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XLIV

Till Carnifex überlebte die beim Überfall auf Peter Hasenstock erlittenen Knochenbrüche um zehn Tage. Sein Tod kam grausam und schleichend in Form dessen, wogegen selbst der erfahrenste Medicus machtlos war: Wundbrand.

Allen Bewohnern der kleinen, entlegenen Hütte – und ihrer waren außer Carnifex vier – erschien sein Ableben wie eine Erlösung, auch wenn Margarethe Gänslein die Einzige war, die dies auszusprechen wagte.

»Er hat ohnehin nur unnötig gelitten, und zudem: Wer weiß, was dieser Mensch mit uns angestellt hätte, wenn er wieder genesen wäre«, meinte sie, während sie alle reglos um den Leichnam standen.

»Wo seine Seele wohl gerade sein mag?«, fragte Johanna, die leere Hülle dieses einst so grausamen Mörders betrachtend. Friedlich sah er aus und gar nicht mehr so widerlich und abstoßend wie zu Lebzeiten.

»Der lässt das Fegefeuer aus. Da geht die Wanderung gleich nach ganz unten«, bemerkte der kleine Vinsebeck, vergaß aber nicht als Verfechter von Wissenschaft und Erfahrung anzufügen: »Wenn man denn an derlei Dinge glauben will.«

»Na, na, Vinsebeck, hüte deine gottlose Zunge«, rügte ihn Margarethe. Ihre Stimme klang, obgleich sie vor einem jüngst Verstorbenen standen, fast unangemessen frivol. Ohnehin strahlte sie seit einigen Tagen etwas Frisches, Junges, Leichtes, ja, mitunter sogar Lustiges aus. Und auch wenn Johanna sich verbot, über den Grund dieser Veränderung nachzudenken, so ahnte sie doch, dass ebendieser Grund im gleichen Moment unmittelbar neben der Witwe Gänslein stand und es genoss, leicht und vermeintlich unbemerkt mit seiner rechten Hand über die Hüften der Kauffrau zu streichen.

Götz Gugelmann benahm sich wie ein kopfloser Jüngling. Er hatte offenbar ganz vergessen, dass er einem wichtigen Gewerbe nachging und dass irgendwo da draußen, außerhalb des Waldes, sein Knecht mit dem Wagen auf ihn wartete und wahrscheinlich, solange sein Meister fort war, alle fünfe gerade sein ließ. Wie ein Schatten verfolgte der fahrende Heiler Margarethe, und so sehr diese sich anfänglich geziert hatte, so sehr gewann Johanna seit zwei Tagen den Eindruck, dass das Eis mit einem Male gebrochen zu sein schien.

Vinsebeck und sie sprachen nicht darüber, aber sie wechselten durchaus eindeutige Blicke, und auch jetzt schaute der Zwerg wieder mit einem Auge zwinkernd zu Johanna herüber. Sein Gesicht verriet, wie amüsant er es doch fand, dass diese beiden Turteltauben tatsächlich glaubten, die anderen bemerkten ihre zarten Spielchen nicht.

»Dann wollen wir mal. Ich spreche jedoch kein Gebet für diesen Wüstling«, forderte der kleine Mann nun die anderen auf, sich an die traurige Pflicht des Begräbnisses zu machen.

Es war schon spät am Abend, die Sonne begann bereits unterzugehen. Bald würde der Wald in völliger Dunkelheit liegen.

»Ja, beeilen wir uns«, meinte nun auch Götz Gugelmann, ließ von seiner Nachbarin ab und griff weniger sanft dem toten Till Carnifex unter die Schultern, während die beiden Frauen seine Füße nahmen. Hans Vinsebeck fühlte sich verpflichtet, Schaufel und Fackel zu tragen.

So zog nun dieses eigentümliche Gespann durch den Wald und verschwand nach nur wenigen Augenblicken aus dem Blickfeld Philipps, der es bislang nicht gewagt hatte, sich zu zeigen, und es vorzog, hinter der Hütte verborgen zu bleiben.

