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XXXIV
Der Fuhrmann Fritz Mehlmann durfte sich schon wieder über einen Auftrag der reichen Pfeffersäckin freuen. Das war immer Anlass zu guter Laune, denn sie fuhr in der Regel weit, blieb zuweilen über Nacht weg, und auch wenn die Ladung nicht schwer war, so zahlte sie dennoch gut, allemal besser als manch einer von den bekannten Hamelner Mühlsteinhändlern, für die zu arbeiten für Fuhrmann und Pferde eine knochenbrecherische Arbeit darstellte. Wieder pfiff er fröhlich, während er auf dem Bock saß und sich die Sonne auf die ohnehin schon rote Glatze scheinen ließ.
Margarethe hatte zusammen mit ihrem Sekretär und einer Magd im geschlossenen Bereich der Kutsche Platz genommen und betrachtete verträumt die an ihr vorüberziehende Landschaft. Secretarius Bennheim hingegen war in einen seligen Schlummer gefallen, während das Mädchen verschämt an ihren Fingernägeln herumspielte.
Die Kauffrau fuhr in letzter Zeit gern hinaus, und ganz besonders in einem Fuhrwerk wie diesem, einem Vierspänner mit geschlossener Kabine, der eher einem Grafen oder einem Nuntius des Papstes zugestanden hätte. Sie tat es nicht, um zu protzen, nein, vielmehr liebte sie das Private eines solchen Gefährtes. Und an nichts war ihr in diesen Tagen mehr gelegen als eben an privater Zurückgezogenheit. Es galt, Gedanken zu ordnen und zu Plänen zu schmieden, aber vor allem galt es, Wissen zu bewältigen, ein Wissen, welches sie nicht einmal mit ihrer vertrauten Base teilen wollte. Nicht bevor sie selbst mit all diesen neuen Informationen ins Reine gekommen war.
Ihr Mann war ein Mörder gewesen. Ein unfreiwilliger Mörder, aber beileibe kein unschuldiger. Und in der Gewissheit seiner großen Sünde war er, anstatt zu büßen, einen Pakt mit dem Teufel eingegangen. Der Name dieses Teufels war Peter Hasenstock. Anders als Reinold hatte dieser kaltblütig und mit gezieltem Kalkül getötet und den rückgratlosen Reinold immer tiefer mit sich in die Hölle gezerrt. Kein Wunder, dass Reinold zeit seines Lebens die Angst im Nacken saß und er die Hälfte seines Einkommens für Ablässe, Reliquien, Wallfahrten und Almosen dargereicht hatte. Und sie hatte immer gedacht, seine Furcht beruhe auf der Tatsache, dass er verbotenen körperlichen Begierden nachging oder aber, dass er dem reichen Kaufleuten gewöhnlich eigenen Unbehagen darüber anheimgefallen war, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr ginge, als dass ein Reicher in den Himmel käme.
Aber nein, Reinolds Schuld war ungleich größer. Und das Fatale an dieser Schuld, die er in jungen Jahren auf sich geladen hatte, war, dass auf ihr all sein Vermögen fußte. Ohne die Begegnung mit Hasenstock, ohne dessen Freundschaft, ohne dessen Fürsprache und ohne dessen Verbindungen wäre aus dem einfachen Bauernburschen Reinold Gänslein niemals der wohlhabende Gewürzhändler geworden. Andersherum war auch Hasenstock von Reinold abhängig gewesen, hatte von dessen größerem Wissen, dessen größeren Erfahrungen und dessen größerer Klugheit profitiert, nicht zuletzt von seiner Verschwiegenheit. Denn auf Verschwiegenheit beruhte dieser Pakt. Ein Pakt zwischen zwei Menschen, die sich – das wusste Margarethe nur zu gut – in Wirklichkeit gehasst hatten.
Und dann war da noch diese Frau. Dieses Mitbringsel aus den Bergen. Die Witwe, deren Mann sie beide gemeinsam erschlagen hatten. Sie und ihr Kind.
Margarethe war sich in dieser Sache nicht sicher. Sie wusste nur aus dem vagen Bericht Philipps, dass dieser zusammen mit seiner Mutter in einem Walde gelebt hatte. Und auch die Tiroler Frau, für die ihr Mann ohne Wissen Margarethes gesorgt hatte, war mit ihrem Sohne im Wald versteckt worden. Konnte das Zufall sein? War Philipp das Kind der Frau, deren Mann Reinold rücklings mit einer Heugabel erstochen hatte? Wenn ja, dann waren die Absichten des jungen Mannes, der es verstanden hatte, sich nicht nur in Margarethes Haus zu schleichen, sondern auch in ihr Herz, tatsächlich von Anbeginn an unlauter gewesen. Ganz so, wie Johanna es ihrer Herrin stets hatte zu verstehen geben wollen.
»Der Kreis schließt sich«, murmelte Margarethe leise vor sich hin, während sie sich weiterhin den frischen Fahrtwind, der durch die kleine Fensteröffnung strich, ins Gesicht blasen ließ.
»Was sagt Ihr, Herrin?«, fragte die schüchterne Magd. Aber Margarethe schüttelte nur den Kopf, um dem Mädchen zu bedeuten, dass es nicht gemeint gewesen war.
»War sie schon einmal in Lemgo, Lisbeth?«
»Nein, ich habe den Ring um Hameln noch nie verlassen.«
»Na, dann ist es ja ein regelrechtes Abenteuer für sie an diesem Tage. Lemgo ist ähnlich Hameln eine Hansestadt. Ich werde dort einige Kaufleute aufsuchen.«
Bei diesen Worten verzog Margarethe ein wenig das Gesicht. Aufsuchen war der falsche Ausdruck. Bittstellen wäre angebrachter gewesen. Dadurch, dass ein nicht geringer Teil ihrer Lagerbestände verdorben war und sie den Abt von Corvey mit neuen, reinen Waren hatte versorgen müssen, war sie nun in einen Engpass geraten. Und das ausgerechnet eine Woche, bevor sie die bestellten Waren für das große Fest des Herzogs von Calenberg ausliefern sollte. Ihre einzige Möglichkeit, ihr nun lückenreiches Lager wieder einigermaßen aufzufüllen, waren ein Hanse-Händler und ein Apotheker in Lemgo, welche beide nicht ständig, aber ab und an über einen gewissen Vorrat an Gewürzen und Spezereien verfügten – ironischerweise alles Waren, die sie über Margarethe Gänslein bezogen, welche nun die Absicht hatte, sie zurückzukaufen.
