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XXXV
Wir können ihn doch nicht in diesem Zustand zurücklassen«, wiederholte Johanna nun zum dritten Male, während Philipp damit beschäftigt war, die von Peter Hasenstock entwendeten Waren fester auf dem Handkarren zu verstauen. Zurückgekehrt war er, ganz so, wie Vinsebeck es prophezeit hatte. Ja, Philipp war zurück, hatte sogleich das Kommando übernommen und sie wieder einmal in eine brenzlige Lage gebracht.
»Soll ich seinem Leiden besser ein Ende setzen? Willst du das?«, erwiderte dieser nur kurz, während er fest an einem Seil zog, um es unter dem Wagen mit seinem Gegenstück zu verknoten.
Es begann bereits zu dämmern, sodass sich die Konturen der kleinen Waldhütte und der sie umgebenden riesigen Tannen deutlich abzeichneten. Aus der Hütte war ein klagendes, jammerndes Stöhnen zu vernehmen, ein entsetzlicher Laut, von dem Johanna sich wünschte, er möge endlich verstummen.
»Wo bleibt deine Kunst, Meister Vinsebeck?«, rief Philipp nun zur Hütte hinüber. Seine Stimme klang frivol, unberührt von den Schmerzenslauten des Mannes, der ihm doch bislang so dienstreich zur Seite gestanden hatte.
»Ich bin kein Wundarzt«, hörte man nun die verzweifelten, hektischen Worte des kleinen Mannes aus der Hütte.
»Dann bleibt mir nichts anderes übrig. Der schreit den ganzen Wald zusammen. Nicht lange, und wir haben hier eine Horde Landsknechte stehen.«
Philipp ließ das Seil nun los, welches in einem Ruck nach oben schnalzte, sodass ein Teil der Güter auf dem überladenen Wagen herunterfielen. Er stieß die sich ihm in den Weg werfende Johanna grob zur Seite und eilte schnellen Schrittes in die Hütte, in welcher er einen großen Teil seiner traurigen Kindheit verbracht hatte.
»Nein!«, schrie Johanna, als sie ihn in der Tür verschwinden sah.
Doch dann hörte sie bereits den dumpfen Laut eines Schlages, und das Stöhnen von Till Carnifex nahm ein abruptes Ende.
Margarethe schrak aus einem entsetzlichen Alptraum hoch.
Sie hatte von Peter Hasenstock geträumt. Er hatte nackt vor ihr auf dem Boden gelegen, übersät mit stinkenden Pusteln. Überall waren trunkene, schmutzige Menschen gewesen, unter ihnen auch der fahrende Bader Gugelmann. Es war ein absonderliches Szenario. Und nun, da sie erwacht war, meinte sie sogar noch den Geruch in der Nase zu haben, den Geruch nach Eiter, Schmutz, Schweiß und dem Erbrochenen versoffener Gestalten.
Doch was war das?
Wo war sie?
Margarethe schüttelte den Kopf und tastete neben sich.
Das war nicht ihr Bett.
Und dann klopfte es. Es klopfte wieder, denn durch ebendiesen Laut war sie aus ihrem kurzen, totenähnlichen Schlaf gerissen worden.
»Bitte öffnet, gute Frau!«, war von draußen die Stimme eines Mannes zu vernehmen.
Es war kein Traum gewesen. Alles war tatsächlich so geschehen, und sie lag nun in der düsteren, fensterlosen Kammer einer Landschenke.
»Gute, Frau, ich bitte Euch«, hörte sie nun erneut.
Vorsichtig stieg sie aus dem Bett und entriegelte die Türe. Sie dachte nicht darüber nach, wem sie da öffnete. Es war ihr schlicht egal, nachdem sie begriffen hatte, in welch eigentümlicher Lage sie sich ohnehin bereits befand.
Im selben Moment stürzte Götz Gugelmann, einen brennenden Kienspan in der Hand, in den Raum und schloss die Tür wieder hinter sich.
Eine Zeitlang schien er unschlüssig, wie er mit der vor ihm stehenden Frau verfahren sollte, dann steckte er den Kienspan in einen dafür vorgesehenen rostigen Halter an der Wand und packte Margarethe an den Schultern. Er schüttelte sie leicht, ganz so, als wolle er sie noch einmal aufwecken.
