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XXXIII
Hans Vinsebeck war der klügste und wissensreichste Mensch, dem Johanna bislang in ihrem Leben begegnet war. Es gab kaum ein Thema, zu welchem der kleine Mann keine Meinung hatte, und nicht ein Augenblick des Tages verstrich, ohne dass er auf Anregungen zu langen Vorträgen oder Ideen zu neuen Experimenten stieß. Tatsächlich war es interessant, was sie in den letzten Wochen alles von dem vor Energie nur so sprudelnden Zwerg gelernt hatte. Sie kannte sich nun aus in Astronomie und gar in Astrologie, wusste verschiedene Gesteine zu unterscheiden und erinnerte sich sogar an manche lateinische Bezeichnung für diverse Mineralien. Die Namen Pythagoras, Aristoteles und Platon waren ihr nicht mehr fremd, sie kannte sich aus in der Historie des alten Rom, konnte die Ilias und die Odyssee wiedergeben und zierte sich auch nicht, ihrem Hausgenossen beim Einrichten eines spärlichen, aber phantasievollen Behilfslabors zur Seite zu stehen, auch wenn dafür allerlei widerliche Essenzen von Froschlaich über Vogelexkremente bis hin zu Spinnweben gesammelt werden mussten, um die Waldapotheke oder besser: die Stube des Waldalchemisten zu füllen. Johanna musste oft den Kopf schütteln, wenn sie darüber nachdachte, dass das bislang nur vermeintliche Hexenhaus der feurigen Maria nun tatsächlich zu einem solchen umgestaltet wurde und dass sie, das Mädchen Johanna aus dem nahen Dorf, maßgeblich daran beteiligt war.
Ja, das nahe Dorf.
Bislang hatten sie noch keinen Grund gehabt, sich dort blicken zu lassen, und Johanna hütete sich, es zu wagen. Ihr neues Leben vor ihrem Schwager zu rechtfertigen und zudem Angst haben zu müssen, von Schergen gesucht und aufgegriffen zu werden, hielten sie davon ab. Und zum Glück war bislang auch kein Bauer, kein Schweinehirte und kein Holzsammler bis zu der verborgenen, aber bekannten Hütte vorgestoßen.
Vinsebeck und Johanna genossen also Frieden und Ruhe. Oder besser, sie hätten Frieden und Ruhe genießen können, wenn dabei nicht zwei Dinge erheblich gestört hätten. Und das waren zum einen die Ungewissheit und zum anderen der Hunger.
Ja, all das Wissen eines klugen Stadtmenschen galt nichts, wenn es hieß, in einem finsteren Walde, fernab von fruchttragenden Feldern und Gärten, fernab von milch- und fleischspendendem Vieh zu überleben. Und Johanna war in derlei Aufgaben ebenfalls nicht bewandert, auch wenn sie es als auf dem Lande Aufgewachsene sicherlich besser verstand, hier und da im Walde etwas Genießbares aufzutreiben. Selbst der Frühling mit all seiner sprießenden und gedeihenden Pracht machte es nicht leichter.
Bärlauch gab es in Massen, aber die Blätter allein machten kaum satt und waren wenig nahrhaft. Ebenso stand es mit Brennnesseln, ersten Erdbeeren und anderen durchaus köstlichen, aber auf der Zunge und besonders im Magen rasch vergänglichen Gewächsen. Johanna hätte alles gegeben für ein Töpfchen Rahm, für ein Stückchen Butter, für einen Schluck Milch oder gar für einen Bissen Wurst. Ganz zu schweigen von Brot. Ja, selbst Haferschleim wäre ihr wie ein Geschenk des Himmels erschienen.
»Gehen wir doch schlicht und einfach auf die Jagd«, hatte Vinsebeck schon mehrmals vorgeschlagen und dann gleich mehrere Tage damit verbracht, eine komplizierte Vorrichtung zum Erlegen gleich einer ganzen Wildschweinherde zu konstruieren – auf dem Papier, verstand sich. Denn über Papier und Tinte, das war der Hohn, verfügten die beiden in ihrer Wildnis in solchen Massen, dass sie leicht einen Handel damit hätten eröffnen können.