Es war ein unangenehmes und verlustbringendes Geschäft, das sie da anstrebte, aber mit Verlusten war nun einmal zu rechnen, und jeder Kaufmann musste darauf gefasst sein, jederzeit. Sie würde diese schwierige Phase schon hinter sich bringen. Die Hauptsache war, dass ihr Name keinen Schaden nahm. Den Abt hatte sie beschwichtigen können, und sie würde das reiche Kloster als Kunden behalten, und auch der Herzog musste unbedingt zufriedengestellt werden. Aus diesem Grund strebte sie an, wo sie schon einmal auf dem Weg nach Lemgo war, den Schnapsbrenner Veit Freie aufzusuchen, einen Landgastwirt, der sich vortrefflich auf das Brennen verschiedenster Spirituosen verstand. Branntwein war für die meisten Menschen nach wie vor ein Teufelszeug, welches höchstens zu medizinischen Zwecken verwendet wurde. Man nahm ihn löffelweise gegen Husten oder Halsschmerzen oder verabreichte ihn in rauen Mengen als Betäubungsmittel vor einer Amputation. Manche Wundärzte schworen darauf, das brennende Zeug auf blutige Verletzungen aufzutragen, auch wenn der dadurch verursachte beißende Schmerz dem Patienten fast die Besinnung raubte und somit kaum jemandem einleuchtete, welchen Nutzen diese bestialische Maßnahme bringen sollte. Doch seit wenigen Jahrzehnten war man mehr und mehr auch auf den Geschmack des Branntweines als eines zwar tückischen, aber dennoch vortrefflichen Genussmittels gekommen. Und zur Gemeinde der Bewunderer des Feuerwassers zählte neben Margarethes Base Mechthild auch der Herzog. Das war Margarethe zu Ohren gekommen, und darum würde sie ihm als Geschenk noch einige Flaschen von Freies Höllenwasser darbringen. Glücklicherweise kannte die Witwe den Schnaps brennenden Wirt gut und wusste um die Qualität seiner Kunst, denn ab und an kam er in die Stadt, um während der Markttage an Margarethes Fensterladen kleine Mengen verschiedenster Gewürze zum Experimentieren zu erstehen. Anis, so hatte er beim letzten Male gesagt, eigne sich am vortrefflichsten, denn ein Brand aus diesem verscheuche selbst nach dem üppigsten Mahl ein jedes Magendrücken und vermindere die Blähungen des Darms.
Margarethe versuchte sich mit derlei Gedanken über Anisschnaps abzulenken und all die Sorgen und Geheimnisse, die ihr schier den Verstand rauben wollten, zu verdrängen. Ja, trotz des anstehenden Verlustgeschäftes in Lemgo war es befreiend für sie, die Stadt hinter sich zu lassen und hinaus in die Frische der Natur zu fahren. Sie war so rein, so unverdorben, so ehrlich. Das Zwitschern der Vögel, das Blühen der Bäume, selbst der Gruß des Schäfers und das Muhen der den Weg versperrenden Kühe wirkten auf die Kauffrau beruhigend. Sie beneidete in diesem Moment sogar die Bauern, die bei der Heuernte schwitzten, die hochschwangere Leibeigene, die einen schwerbeladenen Handkarren über den holprigen Pfad zog, oder den alten abgemagerten Landstreicher, der seinen löchrigen Hut zog und zahnlos lächelte, als die Kutsche aus Hameln an ihm vorüberrollte. Mit einem jeden von ihnen hätte Margarethe in diesem Moment gerne getauscht. Mit einem jeden von ihnen.
Als sie am Nachmittag die Mauern der Stadt Lemgo passierten, nahm sie sich wieder zusammen, warf alle romantisierenden Ideen von einem einfachen Leben über Bord und konzentrierte sich ganz und gar auf die ihr bevorstehenden Handelsgeschäfte.
Allein, diese kamen nicht zustande. Nach wenigen Stunden brach Margarethe wieder aus Lemgo auf, ohne auch nur ein Säckchen Zucker erstanden zu haben. Das Einzige, was sie aus dieser Stadt mit herausbrachte, war eine ungeheure Wut. Alles war ausverkauft – alles, nicht nur Gewürze. Auch sämtliche anderen Spezereien, die es bei den Kaufleuten Lemgos zu besorgen gegeben hätte, waren erworben und fortgeschafft, darunter zwei Fässer zyprischen Weines, Kisten voller Mandeln und getrockneter Feigen sowie Säcke mit Reis. Margarethe hatte noch das Grinsen des Apothekers vor Augen, welches unverhohlen verriet, dass er soeben das Geschäft seines Lebens gemacht hatte.
»Zimt und Ingwer hat er genommen, so viel er kriegen konnte. Selbst meine spärlichen Reste an Safran hat er nicht verschmäht. Ich wies ihn darauf hin, gute Frau Gänslein, dass ich meine Waren erst vor einigen Monaten von Euch erstanden hatte und er doch sicherlich bei Euch in Hameln sehr viel mehr davon würde kaufen können, zumal er doch selbst aus Eurer Stadt angereist war. Doch davon hatte er nichts wissen wollen. Er war in einen regelrechten Kaufrausch verfallen, gerade noch, dass er die Kisten auf seinem bereits vollkommen überladenen Wagen hatte unterbringen können. Wenn dem mal nicht auf dem Rückwege die Achsen brechen. Aber was kümmert’s mich, Hauptsache, der Wechsel platzt nicht.«
So waren die Worte des Lemgoer Apothekers gewesen. Und der Kaufmann, bei dem sie zuvor gewesen war, hatte ähnlich gesprochen.
Peter Hasenstock also.
Was war das wieder einmal für ein hinterhältiges Treiben?
Es konnte doch nur gegen sie, gegen die Gewürzhändlerin, gerichtet sein?
Nun, wenn er denn meinte.
Anscheinend ahnte er nicht, welche Waffen sie mittlerweile gegen ihn in der Hand hatte. Und so, wie es aussah, müsste sie sie wohl bald zum Einsatz bringen, auch wenn dies ganz und gar dem Charakter einer Margarethe Gänslein widersprach.
Müde war sie, als die leere Kutsche langsam in der Dunkelheit aus dem Lemgoer Stadttor hinausfuhr. Nun ja, wenigstens den Branntwein könnte Margarethe nun auf der Rückfahrt besorgen. Denn diese Quelle war so geheim, dass es einem Wunder gleichkäme, wenn Hasenstock auch sie ausfindig gemacht hätte.
Es war eine dieser seltenen Mainächte, die nach einem durchaus warmen Tag plötzlich mit Frost aufwarteten und den Bauern ein wahrer Graus waren. Der Mondschein ließ den Raureif auf Gräsern und jungen Trieben zauberhaft glitzern. Es war ein reines, fast unschuldiges Schauspiel, und dennoch löste es in Margarethe nicht die Faszination aus, die sie sonst in Anbetracht der Vollkommenheit der Natur empfand. Sie wollte nurmehr nach Hause, und das so schnell wie eben möglich.