»Ich weiß nicht, was Ihr für ein Spiel mit dem kranken Mann aus Hameln treibt, aber mein Gefühl sagt mir, es ist kein gutes.«
»Was erlaubt Ihr Euch?«, erwiderte Margarethe nun und stieß den Mann von sich.
Der hob entschuldigend beide Hände und fuhr fort zu reden: »Er ist vor etwa einer Stunde aus seinem erbärmlichen Zustand erwacht und hat im Raume herumgeschrien, es handele sich bei Euch um eine Kindsmörderin, eine Zauberin und, mit Verlaub, um eine dreckige Hure, die es mit Missgeburten treibe. Zudem bezichtigte er Euch des Diebstahls. Ach, und Euren verstorbenen Mann klagte er der Sodomie an. Das Schweigen habe nun ein Ende, rief er immer wieder. Er habe nichts mehr zu verlieren. Dann versprach er Eurem Fuhrmann ein Säckel Gold, wenn er ihn umgehend nach Hameln brächte. Er habe mit Bürgermeister und Vogt zu sprechen.«
Margarethe setzte sich starr vor Schreck wieder auf ihre Bettstatt und starrte auf die Bretterwand, an der soeben eine dicke, platte Wanze in seliger Ruhe emporwanderte.
»Das wagt er nicht.«
»Euer Diener, dieser alte Mann, versuchte, ihn aufzuhalten. Er hat ihn niedergeschlagen. Der Wirt versorgt gerade die Beule am Kopfe des Alten.«
»Er hat Bennheim geschlagen?« Nun sprang Margarethe auf. »Ist er tatsächlich mit meinem Fuhrwerk fort?«
»Ich fürchte, ja, aber sie können nicht weit sein. Ich schlage Euch vor, dass wir ihnen gemeinsam folgen. Meine Pferde sind nicht die jüngsten, aber wohlgenährt. Könnt Ihr reiten, Frau Margarethe?«
»Ja, ich konnte es einst als junges Mädchen.«
»Nun, das ist ja noch nicht so lange her«, antwortete Gugelmann und ärgerte sich ein wenig, dass Margarethe auf dieses Kompliment so gar nicht zu reagieren schien.
»Worauf wartet Ihr?«, sagte sie nur, griff nach ihren Schuhen und ihrem Umhang und eilte, noch immer barfüßig, hinaus.
Johanna hatte auf dem langen Marsch, der sie zu Margarethe Gänsleins Rosengarten geführt hatte, nur wenig mit Philipp gesprochen. Alle Versuche, das Wort an ihn zu richten, waren fehlgeschlagen, als Antwort auf ihre Fragen hatte sie im besten Falle ein Murren erhalten.
Es war ihr nicht wohl bei dem Gedanken an das, was sie da getan hatten. Sie traute diesem Mann noch immer nicht, auch wenn der kleine, gute Vinsebeck seine Hand für ihn ins Feuer legte und ihr immer und immer wieder versichert hatte, dass Philipps Vorhaben redlich sei und allein zum Schaden Peter Hasenstocks gereiche, der eine Strafe nun wahrlich verdient habe.
Aufgelauert hatten sie ihm. Am späten Abend in der Dunkelheit. Ja, Philipp hatte sogar ein Schießeisen dabei gehabt. Auch Till Carnifex war bei ihnen gewesen. Der Widerling. Man hatte Hasenstock kein Leid zugefügt, keines außer dem, dass man ihn seiner Kleider und seiner Habe beraubte. Körperlich war bei diesem Raubzug lediglich Carnifex zu Schaden gekommen. Er war überrollt worden, überrollt von dem schweren Fuhrwerk des Hamelner Ratsherrn und Apothekers. Es war ein Wunder, dass er die Nacht überlebte. Zahllose Knochen waren regelrecht zermalmt, und die Schmerzen mussten unerträglich sein. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis er stürbe, so hatte Philipp nüchtern gesagt, und Vinsebeck hatte dem nickend zugestimmt. Dennoch war Johanna dagegen gewesen, den Verletzten einfach im Walde abzulegen und seinem Schicksal zu überlassen, genauso wie sie dagegen war, dass Philipp seinem Leiden ein schnelles Ende setzte.