Zwei Fische hatte Johanna daraufhin mit Mühe und Not aus einem kleinen Bächlein geholt. Doch allein der Kraftaufwand, sie zu fangen, war ungleich größer gewesen als die wenigen grätigen Bissen, die sie, durch das Drehen am heißen Spieß geschrumpft, abgegeben hatten.
»Ich glaube, wir müssen einkaufen gehen«, sagte sie eines schönen Morgens, eines wirklich schönen, sonnigen Morgens, während sie ihr Frühstück, bestehend aus einer Handvoll unreifer Beeren, an der frischen Luft einnahmen.
»Hervorragender Einfall, Johanna. Ja, lass uns das tun. Ziehen wir gemeinsam zum Markt nach Hameln. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, beim Vogt vorstellig zu werden. Da sind wir! Die entlaufene, diebische Magd, welche einen Eurer Torwächter auf dem Gewissen hat, und der missgestaltete Brandstifter und Leichenfledderer, den man längst begraben glaubt. Da sind wir, und wir sind auch gleich wieder fort, benötigen nur etwas Brot, Salz und Käse. Ihr müsst Euch nicht die Mühe machen, einen Scheiterhaufen für uns zu errichten, und auch Euer Scharfrichter kann seinen schwarzen Umhang in der Truhe lassen. Wir sind gleich wieder fort.«
Vinsebeck sagte dies, ohne eine Miene zu verziehen, und auch wenn Johanna ganz und gar nicht nach Lachen zumute war – zumal die scherzhaften Worte des Zwerges durchaus ernst zu nehmen waren –, musste sie ein wenig schmunzeln.
»Ihr verliert Eure gute Laune nie, oder, Vinsebeck?«
»Wo kämen wir da hin? Ein wenig darben tut gut. Ich trug ohnehin seit Jahren einen viel zu schweren Bauch mit mir herum. Nun ist er fort, und ich vermisse ihn keineswegs.«
»So geht es aber nun wirklich nicht weiter. Wir benötigen wenigstens etwas Mehl.«
»Ja, da hast du recht, und etwas Wein oder meinetwegen auch Bier täte meiner Seele ebenfalls gut. Gehen wir doch besser ins nahe Dorf, Johanna. Den Weg nach Hameln zurück wage ich nicht noch einmal. Beinahe hätten sie mich ertappt, nachdem ich die Nachricht für Frau Margarethe in ihrem Rosengarten verborgen hatte. Beinahe.«
Und er schüttelte sich beim Gedanken an diesen nächtlichen Ausflug, bei welchem er gleich einem ganzen Trupp wachhabender Landsknechte begegnet war. Für ein Kind hatten sie ihn gehalten, die Stimme hatte er verstellt und einige rotwelsche Worte gemurmelt. Ein kleiner Zigeunerjunge, der sicher nichts Gutes im Schilde führte, so dachten sie über ihn, hatten ihn aber mit einem gehörigen Tritt ins Hinterteil von dannen ziehen lassen.
»Nach Hameln wage ich mich genauso wenig wie Ihr zurück, aber ebensowenig möchte ich ins nahe Dorf gehen«, sprach Johanna, auf einer harten, noch grünen Brombeere herumkauend.
»Warum nicht ins Dorf?«
»Ihr wisst es gar nicht, Vinsebeck. Aber das ist das Dorf, in dem ich geboren und aufgewachsen bin. Dort habe ich geheiratet und ein Kind zur Welt gebracht. Von dort bin ich aber auch fort, nachdem mir Mann und Sohn gestorben waren.«
»So?« Der Apotheker und Alchemist schaute sie nun nachdenklich an. »Nein, das ist mir nicht bekannt. Daher also erhielt ich den Eindruck, dass du und Philipp miteinander vertraut seid. Ihr müsst euch aus früheren Tagen kennen.«
Johanna nickte.