»Hoh, halt«, vernahm sie plötzlich die dunkle Stimme des Fuhrmanns und musste sich am Arm des schlafenden Bennheim festhalten, um nicht von dem Ruck der urplötzlich haltenden Kutsche von ihrer Bank geworfen zu werden. Sie war offensichtlich eingenickt, denn es dauerte eine Weile, bis Margarethe begriff, dass sie noch immer unterwegs waren und der fehlgeschlagene Handel in Lemgo kein schlechter Traum gewesen war.
In der Annahme, nun das Gasthaus des Schnapsbrenners erreicht zu haben, klappte sie die Fensterluke auf und streckte ihren Kopf hinaus.
Sie befanden sich noch immer auf dunklem Wege. Von einer Behausung, geschweige denn einem Krug nicht die geringste Spur. Stattdessen tat sich vor ihnen ein enormer Tannenwald auf, der in Anbetracht dieses abrupten Haltes, dessen Grund Margarethe schleierhaft war, ganz besonders bedrohlich wirkte.
»Schaut hier heraus, meine Herrin«, sagte Bennheim leise, eine Hand leicht auf Margarethes Unterarm legend, während die junge Magd sich verängstigt in eine Ecke der Kabine drückte. Margarethe folgte den Worten des Sekretärs und blickte aus der Luke auf seiner Seite der Kutsche.
Da lag ein Wagen im nahen Graben. Offenbar war er von dem glatten Weg abgekommen und in die Böschung gerutscht. Er war leer, die Pferde bereits ausgespannt, und von einer Menschenseele ebenfalls keine Spur. Weshalb also hielt der Fuhrmann an? Es war zu gefährlich, hier zu verharren, denn immerhin könnte dieses Unglück nur vorgetäuscht und nichts weiter als ein gemeiner Hinterhalt von Wegelagerern sein.
»Was wartet Ihr, Mehlmann? Lasst uns weiterfahren«, rief Margarethe aus dem Fenster dem Kutscher zu.
»Aber, gute Frau, seht Ihr denn nicht? Da hockt einer mitten auf dem Weg«, antwortete dieser und machte sich nun vorsichtig auf, den Kutschbock zu verlassen. Dabei griff er mit einer Hand nach dem Dolch unter seinem Wams, mit der anderen nach der Laterne, die bislang neben ihm an einem Haken gehangen hatte.
Margarethe konnte die Gestalt nicht sehen, da es ihr nicht möglich war, so weit den Kopf hinauszustrecken, aber ein leises Wimmern war nun zu vernehmen.
Es klang ganz nach dem Schluchzen einer Frau, eines armen überfallenen Weibes. Eine Gänsehaut lief ihr über Arme und Rücken. Unwillkürlich griff sie nach Bennheims Hand und schaute den Sekretär fragend an. Dieser zuckte nur mit den Achseln, aber auch sein Gesicht verriet größtes Unbehagen. Die Magd zitterte vor Angst und verbarg ihr Gesicht in den Händen.
Margarethe nahm sich ein Herz, entriegelte die Türe und kletterte hinaus auf den nächtlichen, verlassenen Weg.
»Herrin, seid bitte nicht unvernünftig«, zischte Bennheim ihr ermahnend hinterher, doch da stand Margarethe bereits neben dem Kutscher, welcher seine Laterne so dicht wie möglich an die im Frost hockende Gestalt hielt.
In diesem Moment durchfuhr es Margarethe wie ein Schock. Sie wusste nicht, wie sie das Gefühl hätte beschreiben können, dass sich ihrer bemächtigte. War es Mitleid oder Häme, war es Verwirrung oder gar Glück? Sie hätte es nicht sagen können. Alles, was sie hätte sagen können, war, dass sie die Gestalt dort am Boden sofort erkannt hatte – und das, obwohl sie glücklicherweise von sich behaupten konnte, ihn niemals zuvor in ihrem Leben nackt gesehen zu haben.
»Aber Hasenstock, was ist Euch widerfahren?«, rief sie sodann.
Und trotz seiner Blöße griff sie ihm unter die Arme und wies den Kutscher an, die Beine des Halberfrorenen zu nehmen, um ihn zur Kutsche zu tragen.
Erst in der Gaststube der Roten Schenke des Brennmeisters Veit Freie kam Peter Hasenstock wieder zu sich. All seine auftauenden Glieder kribbelten und schmerzten so sehr, dass er nicht aufhören konnte zu jammern und zu schreien.
Indes hielt sich Margarethes Mitleid in bescheidenen Grenzen. Ein wenig belustigt setzte sie sich einen Krug an die Lippen und beobachtete über den Rand des Trinkgefäßes, wie sich der in mehrere schmutzige Wolldecken gehüllte und völlig zerzauste Hasenstock auf der Ofenbank hin und her wand.
Er hatte es wahrlich verdient.
»Das blühende Leben sieht anders aus, werter Ratsherr Hasenstock«, bemerkte Margarethe nüchtern, nachdem die unkontrollierten Zuckungen des Apothekers in ein einfaches Bibbern übergegangen waren und er sich nun auf der Ofenbank aufrichten konnte, um vom Wirt einen heißen Gewürzwein in Empfang zu nehmen.
Doch Hasenstock schien die Kauffrau Gänslein gar nicht zu bemerken. Völlig entkräftet und sich seines erbärmlichen Zustandes in keiner Weise schämend, gab er sich der Wohltat des wärmenden Getränkes hin, wobei er hemmungslose Stöhnlaute von sich gab.
Margarethe schüttelte belustigt den Kopf und blickte zu ihrem Secretarius Bennheim hinüber, der die ungewöhnliche Szene völlig ungerührt mit strenger Miene betrachtete.
»Ich wünschte, ich wäre mit dem Kohlestift so flink und geschickt wie Mechthilds Sohn Georg, dann würde ich dieses seltene Bild für die Ewigkeit festhalten«, flüsterte die Witwe ihrem Begleiter zu, dem nun doch ein leichtes Lächeln über die alten, schmalen Lippen huschte.