Vinsebeck hatte sie verstanden. Philipp jedoch nicht.
Es war mehr der Schrecken über Philipps erneut bewiesene Kaltblütigkeit als das Mitleid mit Till Carnifex, welches sie nun traurig stimmte. Sie hätte sich so gern in diesem Mann getäuscht, hätte so gern in ihm gesehen, was Hans Vinsebeck in ihm sah, aber sie konnte es nicht. Er war böse, und das hatte er wieder einmal unter Beweis gestellt, als er dem verletzten Carnifex im Krankenbett den Schädel einschlug.
Stumm hatten sie den mit Gewürzen, Wein, Mandeln, Reis und sonstigen Luxusgütern beladenen Karren in den wohlbekannten Garten der Margarethe Gänslein gelenkt. Als Geschenk. Als Wiedergutmachung für die Hilfe bei der Befreiung Vinsebecks. So war der Plan.
Doch Johanna hielt wenig von diesem Plan und hatte bereits am Vortage einige Bedenken geäußert.
Ob dies denn die Frau Margarethe nicht in weitere Schwierigkeiten bringen könne?
Warum man ihr denn nicht einfach das ohnehin nicht benötigte Gold zurückgebe?
Auf diese Einwände Johannas hatte bloß Vinsebeck geantwortet, und das in seiner abstrusen, wenig nachvollziehbaren Manier. Von symbolischem Charakter hatte er gefaselt, Margarethes großen Scharfsinn hervorgehoben und derlei mehr. Sein einzig einleuchtendes Argument war gewesen, dass die Kauffrau nach all den Verlusten, die sie laut Philipp in den letzten Wochen erfahren hatte, nun sehr viel mehr auf eine neue Warenlieferung als auf einen Sack voller Dukaten angewiesen war.
»Denn mit Dukaten kann der Herzog seine Speisen nun einmal nicht würzen.«
Philipp jedoch hatte geschwiegen, und er schwieg noch immer. Er und Johanna hatten bereits einen guten Teil des Rückweges vom Garten der Gewürzhändlerin hin zu ihrem Versteck im Wald hinter sich gebracht. Der Morgen graute und versprach nach einer frostigen Nacht einen heiteren Maitag. Fast erschrak Johanna, als ihr stummer Begleiter plötzlich zu reden begann:
»Falls du dir Sorgen machst, ich könnte ihn erschlagen haben, dann sind diese Sorgen unberechtigt. Carnifex lebt, auch wenn es mir nicht leid um ihn täte.«
»Was hast du mit ihm gemacht?«
»Ihn in einen heilsamen Schlaf versetzt, das ist alles.«
Johanna war ein wenig erleichtert. Sie wollte ihm gerne glauben, und sie würde sich gleich von seinen Worten überzeugen, wenn sie zurück zur Hütte kamen, wo Vinsebeck auf sie wartete. Nun, da Philipp offensichtlich sein Schweigen gebrochen hatte, könnte sie es wagen, einige längst fällige Fragen an ihn zu richten.
»Warum hilfst du meiner Herrin? Hat es damit zu tun, dass ihr Gatte dir und deiner Mutter zur Seite gestanden hat?«
»Woher weißt du davon?«, fragte er in strengem Ton zurück.
»Ich lebe seit einiger Zeit mit dem Zwerg im Wald, da tauscht man schon einmal das eine oder andere Wort miteinander.«
»Er hat uns nicht geholfen.«
»Nein? Aber Vinsebeck …«
»Vinsebeck weiß gar nichts. Der Kaufmann Gänslein ist nicht weniger verachtenswert als der Apotheker Hasenstock.«
»Was haben sie getan?«
»Sie haben meinen Vater getötet, meine Mutter geschändet und mich für mein Leben gezeichnet.«
Johanna blieb nun stehen und blickte zurück zu den Mauern der Stadt, die bereits weit entfernt im Morgengrauen hinter ihnen lagen.
»Was willst du von Margarethe Gänslein?«, fragte sie nun, noch immer in Richtung Hameln blickend.
»Wiedergutmachung. Das ist alles, was ich will.«
»Also ihr Geld?«
Philipp legte leicht den Kopf zur Seite und beobachtete Johanna, welche noch immer von ihm abgewandt dastand. Jetzt drehte sie sich um und sah ihm direkt in die Augen.