»Warum aber willst du nicht zurück in dein Dorf? Gibt es dort niemanden mehr, der dich mit offenen Armen empfangen würde?«
»Nur mein Schwager und dessen Familie. Doch ich glaube nicht, dass sie sich über meine Rückkehr freuen würden. Im Gegenteil.«
»Was hast du verbrochen, Johanna?«
»Nichts. Im Grunde nichts.« Johanna starrte auf die von der Sonne beschienenen, saftig grünen, fast glänzenden Blätter eines Busches und überlegte, was es eigentlich war, das sie so sehr davor zurückschrecken ließ, ins Dorf zurückzukehren.
»Ich kann das schlechte Gewissen meines Schwagers nicht ertragen«, murmelte sie leise. »Wenn er sich mir gegenüber doch ganz gewöhnlich verhalten würde. Aber nein, er versucht besonders freigiebig und freundlich zu sein. Sein Gesicht aber sagt mir, dass er mich am liebsten nie wiedersehen würde, dass er sich wünscht, ich verschwände für immer. Und diesen Gefallen, den habe ich ihm schon zwei Mal getan. Ich möchte es nicht noch ein drittes Mal tun.«
»Was steht zwischen dir und deinem Schwager, Johanna?« Vinsebeck wurde nun aufmerksam. Bislang hatte er sich nur wenige Gedanken über das Leben der Magd seiner Vertrauten Margarethe Gänslein gemacht. Sie war eben nur ein Dienstmädchen, ein einfaches Landgewächs, recht ansehnlich und freundlich, aber dennoch uninteressant und nichtssagend. Aber nun schämte er sich dieser hochmütigen Einschätzung. Natürlich blickte auch diese junge Frau auf ein Leben zurück, auf Kummer, Sorgen, Liebe und vielleicht auch auf Glück und Trauer.
»Zwischen ihm und mir steht der Tod meines Mannes Konrad, seines jüngeren Bruders.«
»Wenn du magst, so erzähle mir davon«, bot Vinsebeck ihr an, und seine kleinen runden Äuglein blickten so mitfühlend und aufrichtig, dass Johanna nicht anders konnte, als von dem Schicksal ihres armen Mannes zu berichten. Ein Schicksal, an welches sie nach all den Irrungen und Wirrungen der letzten Zeit kaum mehr gedacht hatte.
»Es war vor nunmehr fünf Jahren, als es geschah. Ich muss dazu sagen, dass Hermann, mein Schwager, und Konrad, mein Gemahl, einander liebten. Vielleicht war die Bruderliebe sogar zu groß, denn mein Konrad – er war der jüngere von beiden – war stets bestrebt, dem klügeren und wortgewandten Hermann zu gefallen. Und das wurde ihm zum Verhängnis. Er war nicht so schlau wie sein Bruder, aber dafür war er forsch. Während Hermann sich den Kopf darüber zerbrach, wie das Dach am besten wetterfest zu machen sei, hatte Konrad bereits drauflosgezimmert. Aber leider ging es nicht immer nur um das Stopfen von Löchern im Strohdach. Eines Tages – es war im Frühsommer vor fünf Jahren, ich erwartete mein erstes Kind – setzte Hermann sich zu uns, als wir während der Heuernte eine Rast einlegten. Er erzählte meinem Manne im Flüsterton von Ereignissen, die sich in anderen Teilen Deutschlands zugetragen hatten. Großen, aber auch schrecklichen Ereignissen. Von Bauern, die sich gegen ihre Herren erhoben haben, ja, die gar ihre Grundherren der Freiheit wegen gemeuchelt hatten. Er berichtete von den Worten eines Mannes namens Thomas Müntzer, der behauptete, das irdische Reich müsse dem Himmelreich gleichen, in welchem alle Menschen gleich seien, und er redete auch von den Schriften des Martin Luther, in welchen ebenfalls die Rede von der Freiheit der Christenmenschen sei.