Das Gasthaus war an diesem Abend gut gefüllt. Zahlreiche Bauern aus der Gegend hatten sich zum Würfelspiel getroffen, ein einzelner Spielmann saß auf einem Schemel und ließ seine Schalmei erklingen, zudem waren noch einige Pilger und ein weiterer Handelsreisender mit seinem Gefolge zugegen. Und vor wenigen Augenblicken erst hatte auch der fahrende Arzt und Wunderheiler Götz Gugelmann mit seinem Knecht den Raum betreten, sich jedoch unauffällig und bescheiden in eine der hinteren Ecken der Taverne begeben. Aufsehen erregte nach wie vor allein Margarethe mit ihrem eigentümlichen Gefolge. Zwei ihrer männlichen Begleiter waren von den anwesenden Gästen mittlerweile als Fuhrmann und Diener eingeordnet worden, doch der Dritte im Bunde hatte allen ein Rätsel aufgegeben. Unbekleidet war er gewesen und fast ohnmächtig. Nach und nach war zu allen Anwesenden durchgesickert, dass es sich um einen Kaufmann handelte, der auf seinem Weg von Lemgo nach Hameln überfallen und beraubt worden war. Allein das nackte Leben war ihm geblieben.
Näheres war auch Margarethe noch nicht bekannt, denn bislang hatte Hasenstock kein Wort gesprochen. Eines jedoch schien klar zu sein: Er hatte alles verloren. So etwas geschah mitunter. Irgendwann im Leben eines Kaufmanns wartete nun einmal ein Strauchdieb hinter der nächsten Ecke auf ihn. Kaum einer blieb verschont. Aber dass es Hasenstock ausgerechnet heute traf, an dem Tag, als er Margarethe diesen bitterbösen Streich gespielt hatte, geschah ihm recht. Fast war sie geneigt, den verantwortlichen Buschkleppern, wer immer sie sein mochten, dankbar zu sein.
»Was ist Euch zugestoßen, werter Herr? Wollt Ihr davon berichten?«, fragte nun, nachdem Hasenstock aufgetaut war, der Wirt Freie und schenkte dem gierig danach lechzenden Gast von dem Heißgetränk nach.
»Aus dem Nichts kamen sie«, stotterte dieser, in seinen Becher starrend. Margarethe hatte den Eindruck, dass er sich ihrer Gegenwart noch immer nicht bewusst war. Vielleicht wollte er aber auch nicht wahrhaben, dass ausgerechnet die verhasste Frau es war, die ihn aus einer solch misslichen Lage errettet und ihn nun in diesem für ihn ungünstigen Zustand vor Augen hatte. »Mein Fuhrmann sprang vom Bock und gab sofort Fersengeld, als er die Räuber sah. Ich allein blieb zurück.«
»Und dann?«, bohrte der Wirt weiter. Er hatte sich mittlerweile neben den Gast auf die Bank gesetzt. Auch zahlreiche weitere Gäste hatten sich genähert und lauschten nun gespannt dem Bericht des Überfallopfers.
»Angetrieben habe ich die Gäule. Wild auf sie eingepeitscht habe ich. Und tatsächlich wurde einer der vermummten Halunken über den Haufen getrampelt. Doch dann sind die Pferde vollkommen durchgegangen, und der Wagen ist nach nur wenigen Schritten im Graben gelandet.«
Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Becher. Langsam fand er ins Leben zurück. Dennoch war dieser Mann ein gelungenes Beispiel dafür, wie wahr doch die Weisheit zu sein schien, dass erst Kleider Leute machten. Niemand in Hameln hätte Peter Hasenstock in diesem zerzausten, verwahrlosten Zustande wiedererkannt. Das Puder, welches er so sorgsam auf Gesicht und Hals aufzutragen pflegte, war abgebröckelt und offenbarte auf ernüchternde Weise den Grund für diese übertrieben wirkende Schminkerei. Denn besonders Hasenstocks Stirn war übersät mit teilweise eitrigen Pusteln, die wie ein Kranz am Haaransatz entlangführten. Zudem hatte auch die Wirkung seines niemals sparsam verwendeten Duftwassers nachgelassen, denn er stank erbärmlich. So erbärmlich, dass selbst der Wirt, welcher von ausgelassenen Gästen sicherlich einiges gewohnt war, die Nase rümpfte. Ein Misthaufen war ein Rosengarten gegen diesen Geruch, welchen Margarethe bei einer gepflegten Erscheinung wie Hasenstock selbst dann nicht für möglich gehalten hätte, wenn er ein halbes Jahr lang mit keinem einzigen Tropfen Wasser in Berührung gekommen wäre. Sie führte diese absonderlichen Körperausdünstungen und den stinkenden Atem, der selbst über den breiten Tisch hinweg wahrnehmbar war, auf den Schrecken zurück, den der im Grunde bemitleidenswerte Mensch vor wenigen Stunden hatte erfahren müssen.
»Sofort waren sie da, die Wilden«, fuhr er indes mit seinem Bericht fort. »Rissen mich aus dem Graben, prügelten mich und entledigten mich all meiner Kleider. Dann luden sie sämtliches kostbare Gut auf ihr eigenes Gefährt, spannten die Pferde aus und nahmen auch diese mit. In den Wald sind sie hinein. Das war alles, was ich erkennen konnte. Dann übermannten mich Schmerz und Kälte, und ich verfiel in einen Zustand todbringender Umnachtung.«
»Aus welchem Ihr glücklicherweise von Frau Margarethe Gänslein und ihrer Gefolgschaft errettet wurdet«, ergänzte der Wirt Freie, der Witwe, welche er offensichtlich mehr als schätzte, keck zuzwinkernd.
»Die?«, rief Hasenstock nun laut, was Margarethe zusammenzucken ließ. Zum ersten Male an diesem Abend schaute er sie an. Und in seinen Augen spiegelte sich ein solcher Hass, dass die Gewürzhändlerin sicherlich hintenübergefallen wäre, wenn Blicke tatsächlich töten könnten.
»Von wegen Glück! Ein abgekartetes Spiel war das«, schimpfte er nun. »Sie war es doch, die dem Diebsgesindel den Auftrag erteilt hat, mir aufzulauern. Sie will mich vernichten. Das wollte sie schon immer.«
Margarethe versuchte, die Fassung zu wahren, während der magere, kleine Bennheim bereits, ganz entgegen seiner Art, aufgesprungen war und dem Apotheker die geballte Faust zeigte.
»Aber nein doch«, rief der Wirt mit seiner dunklen, alles übertönenden Stimme. Eine besondere Ruhe und Abgeklärtheit hafteten ihm an, offenbar hatte er schon mehr als häufig heikle Situationen auf friedvolle Weise im Keim ersticken müssen und besaß darin mittlerweile eine gewisse Übung. »Wir wollen doch nicht voreilig sein. Ich kann mir denken, werter Herr, durch wen Ihr von Euren Waren erleichtert wurdet. Nicht wahr, Alfons?«, rief er nun einem der bis dato Würfel spielenden und nun gebannt lauschenden Bauernburschen zu. Dieser, ein langer Dürrer mit einem Schopf, der aussah, als sei er mit Hilfe eines Topfes und eines stumpfen Messers in Form gebracht worden, nickte grinsend und entblößte dabei die braunen Restbestände seiner Zähne.