»Du willst sie bloßstellen. Sie bezaubern, benutzen und dann fallen lassen. Ist es nicht so? So, wie es mit deiner Mutter gemacht wurde.«
Er biss sich auf die Unterlippe und zuckte nur mit den Schultern.
In dem Moment vernahmen beide das Rappeln und Rattern eines sich nähernden Fuhrwerks. Es bog bereits um die nächste Weggabelung und steuerte nun auf die beiden zu. Rasch packte Philipp Johanna, stieß sie die Wegböschung hinunter und sprang ihr nach. Zu ihrem Glück fielen sie weich auf altes Laub. Instinktiv schlang Johanna die Arme um Philipps Brust und horchte auf das, was nun geschehen würde.
Hatte man sie bemerkt?
Bald waren das Klappern der Hufe und das Rollen der Räder verklungen, man hatte die beiden nicht gesehen. Aber schon näherte sich erneut das Geräusch galoppierender Pferdehufe. Auch diese Reiter preschten vorüber. Es war ihnen unmöglich, die beiden so tief neben dem Wegesrand verborgenen Menschen zu entdecken.
»Können wir weiter?«, flüsterte Johanna, leicht den Kopf hebend. Philipp war noch immer dicht bei ihr und hatte seinerseits den Kopf nach oben gestreckt, um besser lauschen zu können, was auf der nahen Straße vor sich ging.
»Die Stadttore sind noch lange nicht geöffnet. Warum hatten die es so eilig?«, fragte er laut, jedoch eher an sich selbst gerichtet.
Johanna hörte ihm nicht zu. Sie war verwirrt. Verwirrt darüber, wie sehr sie es genoss, ihm so nahe zu sein, seinen wunderbaren Geruch einzuatmen, seinen warmen Körper zu spüren. Ohne es zu beabsichtigen, schmiegte sie sich noch näher an ihn heran. Sie bemerkte diese Annäherung ihrerseits gar nicht, er jedoch nahm es durchaus wahr und senkte nun den Kopf.
Sacht fasste er unter ihr Kinn und schaute sie lange an.
Johanna kannte diesen veränderten Ausdruck im Gesicht eines Mannes, sie kannte ihn nur zu gut. Bei ihrem Mann Konrad hatte ihr dieser Blick mitunter gefallen, mitunter war er ihr leidig gewesen, beim Ritter Eicheck hatte er sie angewidert, ihr Ekel bereitet. Jetzt aber war sie weit entfernt davon, Unlust oder gar Abscheu zu empfinden. Sehr weit entfernt. Sie schloss die Augen und wartete, musste jedoch nicht lange ausharren, denn schon spürte sie seine Lippen auf den ihren, erst vorsichtig, dann aber rasch fordernder werdend.
Es sollte sein. Es musste in diesem Moment sein.
Sie durfte nicht nachdenken.
Nicht darüber, wer dieser Mann war.
Nicht darüber, ob er gut oder böse sein mochte.
Nicht darüber, dass er der Gespiele ihrer Herrin gewesen war.
Sie dachte nicht an Unrecht, an Schuld, sie dachte an gar nichts mehr.
Das Einzige, was sie dachte, als sie kurze Zeit später mit klopfenden Herzen und noch immer schwer atmend im Laub lagen, er seinen Kopf auf ihr gelöstes Mieder senkte und sie durch seine braunen Locken zu streicheln begann – das Einzige, was sie dachte, war, dass es lohnenswert war, wenigstens für einen Moment glücklich sein zu dürfen.
Unweit dieses innigen Zusammenseins fand eine weitere, weniger innige, aber dafür nicht minder aufwühlende Zusammenkunft statt. Eine, die Philipp und Johanna sehr interessiert hätte, wäre ihnen aufgefallen, um wen es sich bei dem Insassen der Kutsche und den beiden ihr folgenden Reitern, vor denen sie sich in der Böschung verborgen hielten, gehandelt hatte.
Margarethe Gänslein hatte seit vielen, vielen Jahren nicht mehr auf dem Rücken eines Pferdes gesessen. Und das bereute sie an diesem eigentümlichen Morgen zutiefst. Nicht etwa, weil das Reiten ihr schwerfiel – nein, im Gegenteil, es war ein wunderbares, ein herrliches Gefühl, im Morgengrauen über Felder und Wiesen zu preschen, den Wind in den offenen Haaren zu spüren und die frische, reine Luft der unberührten Natur zu atmen.