Konrad hörte ihm gebannt zu und nickte ununterbrochen begeistert mit dem Kopfe. Er schien nicht zu verstehen, dass Hermann zwar angetan von der Idee dieser Aufständischen war, dass er aber gleichzeitig betonte, wie entsetzlich sie allesamt geendet seien. Tausende von toten Bauern habe es in nur wenigen Wochen gegeben, alle seien sie niedergehauen worden, auch Frauen und Kinder. Und Luther selbst habe den Adel zu diesem Schlag aufgerufen, indem er die Aufständischen als tollwütige Hunde bezeichnet hatte, mit denen man entsprechend umzugehen habe. Doch das hörte Konrad schon nicht mehr. Er hatte kein Gespür für die Zweifel in Hermanns Stimme, er sah nur den Glanz in den Augen des Bruders, wenn dieser über die Freiheit sprach. Für Hermann war die Freiheit nur ein Wunsch, ein ferner Traum. Konrad hingegen als Mann der Tat glaubte, sich und seinen Bruder mit Hilfe seiner Fäuste diesem Ziele näherbringen zu können. Er war noch ein Grünschnabel, kopflos und schnell zu begeistern, doch weder Hermann noch ich konnten ahnen, dass er noch in der gleichen Nacht auf diesen dummen und folgenschweren Gedanken kommen würde.
Unser Dorf gehörte zusammen mit einem weiteren kleinen Ort zu der Grundherrschaft des Ritters von Eicheck, und damit hatten wir es alles andere als gut getroffen. Er war arm, aber verschwenderisch und darum unerbittlich beim Auspressen seiner wenigen Bauern. Hinzu kamen seine Unberechenbarkeit und seine grausame Natur. Auf der Jagd zertrampelten die Hufe seiner Pferde unsere Felder. War er im Walde erfolglos geblieben, so ritt er zu den Weiden der Bauern und erlegte aus Wut eine Kuh samt Kalb mit seinem Jagdspeer. Es gab keine Abgabe, die er nicht einstrich, kein Recht, das er sich nicht nahm. Selbst von dem Recht der ersten Nacht machte er Gebrauch, bis ein Stiftsherr aus Hameln durch unseren Pfarrer davon erfuhr und beim Landesherrn selbst Beschwerde gegen den Ritter einlegte.«
»Ja, der Ritter Eicheck ist auch mir ein Begriff«, unterbrach Vinsebeck Johanna, gab ihr aber durch ein höfliches Zunicken zu verstehen, dass er sich wünschte, sie möge weitererzählen.
»Da nahm es also nicht wunder, dass mein Gemahl, aufgewühlt durch die Erzählungen seines Bruders von den Bauernkämpfen in anderen Teilen des Reiches, eine Handvoll anderer Burschen fand, die mit ihm bei Nacht und Nebel zur Burg Eicheck zogen. Ihre Waffen waren Sensen und Heugabeln.« Johanna lachte bitter. »Der Ritter machte kurzen Prozess. Gleich am folgenden Tage wurden die sechs Männer gefesselt und, bereits entsetzlich gefoltert, zu unserem Dorfanger gebracht, auf dem einige Apfelbäume standen. Alle Untertanen, auch die aus dem nahen Nachbarort, mussten herbeikommen und zusehen, wie der Ritter selbst die Aufständischen aufknüpfte. Jeden an einen anderen Baum. Auch meinen Konrad. Hermann, sein Bruder, sah unter Tränen und schweigend zu. Seither kann er mir nicht mehr in die Augen blicken, denn hätte er nicht so leidenschaftlich über die Freiheit gesprochen, dann wären diese sechs Burschen nicht so schmählich zu Tode gekommen. Und dann hatte er nicht einmal den Schneid besessen, vor den Ritter zu treten und die Schuld auf sich zu nehmen.