»Die Gebrüder Bienenfleiß«, rief er dann und genoss es, die Blicke aller Anwesenden auf sich zu ziehen.
»So ist es«, bestätigte Freie. »Die Gebrüder Bienenfleiß. Sie sind ein Haufen fauler Gesellen, die es nie verstanden haben, ihre Mäuler mit redlicher Arbeit zu stopfen. Bis vor wenigen Monaten noch waren sie im Auftrag des Raubritters Eicheck unterwegs, doch seitdem dieser das Zeitliche gesegnet hat, sind sie zu ihren eigenen Herren geworden. Sie sind so faul, dass sie nur stehlen, wenn sie etwas brauchen. Man könnte es auch Mundraub nennen. Und zudem kann man gewiss sein, dass man, wenn man zu einem ihrer Opfer auserkoren wurde, mit dem Leben davonkommt. So ist es doch, Alfons, oder?«
»So ist es. Sie morden nicht, und sie schänden nicht.«
»Das tun sie wahrlich nicht.«
»Wie ehrenhaft«, warf nun Margarethe süffisant ein, die dankbar war, dass der Wirt dieser mehr als heiklen Situation den Wind aus den Segeln zu nehmen gedachte.
»Und wer sagt mir, dass nicht sie es war, die diese Strauchdiebe angeheuert hat?« Hasenstock wollte nicht von seinem Standpunkt abweichen.
Der Bauer Alfons zuckte ratlos mit den Schultern, während der Wirt lachend rief:
»Ihr, mein werter Herr, traut einem Weibe aber mehr zu, als es zu leisten im Stande ist.« Dann erhob er sich und rief: »Die nächste Runde geht aufs Haus.«
Margarethe hob ob dieser gutgemeinten Beleidigung nur kurz die Brauen, während Hasenstock nicht aufhörte, sie böse anzublicken.
Ja, ohne eine Erklärung dafür finden zu wollen, genoss die Kauffrau die Situation und dachte keineswegs mehr an eine nächtliche Rückkehr in ihre Heimatstadt. Stattdessen bestellte sie für sich und die verwunderte Magd eine Spezialität des Hauses, einen leichten, aber dafür herrlich nach frischem Waldmeister schmeckenden Wein. Gern reichte der Wirt den Damen den gewünschten Trank und brachte zusätzlich einen Topf dampfender Zwiebelsuppe und einen Teller herrlicher Würste. Und nun konnte auch der zurückhaltende Bennheim nicht mehr widerstehen, griff herzhaft zu und gönnte sich zudem einen ganzen Krug kühlen Biers.
»Manchmal, mein lieber Bennheim, muss man einfach alle Fünfe gerade sein lassen, nicht wahr?«, sagte Margarethe, an den treuen Sekretär gewandt, und stieß mit ihm an. Dies geschah in der folgenden Stunde noch einige weitere Male. Und beinahe hätte sie bei Wein und Gesang vergessen, dass auch ihr Feind in diesem Raume anwesend war, wenn dieser nicht plötzlich, wie aus dem Nichts kommend, neben ihr gesessen hätte. Die Magd nämlich – Margarethe hatte es nicht bemerkt, sah es ihr aber nun nach, da immerhin sie es gewesen war, die das junge Ding zum Trinken animiert hatte – hopste fröhlich mit gleich zwei Burschen im Raume herum, ließ sich in die Luft werfen, wieder auffangen, herumschleudern und sogar küssen, während der durch sie verwaiste Platz neben der Herrin jetzt von Peter Hasenstock eingenommen worden war. Er wankte bereits verdächtig auf dem einfachen Hocker, und ebenso verdächtig verrutschte sein provisorisches Gewand an einigen Stellen, wodurch der Blick auf weitere Pocken und Flechten an seinem Körper freigegeben wurde. Margarethe rutschte etwas unruhig auf ihrer Bank hin und her. Es war weniger der ekelerregende Anblick seines Körpers als vielmehr dieser verwesungsartige Geruch, der die Nähe des Apothekers so unerträglich machte. Dennoch war ihr bei dieser ausgelassenen Stimmung nicht nach Streit zumute, weshalb sie sich seine Anwesenheit gefallen ließ. Ja, wäre nicht der Gestank gewesen, so hätte es ihr sogar Freude bereitet, ihn derartig absonderlich erleben zu dürfen.
»Entschuldigt meine Worte von vorhin«, lallte er nun, und dabei roch es aus seinem Rachen wie aus einer Jauchegrube, was so gar nicht zu seinen weißen, blankgeputzten Zähnen passte.
»Es sei Euch verziehen«, antwortete Margarethe schmunzelnd und rückte noch ein klein wenig zur Seite.
»Ich will Euch im Grunde nichts Böses, das müsst Ihr wissen.«
Nun wurde er zutraulich. Margarethe war sich nicht sicher, ob sie die Lage nutzen sollte, um ihm einige Geständnisse zu entlocken, die er ihr im nüchternen Zustand nicht einmal unter der Folter gemacht hätte. Andererseits wusste sie nun, dass sie immerhin einen eindeutigen Mörder vor sich hatte. Darum ließ sie ihn gewähren, ohne ihn auszufragen, und meinte nur:
»Dem Anschein nach, Hasenstock, wolltet Ihr mir bislang zumindest nie etwas Gutes.«
»Oh doch, meine Liebe. Oh doch. Ich wollte Euch immerhin ehelichen.« Und mit diesen Worten rückte er samt seines Hockers wieder näher an Margarethe heran und gönnte ihr einen anerkennenden Blick, den er über ihren ganzen Körper wandern ließ. Sie lächelte unangenehm berührt, weiter zur Seite rutschen konnte sie jedoch nicht mehr.
»Ein Prachtweib seid Ihr. Eines, das ein Bürschlein wie Reinold es war, niemals verdient hätte. Ich wette, er hat es Euch nie wirklich besorgen können.«
»Was erlaubt Ihr Euch!«
Jetzt ging er zu weit. Auch wenn sie ihm ob seiner schrecklichen Erlebnisse des heutigen Tages und des reichlich genossenen Alkohols einiges nachsah, so war eine solche Äußerung dennoch unverzeihlich.