Er würde nun zu einem weiteren Streich ausholen müssen. Und ihnen diesen Streich zu erklären, dazu verspürte er wenig Lust und noch weniger Mut. Besser war es, sie vor vollendete Tatsachen zu stellen und heimlich zu verschwinden.

»Ein Vaterunser sollte uns seine Seele dennoch wert sein«, bemerkte Johanna, als sie weitab von ihrer Behausung den Körper des Mörders Carnifex verscharrt hatten.

»Ja, lass es uns sprechen«, meinte auch Margarethe. Und dann murmelten sie alle vier leise und in lateinischen Worten das Paternoster, so wie sie es schon hunderte, vielleicht tausende Male in der Kirche vernommen hatten und längst auswendig kannten. Allein Margarethe und Vinsebeck verstanden die Worte, Johanna und Gugelmann sprachen für sie Unverständliches vor sich hin. Dennoch herrschte eine seltsam andächtige, tiefgreifende Stimmung, und das nicht zuletzt deswegen, weil der Wald während der Grablegung Till Carnifex’ plötzlich rötlich erleuchtet schien.

Die vier nahmen dieses Licht zunächst nur schemenhaft und unbewusst wahr. Erst als ein eindeutiger Geruch und ein ebenso eindeutiges Knistern hinzukamen, war ihnen allen plötzlich schlagartig klar, dass dieser rötliche Schein nichts mit inbrünstiger Andacht, sondern vielmehr mit einem durchaus irdischen Feuer zu tun hatte.

»Die Hütte brennt«, bemerkte Gugelmann, wie aus einem Traum erwacht, und rannte los.

»Zwecklos«, rief ihm Vinsebeck nach. »Zwecklos.«

Er musste wissen, wovon er sprach, denn mit Feuer im eigenen Heim kannte sich niemand von ihnen so gut aus wie er.

»Es ist besser so. Wir hätten ja nicht ewig hier bleiben können.«

Das waren Margarethes abgeklärte Worte, als sie vor der Asche ihrer bescheidenen Notunterkunft standen.

»Zum Glück war dort drinnen nichts von Wert«, meinte nun auch Johanna. Selbst sie war ein wenig erleichtert, nun gezwungen zu sein, diesen mit zerstörter Hoffnung und düsteren Erfahrungen verbundenen Ort verlassen zu müssen.

»Ja, es wird wahrlich Zeit, dass auch ich wieder meinem ehrenwerten Geschäft nachgehe«, fügte Götz Gugelmann an, allerdings ein wenig wehmütig.

Und Hans Vinsebeck machte nur: »Mhmmmmm.«

War er hier der Einzige, der hinter diesem Brand keinen Unfall oder Zufall erblickte? War er der Einzige, der eindeutig erkannte, dass man zur Beschleunigung des Feuers Öl verwendet hatte und somit die Hütte nicht ohne Zutun so rasch und zerstörerisch in Flammen aufgegangen war? War er der Einzige, der vermutete, ja, wusste, wer hinter dieser Tat steckte?

Ja, offenbar war er der Einzige. Oder aber die anderen wagten es ebenso wenig wie er, ihre Vermutungen offen auszusprechen.

Nun, immerhin schienen sie alle einen Ausweg zu kennen. Der Leutbescheißer Gugelmann würde damit fortfahren, Leute zu bescheißen, der Gewürzhändlerin Margarethe Gänslein würde es irgendwie wieder gelingen, mit Gewürzen zu handeln, und die Dienstmagd Johanna würde gewiss wieder ihren Dienst im Hause Gänslein aufnehmen dürfen. Für diese drei käme alles ins Lot.