Ja, so war das. Mehr als ein Jahr lang hingen sie dort, wir durften sie nicht abnehmen, der Ritter selbst kam mehrmals in der Woche ins Dorf geritten, um nachzuschauen, dass ihre verwesenden Leichname uns nach wie vor zum Mahnmal dienten. Ich aber brauchte den Anblick meines zum Gerippe verfallenen und von Raben zerfressenen Mannes nicht länger zu erdulden …« Bei diesen Worten stockte Johannas Redefluss.
»Warum?«
»Ich ging, nachdem auch mein Neugeborenes nach nur wenigen Wochen gestorben war, auf die Burg Eicheck, um mich dort als Amme …« – sie stockte – »… und später dann als Hure des Mörders meines Konrad zu verdingen.« Nun senkte sie den Kopf, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte.
Vinsebeck war verstört. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Erschütternd war die Geschichte gewesen, die er aus dem Munde Johannas vernommen hatte, doch noch erschütternder war dieser Abschluss, diese Ehrlichkeit, mit der sie sich selber als eine Verworfene bezeichnete. Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, sagte sie in nicht weniger bitterem Ton:
»Philipp hat auch ihn getötet, wusstet Ihr das?«
»Wen hat er getötet?«
»Den Ritter. Er hat ihm durch seinen Handlanger den Kopf abschlagen lassen.«
»Ja«, sagte Vinsebeck gedehnt, »ja, auch er hatte Grund, diesen Mann zu hassen.«
»Ihr empfindet es nicht als schrecklich, was er tut und wie er es tut? Ihr selbst habt doch gesehen, wie er seine beiden Verfolger tötete. Hat Euch das nicht angewidert, Vinsebeck?«
»Ich habe weggeschaut, Johanna. Viel zu oft in meinem Leben habe ich weggeschaut. Kurzfristig rettet einen das vor Unbehagen, doch leider, leider bleibt auf ewig ein bitterer Nachgeschmack.«
»Darf ich Euch etwas fragen, Meister Vinsebeck? Es brennt mir schon ewig auf den Lippen, doch ich wagte es bislang nicht.«
»Nur raus mit der Sprache, mein Kind.«
»Seid Ihr der Gnom, welcher zuweilen bei der Mutter Philipps in dieser Hütte gehaust haben soll? Seid Ihr es? Man redete davon, als ich noch ein Kind war.«
Vinsebeck musste nun schallend lachen. Er klopfte sich mit seinen kleinen Händchen auf die Schenkel.
»Ein zauberkundiger Waldschrat, ja das bin ich. Ein Männlein, das unter den Wurzeln toter Bäume lebt und des Nachts mit den Hexen um ein Feuer tanzt. Oh ja, das bin ich.«
Mit einem eingefrorenen Lächeln im Gesicht starrte er nun eine ganze Weile schweigend in die Tiefe des Waldes. Auch Johanna sagte nichts. Dann ergriff er wieder das Wort und sagte mit sanfter Stimme:
»Du warst aufrichtig und hast mir eine traurige Geschichte aus deinem Leben erzählt. So werde nun auch ich ehrlich sein und dir eine bittersüße Erinnerung anvertrauen. Darf ich?«
»Aber gern.«
»Du erwähntest sie bereits – meine wunderschöne, unnahbare Maria, die Mutter Philipps. Kanntest du sie?«
Johanna schüttelte den Kopf und antwortete: »Nein, ich wusste nur von ihr. Jeder wusste von ihr.«
»Das kann ich mir gut vorstellen.« Jetzt lächelte er völlig frei, fast glücklich. »Sie war sicherlich bekannt wie ein bunter Hund, aber dennoch so scheu wie eine wilde Katze.«
»Warum hat sie verborgen im Wald gehaust?«, stellte Johanna die Frage, über welche sich die Menschen in ihrem Dorf jahrzehntelang die Köpfe zerbrochen hatten.
»Sie musste sich verstecken. So wie wir.« Vinsebeck erweckte den Eindruck, als befände er sich in einer anderen Welt. Sein Blick war verhangen, seine Züge völlig entspannt. Man mochte meinen, er sei besessen, jedoch nicht vom Teufel, sondern eher vom Heiligen Geist.