Abwehrend hob er beide Hände und schaute sie mit großen Augen entschuldigend an: »Ich vergaß, ich habe eine Dame vor mir.«
»So ist es, Hasenstock, und ich will vergessen, was ich soeben gehört habe.«
»Ich danke Euch dafür. Wir sollten viel mehr von dem vergessen, was in der Vergangenheit geschehen ist, Margarethe. Nicht wahr? So zahlreiche ungute Ereignisse liegen hinter uns.«
»Was sprecht Ihr da an, Hasenstock?« Nun wurde Margarethe doch hellhörig. Ein seltsames Gefühl bemächtigte sich ihrer. Wusste er etwa, dass auch sie wusste?
»Hat er Euch von mir erzählt?«, fragte Hasenstock, seinen Mund so nah an Margarethes Ohr drückend, dass es von seinem widerlichen Atem feucht beschlug.
»Wen meint Ihr?« Sie wich ein wenig mit dem Kopf zurück, um dem Apotheker ins Gesicht schauen zu können.
»Euren seligen Gatten meine ich.«
Margarethe schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
»Wir teilen so manches Geheimnis«, flüsterte er nun kaum verständlich, da ihm der Glühwein im Hirn und der Schreck in den Knochen ordentlich den Geist vernebelt hatten.
»Und was wären das für Geheimnisse?«, fragte Margarethe vorsichtig.
»Böse Erinnerungen. Er war kein guter Bube damals, als wir uns zufällig in den Bergen begegneten. Er war auf der Flucht. Hatte einen Nürnberger Weinhändler auf dem Gewissen und zudem ein Lagerhaus in Brand gesetzt. Ja, so war er, der Reinold. Und das ist noch nicht alles.«
»Warum soll er so etwas getan haben?«, fragte Margarethe in gedämpftem Ton. Sie stellte sich absichtlich unwissend, um Hasenstocks Variante der Geschichte in Erfahrung zu bringen.
Dieser zuckte mit den Schultern. »Das kann ich Euch nicht sagen. Ich weiß nur, dass sein Gewissen mehr als befleckt war, als wir uns trafen, und es ihm ein großes Anliegen war, über seine Schuld zu sprechen.«
»Und anstatt zu einem Pfaffen zu gehen, hat er sich ausgerechnet Euch anvertraut?«
»So ist es. Wir vertrauten uns. Gleichen Alters waren wir, unterschiedlichen Standes, aber mit derselben Lebenslust ausgestattet. Wir waren uns einig, uns von nichts und von niemandem unsere Zukunft hier auf Erden verderben zu lassen. So ist sie, die Jugend, voller Schwung, voller Tatendrang.«
»Wer sollte denn Euch Eure Zukunft auf Erden verderben?«, wollte Margarethe nur scheinbar beiläufig wissen.
Hasenstock grinste und nahm einen erneuten Schluck aus seinem Becher, dabei lief ihm der rote Wein über Kinn und Hals. Margarethe wandte sich ab. Dann redete er weiter, nachdem er seine rechte Hand mit den gepflegten Fingernägeln auf Margarethes Knie platziert hatte. Sie war so sehr damit beschäftigt, ihre Gedanken zu sortieren, dass sie diese Annäherung gar nicht wahrnahm.
»Ihm waren Häscher auf den Fersen. Venezianische Reiter, von deutschen Kaufleuten angeheuerte Söldner, die den flüchtigen Brandstifter einfangen sollten. Sie nisteten sich eines Nachts in dem gleichen Gasthaus ein, in dem auch Reinold und ich untergekommen waren. Sie hatten keine Vorstellung, dass der Gesuchte ihnen so nah war. Wir überwältigten sie im Schlaf.«
»Ihr habt sie getötet?«
»Sagen wir, ich half meinem Freunde, diese Belästigung loszuwerden.«
Margarethe nickte nur ein Mal langsam mit dem Kopf und sagte nichts weiter als: »Ach.«
Hasenstock indessen setzte seinen Bericht ungerührt fort: »Er stand also tief in meiner Schuld, der gute Reinold. Ja, er hatte mir viel zu verdanken. Ich weiß nicht, warum, aber er tat mir leid. Also schlug ich ihm vor, ihn mit in meine Heimat zu nehmen. Kaum waren wir dort angekommen, fing er umgehend an, sich ein Nest zu bauen. Das mit Erfolg. Anfangs freute es mich für ihn, doch irgendwann musste ich schmerzhaft feststellen, dass mein guter Freund wohl ein schlechtes Dankbarkeitsempfinden besaß. Er begann mich zu meiden, obgleich doch ich es gewesen war, der ihn so sehr unterstützt hatte. Ich sah es ihm nach, glaubte vielmehr, die auf ihm lastende Schuld sei dafür verantwortlich, dass er durch mich an Dinge erinnert wurde, die er lieber vergessen hätte. Doch es stimmte mich durchaus traurig, Margarethe, und es stimmt mich nach wie vor traurig. Zumal ich niemals, niemals, und das schwöre ich bei Gott, ich wiederhole: niemals auch nur ein Sterbenswörtchen über Reinolds Untaten verloren habe.«
»Und warum erzählt Ihr nun mir davon?«
»Wollt Ihr denn immer unwissend bleiben, Margarethe?«
»Haltet Ihr mich etwa für unwissend?«
Nun stockte der Apotheker für einen Moment, und seine trunkenen Augen erweckten kurzzeitig den Eindruck von Nüchternheit.
»Was wisst Ihr denn?«, fragte er nun.
»Genug.«
Hasenstock lachte kurz und abgehackt auf, wurde dann schlagartig wieder ernst. Er schien eine Weile zu brauchen, um zu begreifen. Dann begann seine kleine Hand Margarethes Oberschenkel zu kneten, und sein Kopf kam wieder näher an ihr Ohr. Er hauchte:
»Dann haben wir eine Menge gemeinsam, Margarethe. Auch ich weiß genug. Ich weiß von toten Neugeborenen in Eurer Kloake, von verscharrten Mägden in Eurem Garten. Ich weiß von Eurem Spiel mit dem Hexenmeister Vinsebeck, und dass Ihr gemeinsam an einem künstlichen Menschen experimentiert habt. Ich weiß so vieles, was für andere von Interesse wäre. Doch ich schweige, denn ich glaube, besser als darüber zu reden, wäre es doch, wir beide schlössen einen Pakt. Einen Pakt, den ich gleich hier und heute, oben, in einem der Kämmerlein, mit Euch besiegeln würde. Ihr würdet es nicht bereuen. Nein, im Gegenteil. Ihr würdet nicht genug davon bekommen wollen und nach mehr lechzen.«
Margarethe versuchte, Ruhe zu bewahren, obwohl ihr danach gewesen wäre, den widerwärtigen Menschen zu schlagen. Langsam griff sie nach den unverschämten Fingern des Apothekers und legte sie auf den Tisch, ganz so, als ob es sich um ekelhafte, verrottende Würste handelte.