Ja, herrlich hätte es sein können, hätte ihr nicht die unangenehme Aufgabe im Nacken gesessen, den elenden Hasenstock einzuholen und von seinem mörderischen wie gleichwohl selbstmörderischen Vorhaben abzubringen. Margarethe und Götz Gugelmann benötigten, nachdem sie die beiden Kutschengäule des fahrenden Baders eigenhändig aus dem Stall des Wirtshauses geholt und gesattelt hatten, mehrere Meilen, bis sie endlich das Fuhrwerk des untreuen Fritz Mehlmann vor Augen hatten. Nicht mehr lange, und die Mauern der Stadt wären bereits zu sehen gewesen.
Der Mann, welchen sie bislang immer hochmütig einen Scharlatan geschimpft hatte – er ritt vor ihr, sodass Margarethe ihn ständig im Blick hatte. Und dieser Anblick gefiel ihr. Ja, es hatte wieder einmal einer ungewöhnlichen Situation und einer misslichen Lage bedurft, damit Margarethe Gänslein es zuließ, ihren falschen Stolz zu überwinden, und sich eingestand, empfänglich für ganz natürliche, angenehme Empfindungen zu sein.
»Da sind sie«, rief Gugelmann nun und drehte sich nach Margarethe um. Ihr Haar hatte sich durch den Ritt völlig gelöst, die Wangen waren von der ungewohnten Anstrengung gerötet, sie wirkte frisch und war schöner denn je, auch wenn Gugelmann schon immer ein stiller Verehrer der Anmut dieser Unnahbaren gewesen war.
»Da sind sie«, wiederholte er, um seine unangebrachten Gedanken zu vertreiben und sich allein auf die anstehende Aufgabe zu konzentrieren.
»Ich werde das allein erledigen«, antwortete Margarethe und gab dem alten Tier, dem bereits der Schaum vorm Maul stand, noch einmal die Sporen.
Nicht lange, und sie hatte die Kutsche eingeholt.
»Haltet an, Mehlmann«, rief sie dem Fuhrmann zu, der gehörig beim Anblick der Frau erschrak, welcher er bei Nacht und Nebel einfach so davongefahren war. Sofort zog er an den Zügeln und brachte seine kräftigen Pferde zum Stehen. Sein Gesicht verriet, wie peinlich es ihm war, nun so rasch und unerwartet in Erklärungsnot geraten zu sein. Doch als er den Mund öffnete, um eine Ausrede vorzubringen, winkte Margarethe nur ab und sagte: »Mit Euch werde ich später noch ein Huhn zu rupfen haben. Ist Hasenstock im Wagen?«
Sie musste die Antwort Mehlmanns nicht abwarten, denn im selben Moment streckte Hasenstock bereits seinen ungekämmten, ungeschminkten Kopf aus der Luke der geschlossenen Kabine des Fuhrwerks. Fast hätte Margarethe ihn nicht erkannt. Denn auch wenn sie ihn am gestrigen Abend bereits in diesem erbärmlichen Zustand gesehen hatte, so stand ihr dennoch in Gedanken immer der gestriegelte und gepuderte, eitle Pfau vor Augen.
»Wäret Ihr so freundlich und gebt acht, dass der gute Fuhrmann Mehlmann nicht ein zweites Mal türmt?«, wandte sie sich nun an den ebenfalls eingetroffenen Gugelmann, der ihr freundlich zunickte, dabei keck seine bunte Kopfbedeckung lüftete und dann, ganz wie ein erfahrener Galan, der Dame zur Hilfe eilte, indem er nach den Zügeln der Kutschengäule griff. Der Fuhrmann machte nicht einmal eine Geste des Widerstandes, ganz zu schweigen, dass er ein Wort hätte verlauten lassen.
Derweil stieg Margarethe von ihrem keuchenden, verschwitzten Pferd herunter und öffnete, ohne um Einlass zu bitten, die Türe der Kutschkabine. Schwungvoll stieg sie hinein und setzte sich dem verdutzten Hasenstock gegenüber.