»Vor wem musste sie sich verbergen?«
»Das hat sie mir niemals genau erzählt. Aber ich vermute, dass es mit niemand Geringerem als Peter Hasenstock zu tun hatte. Sie hasste diesen Mann glühend, suchte ihn aber dennoch immer wieder in Hameln auf. Bei einem dieser Besuche in der Stadt lernte ich sie kennen. Sie war eine wunderbare, eine einzigartige Frau.«
»Und Philipp?«
»Er war anders als seine Mutter. Nicht so feurig, nicht so offenherzig. Still und verschlossen war er, aber dennoch liebte ich ihn sehr, und auch er mochte mich. Er war es, der eines Tages in meine Offizin kam, während die Mutter ›zu Besuch‹ bei dem Widerling war. Er traf sich mit ihr in irgendeinem schmutzigen Verhau. So ein elender Drecksbeutel. Es schien ihm sogar zu gefallen, sie derartig zu demütigen. Philipp streifte derweil in der Stadt umher. Er mochte vielleicht sechs oder sieben Jahre zählen, und wie gesagt, eines Tages kam er zu mir. Und von da an kehrte er jedes Mal wieder, wenn er mit seiner Mutter die Stadt besuchte. Oder besser besuchen musste.«
Johanna lauschte gebannt.
»Das Kind musste der Mutter von mir berichtet haben, denn irgendwann stand auch sie in meiner Offizin, um den Kleinen abzuholen, und als ich sie erblickte, war es um mich geschehen. Kannst du dir vorstellen, Johanna, dass es so etwas gibt? Eine Liebe, die einschlägt wie ein Blitz?«
Ein wenig errötete Johanna bei dieser Frage und zuckte nur verlegen mit den Schultern, dann fuhr er auch schon mit einem seligen Lächeln auf den Lippen fort:
»Von da an sahen wir uns oft. Mitunter besuchte ich sie auch hier im Wald, brachte Süßigkeiten, bunte Tücher, Holzspielzeug und fühlte mich glücklich in der Nähe dieser herrlichen Frau. Sie waren aus ihrer Heimat fortgegangen. Aus Tirol in den Bergen. Sie und ihr damals gerade dem Säuglingsalter entwachsenes Kind. Der Liebe sei sie gefolgt, vor der Liebe sei sie geflohen, und von der Liebe sei sie verraten worden. So berichtete sie stets rätselhaft, und immer wenn ich mehr wissen wollte, fing sie bitterlich zu weinen an. Es war nicht möglich, Näheres zu erfahren. Und ich beschloss, sie nicht weiter zu quälen. Doch meine Vermutung war, dass dieser elende Hasenstock seine Finger im Spiel hatte. Er war als junger Mann viele, viele Jahre fort gewesen. Nach Italien soll es ihn verschlagen haben, dort, so sagte man, habe er gar die Heilkunst an der Universität zu Bologna studiert. Doch das glaube ich nicht. Dieser Mann versteht so viel vom Apothekerwesen wie ein Gockel vom Eierlegen. Er spricht ja nicht einmal Italienisch, geschweige denn ein Wort Latein. Ein Scharlatan ist er, ein Lügner und Betrüger vor dem Herrn, einer, der nicht einmal sein eigenes, offensichtliches Leiden hat erkennen können. Verrecken soll er an der Franzosenkrankheit.«
»Die Franzosenkrankheit?«
»Eine üble Lustseuche aus der Neuen Welt. Ja, der Herr Apotheker hat seinen kleinen Meister Schaft nicht unter Kontrolle, hat ihn von jeher überall hineingesteckt, und das wird ihm nun zum wohlverdienten Verhängnis.«
»Mir ist Peter Hasenstock nur selten begegnet. Aber das reichte schon aus, um zu erkennen, dass er ein schlechter Mensch ist. Auch Margarethe Gänslein ließ nie ein gutes Haar an ihm. Man munkelte, er und ihr verstorbener Gatte seien zunächst befreundet und dann verfeindet gewesen.«
