunter hab ich still gehofft,
du hätt’st uns längst gefunden.
Ja, wir sind zwei, auch drei an Zahl
und leben im Verborgnen,
wo einst eine Mutter ohn Gemahl
gehaust hat voller Sorgen.
Der Zwang allein trieb uns hierher.
Es war ein bittrer Weg.
Wir fanden keinen Abschied mehr,
doch dies nun ist Beleg
für unsere Treue, unsre Kraft,
die wir noch immer leisten,
auch sie hat es hierher geschafft,
bekümmert sich am meisten.
Zur Ruhe hat gebettet er
die Früchte lieb und klein,
damit von der Wurzel nimmermehr
Sie losgerissen sei’n.
Lies diese Zeilen als einen Ruf
von dir ergebenen Leuten.
Denn was Freundschaft einst erschuf,
wird Tücke nie erbeuten.«
Margarethe ging den seltsamen Brief noch einmal durch. Erst nachdem sie sich die Worte wiederholt angeschaut und sie laut vorgetragen hatte, ging ihr ein Licht auf. Sie lächelte.
»Vinsebeck«, sagte sie dann. »Das kann nur Vinsebeck sein.«
Dann las sie ein weiteres Mal die mysteriösen Zeilen.
»Vinsebeck und zwei weitere treue Leute. Immeke und Johanna?« Margarethe war sich nicht sicher, aber sie hoffte. »Sie halten sich versteckt. Sie leben, und offensichtlich haben sie auch Gerdas Kinder wieder begraben. Er, wer immer damit gemeint ist, hat es getan.«
Und tatsächlich, dort zu ihren Füßen, konnte man eine noch nicht lange ausgehobene und wieder zugeschüttete Stelle unter altem Laub ausmachen.
Beseelt, fast glücklich ob dieser Botschaft, trat Margarethe nun den Heimweg an. Es war das erste Mal seit Wochen, dass sie sich nicht mehr betrogen, nicht mehr allein, nicht mehr wertlos fühlte. Sie hatte sich getäuscht, ja, sie hoffte inständig, sich in den Menschen, die ihr so viel bedeutet hatten, getäuscht zu haben, als sie geglaubt hatte, von ihnen allen hintergangen worden zu sein.
Noch immer mit einem Lächeln auf den Lippen, betrat sie ihr Haus. Ihre neue Magd kam ihr sogleich entgegen, nahm ihr den Umhang ab und fragte, was sie der Herrin nach der anstrengenden Reise bringen dürfe. Doch Margarethe kam nicht dazu zu antworten, denn oben auf der Treppe zum ersten Stockwerk erschien plötzlich Mechthild. Nie zuvor war ihr die Base so groß, so präsent, so entschlossen vorgekommen.
»Grete, kommst du bitte gleich in meine Kammer? Ich habe da etwas gefunden, das für dich von großem Interesse ist.«
Kein Willkommensgruß, kein erleichtertes Aufatmen seitens der stets besorgten Mechthild?
Margarethe war verwundert, jedoch nach wie vor zu gut gelaunt, um etwas Schlimmes hinter dem sonderbaren Verhalten der Base zu vermuten.
»Bringe sie mir einen kühlen, weißen Wein. Bitte von dem Pfälzischen«, rief sie ihrer Magd zu, während sie sich bereits aufmachte, um die Witwenkemenate Mechthilds zu betreten.
»Regine! Ihr seid ebenfalls zugegen«, sagte Margarethe, nur wenig überrascht über die bereits zur Gewohnheit gewordene Präsenz der Begine. Überraschend waren lediglich die gespannt dreinschauenden Gesichter der beiden Frauen, überraschend war der seltsam modrige Geruch in der sonst nach Weihrauch duftenden Kammer, und überraschend waren insbesondere die zahlreichen vergilbten, teils zerfallenen Bücher, die aufgeschlagen auf dem Tisch, dem Fußboden und gar auf dem Bett der frommen Mechthild verteilt lagen.
»Wir wollen dich nicht beunruhigen, meine Liebe. Aber du solltest die Erste sein, die einen genauen Blick dort hineinwirft.«