Sie blickte ihn eine ganze Weile schweigend an, während er mit zitternder Unterlippe Unverständliches murmelte, von dem Margarethe lediglich Brocken wie: »Unverschämte Dirne« – »Hochmut kommt vor dem Fall« – »Die Wahrheit muss ans Tageslicht« und »unrechtmäßig erworbener Reichtum« verstand.
Erst als ihm bereits weißflockiger Speichel aus den Mundwinkeln und übers Kinn rann und er ihn sich mit seiner kleinen, gepflegten, nun jedoch sehr schmutzigen Hand fortwischte, ergriff Margarethe das Wort. Sie stellte nur eine Frage:
»Wie ist es, Hasenstock, wenn man einen geliebten und liebenden Menschen tötet?«
»Was?«, fragte er zurück und machte dabei ein solch dummes Gesicht, dass Margarethe fast lachen musste.
»Ich spreche von Eurem Onkel. Seid gewiss: Mir ist alles bekannt.«
»Ich, ich …«, stammelte er. »Lüge, infame Lüge«, rief er dann und formte seine Hände bereits so, als wolle er die verhasste Frau im nächsten Moment würgen.
»Ihr seid verwirrt und müde, Hasenstock, zudem sehr krank, wie mir scheint. Fahrt nun nach Hause, legt Euch ins Bett, lasst Euch von Eurer Frau pflegen, und wenn Ihr erholt seid, werde ich Euch einen Besuch abstatten. Hütet Euch jedoch vor kopflosem Handeln. Es hätte wenig Zweck, dem Rat Dinge über mich zu berichten, in die Ihr selbst verwickelt seid.«
Nun wurde er ein wenig ruhiger. Seine verzerrten Züge entspannten sich, ja, er versuchte sogar, sein widerliches Lächeln zurück in das mit roten Flechten übersäte Gesicht zu bringen.
»Also schließen wir doch einen Pakt? Wir beide? Du und ich?«
Margarethe blieb ruhig, auch wenn sie ihm am liebsten vor die Füße gespuckt hätte.
»Ja«, sagte sie nur. »Ich werde Euch besuchen.«
Dann beeilte sie sich, aus der Kutsche auszusteigen. Kurz nachdem sie die Türe hinter sich geschlossen hatte, lief sie zum nahen Straßengraben und ging dort in die Hocke. Sie hatte nicht gefrühstückt, aber dafür am gestrigen Abend reichlich Wein getrunken. Der Gestank in dem engen Kutschenraum hatte nun sein Übriges getan. Ihr war speiübel, nicht zuletzt deshalb, weil sie fürchtete, sich tatsächlich auf ein heimliches Händel mit diesem ekelerregenden Menschen einlassen zu müssen.
Das Fuhrwerk setzte sich nun wieder langsam in Bewegung.
»Ich werde dir einen angemessenen Empfang bereiten, meine Liebe«, rief Hasenstock noch aus der Luke heraus, und seine Stimme klang aufrichtig fröhlich, erleichtert, ja, ganz so wie die eines Kindes, das sich von seiner Mutter ein besonderes Geschenk erhofft.
»Ist alles in Ordnung?« Götz Gugelmann stand nun hinter Margarethe und legte leicht eine Hand auf ihre Schulter.
»Ja, es ist nur der Wein.«
»Darf ich Euch nun nach Hause begleiten?«
Margarethe drehte sich um und griff nach seiner Hand, die er ihr reichte, um ihr wieder auf die Beine zu helfen.
»Es reicht aus, wenn Ihr mich bis zu meinem Garten bringt, der vor den Toren der Stadt liegt. Dort werde ich noch ein wenig verweilen und mich sammeln. Es liegen aufwühlende Stunden hinter mir.«
»Es ist mir eine Ehre«, sagte Gugelmann und verneigte sich tief vor der Frau. Dennoch vermittelte er dabei in keiner Weise den Eindruck von Unterwürfigkeit. Im Gegenteil. Ein wenig erinnerte Margarethe diese Situation an ihre erste Begegnung mit Philipp.
Da will jemand Eindruck schinden, ohne Ehrliches im Schilde zu führen, dachte sie. Dennoch konnte sie sich nicht dagegen wehren, dass ihr die Situation gefiel.