»Ja, das ist wahr. Aber weshalb dem so ist, weiß ich nicht. Ich vermute, dass es nicht allein mit der Konkurrenz im Gewürzhandel zu tun hat. Maria spielt in dieser Hassgeschichte eine nicht unbedeutende Rolle. Auch Reinold Gänslein war ein guter Freund Marias. Jedoch nur ein Freund, so sagte sie, ein Gönner. Ich wollte es ihr gerne glauben, wusste ich doch, dass er – nun, wie soll ich es ausdrücken? – einem Weib mit prallen Brüsten und runden Hüften nur wenig abgewinnen konnte. Doch das Kind erzählte mir eines Tages in aller Unschuld, dass die Mutter einen Liebsten habe, einen, über den sie schöne Lieder sänge, mit dem sie gern verheiratet wäre und den sie in Hameln häufiger besuchten, um von ihm Geld und allerlei schöne Dinge abzuholen. Zunächst fiel mein Verdacht auf Hasenstock, doch nachdem der Bub mir den Mann beschrieben hatte und mir genau sagen konnte, wo er lebte, wusste ich, dass es nur der Fremdling Gänslein sein konnte. Als ich Maria darauf ansprach, da brach sie nicht in Tränen aus. Nein, sie wurde wütend, rasend, ja, sie warf gar mit Fläschchen, Krügen und Tiegeln nach mir, zerstörte einen Großteil meiner Arzneien und hinterließ in meiner Offizin ein einziges Trümmerfeld. Eine solche Reaktion konnte ich nicht anders denn als Liebe deuten. In mir keimte eine schreckliche Eifersucht, und ich begann Gänslein zu verfolgen, ihm hinterherzuschnüffeln. Erleichtert stellte ich fest, dass er tatsächlich junge Männer, insbesondere einen blonden Turmwächter, aufsuchte und diesen gar für seine Dienste bezahlte. Ein Verhalten, für das ich ihn aufs Rad hätte bringen können. Aber ich empfand keinen Hass, keine Rachegelüste gegen ihn, denn diese Liebe zwischen ihm und Maria schien einseitig und nur von ihr empfunden zu werden. Wie glücklich war ich, als er schließlich Margarethe heiratete.
Für Maria zerbrach eine Welt. Sie raste vor Zorn und rief auf Italienisch – das war die Sprache ihrer Mutter, die ich jedoch gut verstehe –, Gänslein sei ein Schwindler, denn er habe ihr die Ehe versprochen. Doch jegliches Nachfragen meinerseits wurde wieder nur mit einem weiteren Tobsuchtsanfall erwidert.
Und dann kam eines Tages der Ritter Eicheck.
Sie sah in ihm den Reiter auf dem weißen Pferd, den Erretter der holden Frau in der Not. Sie wollte es in ihm sehen, obwohl er all das ganz und gar nicht war. Während der Jagd war er auf das prächtige Weib aufmerksam geworden und gebrauchte sie von da an als seine Gespielin. Sie leistete ihm solch gute Dienste, dass er sie schließlich sogar mit zu sich auf seine elende Burg nahm, um nicht immer den langen, mühsamen Weg in den Wald nehmen zu müssen. Aber davon kannst ja auch offensichtlich du ein Liedchen singen, Johanna. Nicht einmal Lebewohl hat sie zu mir gesagt, zurückgelassen hat sie mich. Und nicht nur mich, auch ihr Kind. Dieses Weib war wild und unberechenbar. Sie liebte die, die sie verletzten, und verletzte die, die sie liebten.«
Johanna konnte sich nicht dagegen wehren, dass die Worte des kleinen Mannes sie bewegten. Sie musste mehrmals vernehmlich schlucken, und das auch deshalb, weil sie bislang nicht gewusst hatte, dass Philipps Mutter ihre Vorgängerin als Konkubine des Grundherrn gewesen war. Sie fühlte sich elend und schmutzig.