»Ihr seid ein verheirateter Mann, und ich eine ehrenhafte Witwe, Hasenstock.«
»Ehrenhafte Witwe«, prustete er nun und zog damit die Blicke einiger anderer Gäste auf sich. »Nicht nur, dass Ihr Pfaffen und Missgeburten mit in Euer Bett nehmt, nein, auch für dahergelaufene Fremdlinge seid Ihr Euch nicht zu schade. Es rufen doch schon die Spatzen von allen Dächern der Stadt, was für eine Metze die Witwe Gänslein ist.«
Im nächsten Moment lag Hasenstock am Boden. Der Faustschlag hatte ihn mitten im Gesicht getroffen und ihn hintenüberstürzen lassen.
So etwas hatte Margarethe nie zuvor in ihrem Leben getan. Dennoch bereute sie es nicht. Auch das Gelächter der übrigen Anwesenden bewies, dass man ihr solch ein ungebührliches Verhalten an einem Ort wie diesem offenbar nicht übelnahm. Glücklicherweise war Bennheim längst in einer Ecke der Stube eingenickt, die Magd beschäftigt und der Fuhrmann zu trunken, als dass die drei mitbekommen hätten, was ihre Herrin und Auftraggeberin gerade getan hatte.
Wie ein Wurm wand sich der Geschlagene am Boden, wodurch erneut die ihn nur vage einhüllenden Decken verrutschten und ihn jetzt wieder völlig bloßlegten. Es war ein erbärmlicher Anblick, fast wollte er Margarethe leidtun. Ein Mann – es handelte sich um den Knecht des Quacksalbers Gugelmann, der sich zusammen mit seinem Herrn bislang in einer anderen Ecke der Gaststube aufgehalten hatte –, stand plötzlich bei ihnen und wollte dem hilflosen Hasenstock aufhelfen, als er mit einem Mal in seinem Vorhaben innehielt und laut ausrief:
»Meister, kommt her! Ich glaub, der hier hat eine prächtige Form der Franzosen. Das müsst Ihr Euch ansehen.«
Und in vertraulichem Ton, seinen Arm schützend um ihre Schultern legend, meinte der dümmlich dreinblickende Geselle, an Margarethe gewandt:
»Lasst besser die Finger von diesem Kerl, werte Dame. Das ist keine schöne Sache. Mein Meister kennt sich mit den Franzosen aus. Feststeht, dass so was nur von so was kommt und auch durch so was weitergetragen wird. Wenn Ihr versteht, was ich meine.«
Margarethe verstand durchaus und wollte gerade dazu anheben, den frechen Knecht zu schelten, als schon die durchaus imposante Erscheinung seines Meisters Götz Gugelmann neben ihr auftauchte. Er verneigte sich höflich und durchaus galant vor der Kauffrau und zeigte seinem Handlanger an, er solle sich nicht derart ungehobelt an eine feine Frau wie die Kaufmannswitwe Margarethe Gänslein aus Hameln wenden.
Der Scharlatan erinnerte sich also an sie und kannte sogar ihren Namen. Margarethe durchfuhr es unangenehm angenehm, und das ärgerte sie maßlos. Er jedoch schien sich nun nicht weiter für sie zu interessieren, sondern lenkte all seine Aufmerksamkeit auf den noch immer auf dem schmutzigen Lehmboden liegenden Hasenstock.
»In der Tat. In der Tat«, murmelte er nun, den Zeigefinger in Denkermanier an die Nasenspitze gelegt. Er hockte sich sodann neben den Niedergeschlagenen, der offenbar ohnmächtig oder einfach nur eingeschlafen war, und betrachtete, durch ein Augenglas blickend, ungeniert dessen teilweise entblößten Leib.
Margarethe wandte sich ab.
Wohin, in drei Teufels Namen, war sie hier nur geraten?
All das war mittlerweile so unglaublich und absurd, dass es ihr nurmehr wie ein böser Albdruck erschien. Jeden Moment würde sie aufwachen und wahrscheinlich fiebrig in ihrem eigenen Bette liegen, denn derartige Träume übermannten einen nur, wenn man gehörig krank war.
Sie schloss die Augen. Ihr war schwindelig, sie fühlte sich hilflos. Dumpf und weit, weit im Hintergrund vernahm sie die Stimme Gugelmanns, der den Leuten nun von der in dieser Region noch seltenen, aber umso gefährlicheren und soeben an diesem Manne erkannten Krankheit erzählte.
»Liebe Leute, kommt nur her und lasst euch berichten. Nein, lasst euch mahnen! Seht diesen Bedauernswerten, er soll euch ein trauriges Exempel sein. Auf den ersten Blick scheint es, dass der gute Mann an Pocken, Räude, Krätze oder wilden Warzen leide, doch dem ist nicht so. Dieser geschundene Sünder ist eindeutig ein Lustsiecher, ein Opfer der tückischen Franzosenseuche. Von dieser Geißel ist dem einen oder anderen von euch gewiss schon zu Ohren gekommen. Dennoch muss ich die Unwissenden unter euch aufklären. Bislang haben weder Chirurgie noch Schröpfkunst ein Heilmittel gegen das uns hier vorliegende Übel aus Übersee finden können.«
Und dabei deutete er mit theatralischer Geste auf Peter Hasenstock, der von alldem nichts mitbekam und nun sogar friedlich zu schnarchen begann.
»Ja, eine Lustseuche. Wie kann man vermeiden, so auszusehen wie dieser arme Teufel, fragt ihr? Allein Enthaltsamkeit oder die Treue zu seinem Ehegemahl vermögen es, gar nicht erst an dem Schrecken zu erkranken. Denn wahrlich schrecklich sind die ›Franzosen‹, und sie wüten bereits seit mehr als dreißig Jahren in Europa, seit den Tagen, als der Seefahrer Kolumbus sie von seiner Entdeckungsreise mitgebracht hat. Ja, diese Heimsuchung ist indianischen Ursprungs! Das zweifelt kein gelehrter Mediziner an. Durch den Umgang mit den Weibern der Wilden ist das Übel auf die spanischen Seeleute übergegangen. Sie brachten es sodann nach Spanien, die Spanier trugen es nach Italien, dort holten es sich die Franzosen ab und reichten es weiter an die Deutschen. Deshalb schimpft man es in unserem Lande auch schlicht ›die Franzosen‹.