Nicht aber für ihn, für den kleinen Apotheker Vinsebeck. Er war ein Habenichts, und nicht nur das, er war zudem mausetot. Ja, er verfügte sogar über ein Grab auf dem Hamelner Kirchhof. Er konnte keineswegs, nicht einmal über Umwege, in sein altes Leben zurückkehren. Für ihn stellte der Brand dieser Hütte eine Katastrophe dar.

Oder etwa nicht?

Paracelsus, schoss es ihm mit einem Male durch den Kopf.

Ja, er würde es endlich machen wie der große Meister Paracelsus. Er würde das unstete Wanderleben eines wissensdurstigen Genies führen. Er würde nach Italien gehen, auf den Spuren Leonardo da Vincis wandeln, Venedig, Florenz, Rom besuchen. Er würde über die Berge nach Avignon ziehen, nach Paris, vielleicht sogar wieder südwärts ins Königreich Spanien. Dort – ja, selbst das traute er sich in diesem Moment zu – würde er dann ein Schiff besteigen und die Neue Welt bereisen. Den Wilden im Urwald wollte er begegnen, mit ihren als Hexenmeister bezeichneten Medizinmännern sprechen.

Ach, was er nicht alles machen würde.

Innerlich erregt, freudig und traurig zugleich, stapfte er um die rauchenden Trümmer ihrer Hütte herum. Marias Hütte.

»Auch deine Heimat werde ich besuchen, geliebte Maria. Ja, in den Bergen werde ich leben. Vielleicht für immer, wer weiß. Und wenn ich mich dort als goldschürfendes Venediger Manndl verdingen müsste, es wäre mir lieber, als diese Hütte neu zu errichten und weiterhin im Dunstkreis dieser mit so vielen bittersüßen Erinnerungen behafteten Stadt zu hausen. Was will ich noch hier, Maria? Was will ich noch hier?«

Seine Stimme wurde unmerklich lauter und lauter, ja Letzteres rief er fast aus. Aber Johanna war die Einzige, die die Worte des kleinen Mannes vernommen hatte.

Sie kam soeben von einer ganz bestimmten Stelle im Wald zurück, von einem Platz, an dem sie ihn vermutet, aber leider nicht gefunden hatte. Ihn, der, das wusste sie, für diese notwendige Zerstörung verantwortlich war.

»Ein Venediger Manndl?«, fragte sie nun sanft. Sie wollte den aufgebrachten Vinsebeck nicht erschrecken, aber dennoch war es ihr wichtig, mit ihm zu sprechen, und vor allem, ihm etwas zu zeigen.

Er drehte sich um. Tränen standen in seinen kleinen Augen, aber sein faltiges Gesicht zeigte eine fast schon groteske Entschlossenheit.

»Das sind kleinwüchsige Goldsucher aus Venedig. Findige Zwerge, die in den Alpen Goldadern aufspüren und die Fundstücke in Rucksäcken zurück in die Lagunenstadt bringen.«

»Was Ihr nicht alles wisst«, antwortete Johanna mit einem liebevollen Lächeln auf den Lippen. »Kommt, ich will Euch etwas zeigen.«

Sie führte Vinsebeck fort von der nur noch schwelenden Brandstelle, während Margarethe und ihr Begleiter damit beschäftigt waren, die durch den Brand verschreckten Pferde einzufangen und zu beruhigen.

»Dort an dem Ast«, meinte Johanna, als sie bei einer alten, verwachsenen Kastanie angekommen waren. Sie reckte die mitgebrachte Fackel mit ausgestreckten Armen weit nach oben.

Vinsebeck schaute hinauf und erblickte an einem toten, blattlosen Ast einen Sack.

»Der war vorhin noch nicht da«, sprach sie nun weiter. »Ich komme mehrmals täglich hierher, und darum kann ich das mit Sicherheit sagen. Erkennt Ihr den Sack, Meister Vinsebeck?«

Er legte seinen kleinen Kopf noch weiter in den Nacken und blickte angestrengt empor.