»Ja, ich war verletzt«, setzte Vinsebeck seine Lebensgeschichte fort. »Und in meinem Schmerz bemerkte ich erst zu spät, dass ich mich um das Kind hätte kümmern müssen. Wie auch sollte ich wissen, dass sie ihn allein im Wald zurückgelassen hatte und erst Jahre später, als ihr Körper verfiel und sie als Hure ausgedient hatte, in ihre Hütte zurückkehrte? Ich erfuhr durch Zufall von einer Bäuerin – vermutlich stammte sie sogar aus deinem Dorf – über Philipps Schicksal. Das Bauernweib kam häufiger zum Hamelner Markt, um dort runzelige Äpfel und Rüben zu verkaufen. Tatsächlich aber war der Grund für die weite Reise, dass sie bei mir Medizin besorgte, die ihr ein sehr privates Leiden leichter machen sollte. Sie berichtete mir, dass aus ihrem Ort, ähnlich wie vor langer Zeit in Hameln, Kinder verschwunden seien. Vier an der Zahl. Heranwachsende Buben allesamt, darunter ein Sonderling, der mutterseelenallein im Wald hauste. Meine Neugierde und auch meine Sorge waren geweckt. Ich fragte weiter und fand heraus, dass es sich tatsächlich bei einem der Burschen um Philipp handelte und dass dessen Mutter noch immer auf der Burg Eicheck ›Dienst tat‹. Von diesem Tag an war mein Herz gänzlich gebrochen.«
Vinsebeck nickte betreten. Und es war nicht schwer für Johanna, zu erkennen, wie sehr ihm diese Erinnerungen noch nachhingen.
»Glaube mir, Johanna, so erleichtert war ich, als ich den Jungen vor wenigen Monaten lebendig vor mir sah. Auch wenn er mir vom Tode seiner Mutter berichtete, so war diese Gewissheit dennoch leichter zu ertragen als ein Leben in Schuld und Sorge. Ich vertraue ihm. Ganz gleich, welcher Teufel auch in ihm stecken mag, es ist nicht seine Schuld. Im Grunde seines Herzens ist er ein guter Mensch und würde niemals einer unschuldigen Seele ein Leid zufügen.«
»Glaubt Ihr das wirklich, guter Meister Vinsebeck?«, fragte Johanna nun mit leerem Blick. »Ich selbst bin mir da nicht so sicher.«
»Oh doch, vertraue ihm. Mein Vertrauen in ihn geht sogar so weit, dass ich hier seiner harre und auf seine baldige Rückkehr warte. Er wird gewiss in den nächsten Tagen kommen, uns zu essen bringen und zudem neue Nachrichten aus Hameln. Wäre da nicht dieser Glaube in die Aufrichtigkeit des Sohnes, des Fleisches und Blutes meiner geliebten Maria, so würde ich doch nicht so lange hier in diesem Walde hausen. Sosehr ich auch deine Anwesenheit schätze, liebe Johanna. Mir wäre ein Wanderleben, wie es mein Kollege Paracelsus führt, weitaus angenehmer, als hier in dieser Wildnis untätig zu veröden.«
»So, so«, sagte nun Johanna, klopfte sich auf die Schenkel und erhob sich. »Und damit Ihr nicht verödet, lieber Vinsebeck, werde ich mich heute bei Einbruch der Dunkelheit auf den Weg zu einem Nobiskrug machen, in dem ich früher schon einmal eingekehrt bin. Dort wird man mir gegen Geld gewiss die eine oder andere Speise mit auf den Weg geben, und wenn es nur ein Säckchen voller Zwiebeln ist. Selbst für die würde ich im Moment töten. Ihr stimmt mir doch zu, dass in einem Wirtshaus, in dem nur Unredliche verkehren, kein Hahn nach uns krähen wird, oder?«
»Uns? Heißt das, ich soll dich begleiten?«
»Ihr sagtet doch, Ihr wäret gern auf Wanderschaft wie dieser Herr Parasius.«
»Paracelsus, mein Kind, Paracelsus.«