Die Anzeichen der Franzosenkrankheit sind verschieden, aber immer ekelerregender und äußerst schmerzhafter Natur. Die einen sind von Kopf bis Fuß mit schwarzen Krusten übersät, andere wiederum leiden nur an den geheimsten Stellen unter juckenden, nässenden Pusteln und Ausschlägen. Immer jedoch geht von dem Kranken ein pestilenzartiger Gestank aus, sein Atem stinkt nach Aas, das Sekret seiner Warzen nach Jauche, und er klagt über schmerzende Knochen, ganz so wie nach einem heftigen Höllenritt. Diese Krankheit, liebe Leute, ist ärger als der Schwarze Tod, da sie keine Erlösung kennt, nein, sie verspricht ein langjähriges Siechtum, ja, Höllenqualen auf Erden und macht somit die von ihr Befallenen zu lebenden Leichen. Es ist eine Seuche der Lust und wird nur durch die Lust übertragen. Sie wartet auf euch nicht nur in Frauenhäusern und Badestuben, sondern auch im Schritt ehrenhafter Bürger und Bürgerinnen, ja sogar zwischen den Beinen der Päpste.«
Bei diesen Worten ging ein Raunen durch die gebannt lauschende, langsam nüchtern werdende Menge. Einige bekreuzigten sich.
»Ja, ihr habt richtig gehört. Drei der letzten Heiligen Väter waren von dieser Lustkrankheit befallen, und nur Gott allein weiß, wie Alexander VI., Julius II. und auch Leo X. sich diese Geißel zugezogen haben.«
»Nieder mit der römischen Kirche!«, rief es nun aus dem Hintergrund, was teilweise mit einem zustimmenden Gemurmel quittiert wurde. Gugelmann hob beschwichtigend die Hände.
»Dies ist keine Predigt gegen die Missstände der katholischen Kirche. Dazu bin ich nicht der richtige Mann. Das sollen andere erledigen. Ich hingegen will euch nur in nüchterner Weise davon berichten, in welche Gefahr ihr euch begebt, wenn ihr ebenso lasterhaft lebt, wie es euch einige feine Herren« – dabei deutete er wieder auf den am Boden liegenden Hasenstock – »und auch eine Vielzahl an vermeintlich keuschen Kirchenleuten vormachen. Denn nicht einmal Quecksilbersalben und Schwitzkuren können die Franzosen vertreiben. Manche versuchen mit Hilfe von Giften und Schwefel das Übel aus den Leibern der Befallenen zu verscheuchen, indem sie die Kranken dazu anregen, Unmengen an Schweiß und Speichel abzusondern. Zwecklos! Andere wiederum bieten ein teures Holz an, Guajacum mit Namen. Es stammt aus Übersee und wird angeblich bereits seit Jahrhunderten von den Indianern gegen diese Krankheit verwendet. Doch auch diese Holzkuren helfen nur denjenigen, die das Holz massenhaft aus Übersee einführen, um es hier überteuert an den leidenden Mann zu bringen. Niemand Geringeres als die berühmten Fugger in Augsburg besitzen das Monopol auf dieses Lustsiechenholz und füllen sich damit bereits seit Jahren ihre ohnehin schon berstenden Goldtruhen.
Liebe Leute, es gibt nur ein einziges Gegenmittel, und das ist …« – jetzt machte er eine längere Pause, in der er gebannt in die Menge starrte, bevor er laut ausrief: »… die Enthaltsamkeit! Nur dieses Heilmittel, so einfach es klingen mag, ist schwierig zu erhalten. Denn sind wir nicht alle Sünder? Gerade wir, die wir uns hier zu solch später Stunde unter dem Einfluss von Unmengen an Wein und Bier zusammengefunden haben? Wir alle – und da bilde selbst ich keine Ausnahme – neigen dazu, uns gern und leicht von der Schönheit des anderen Geschlechts locken zu lassen.« Dabei fiel sein Blick auf die wie benebelt dasitzende Margarethe, welche dies jedoch nicht bemerkte.
»Aber dennoch bin ich gesund. Und auch mein Knecht Kaspar ist gesund. Und das, obwohl wir durch aller Herren Länder streifen und sogar schon den Sündenpfuhl Rom besucht haben. Uns können die Franzosen nichts anhaben. Warum, fragt ihr euch? Das ist eine berechtigte Frage.«
Wieder blickte er abwartend zu seiner andächtigen Zuhörerschaft.
»Ich nenne euch des Rätsels Lösung gern. Wir nehmen täglich einen Trunk zu uns. Ein Treuewasser. Ein Gebräu aus den alten Tagen unserer heidnischen Vorväter, das standhaft vor allen sündhaften Versuchungen des Lebens macht. Dieses Mittel ist der einzige Schutz vor dem Übel der Franzosen. Meine lieben Leute, ihr könnt nichts als vorbeugen, denn wenn es euch erst heimgesucht hat, wie diesen armen Sünder hier zu meinen Füßen, dann ist euer Erdenleben verwirkt. Von eurem Leben nach dem Tode ganz zu schweigen. Also, wenn ihr der Meinung seid, nicht standhaft den Lastern des Alltags gegenübertreten zu können, dann schämt euch dessen nicht, sondern begleitet mich hinaus zu meinem Wagen und lasst euch von mir das Wunderwasser geben. Es ist rein und beraubt euch keiner brauchbaren Kräfte, sondern erstickt lediglich ungebührliches Luststreben im Keime. Für Mannsvolk und Weibsvolk in gleicher Weise geeignet, ist es nur bei mir erhältlich. Nutzt die Gunst der Stunde, liebe Leute!«
Nach dieser effektvollen Rede zog Gugelmann zusammen mit einer ganzen Schar von Gästen samt Wirt hinaus zu seinem vor dem Gasthaus wartenden Gespann. Allein Margarethe, der schlummernde Bennheim sowie der ebenfalls schlummernde und zudem lustkranke Hasenstock blieben zurück.
Nur bruchstückhaft hatte die Witwe der Rede des geschäftstüchtigen Scharlatans folgen können. Sie wusste nicht, ob es tatsächlich stimmte, was er da behauptete, und der Apotheker tatsächlich derartig verseucht war. Aber eines wusste sie nun ganz genau:
Peter Hasenstock war erledigt, und dazu hatte sie nicht einmal etwas beitragen müssen. Im Grunde hätte sie darüber voller Schadenfreude und Häme sein müssen, doch dieses Gefühl wollte sich nicht einstellen. Langsam erhob sie sich, schritt auf den schlafenden Apotheker zu und bedeckte ihn. Dann wartete sie, bis die Menge zurück in die Wirtsstube kam. Margarethe suchte nicht nach ihrer Magd, sondern ließ sich von Veit Freie eine Kammer zeigen, die sie fest von innen verriegelte, um sich dann, müde und angewidert von den Erlebnissen des Tages, in das verwanzte Bett fallenzulassen.