»Es ist zu dunkel, aber ich vermute, es ist der Beutel mit meinem Lösegeld, nicht wahr?«

»Holen wir ihn herunter.« Johanna reichte ihm die Fackel und kletterte geschickter, als sie es selbst für möglich gehalten hätte, zu dem Ast hinauf, um mit einem langen Stock, den sie von dem teils morschen Baum abbrach, den Beutel zu lösen. Schwer fiel dieser zu Boden, unmittelbar vor die Füße des Zwerges.

»Er hat das Gold hier gelassen«, flüsterte Vinsebeck nun. »Und eine Botschaft dazu.« Dann griff er nach dem eingerollten Stück Papier, das sich in dem vom Aufprall geöffneten Säckchen befand.

»In der Hoffnung«, las er mit gedämpfter Stimme, während Johanna, wieder vom Baum herabgestiegen, die Fackel hielt. »In der Hoffnung, dass mein lieber, unbenannter Freund und die Frau, welche mein Glück hätte sein können, diesen Beutel finden, verwahre ich ihn an einem mir wichtigen Ort. Verfahrt mit diesem Gelde nach eurem eigenen Gutdünken. Ich rate euch jedoch, von dannen zu ziehen, so wie auch ich es nun tun werde. Alles, was geschehen ist, hat geschehen müssen. Gezeichnet, P.«

Stille.

Beide standen sie lange dort, Johanna die Fackel in der Hand, Vinsebeck den Brief.

Dann sagte sie schließlich mit leiser, enttäuschter Stimme: »Ich nehme das Geld nicht.«

»Aber ich«, flüsterte Vinsebeck grinsend. »Zumindest so viel, wie ich benötige, um sicher reisen zu können. Margarethe wird das gewiss verstehen. Immerhin war das Geld ja ursprünglich für mich bestimmt gewesen.«

Das waren die letzten vernommenen Worte des kleinen Hans Vinsebeck. Von da an wurde er nicht mehr gesehen. Er verschwand noch in derselben Nacht und hinterließ Johanna und Margarethe lediglich folgende mit Kohle auf ein Holzbrett geschriebene Botschaft:

»Zögert nicht, mit Eurer Virtu die Fortuna am Schopfe zu packen!«

Margarethe hatte nur amüsiert den Kopf geschüttelt, innerlich jedoch war sie bewegt und fast ein wenig überfordert mit den von verschiedenen Seiten immer wieder auf sie einströmenden Aufforderungen, endlich ihr Glück in die Hand zu nehmen.

Als die beiden Frauen am Morgen den Heimweg nach Hameln antraten, sprachen sie lange über den verschwundenen Zwerg. Johanna erzählte ihrer Herrin sogleich, was geschehen war und auch, dass Vinsebeck sich an dem Lösegeld bedient habe.

»Eine Handvoll Münzen hat er genommen, den Rest haben wir vergraben. Hinter einer alten Kastanie.«

»Da kann es erst einmal verbleiben. Wer weiß, wann man dieses Notgroschens bedarf«, erwiderte die Kauffrau nur lapidar. Sie war alles andere als zornig auf ihren kleinen Freund. Im Gegenteil, sie schien sich sogar über sein abenteuerliches Vorhaben zu freuen.

»Auf Reisen zu gehen ist das Beste, was er in seiner Lage machen kann. Besser wahrscheinlich als das, was ich nun im Schilde führe, Johanna«, meinte sie und spähte etwas beklommen nach den bald sichtbar werdenden Mauern ihrer Heimatstadt aus.

»Gewiss hat sich alles zum Guten gewendet, werte Herrin«, versuchte Johanna Margarethe zu beschwichtigen. Sie hätte ihr gern die Furcht genommen, nach Hameln zurückzukehren, so wie Margarethe ihr, Johanna, zuvor die Furcht genommen hatte, als sie ihr erzählte, dass der Tod des Wachmanns in der Nacht von Johannas und Philipps Flucht niemand anderem als den Gebrüdern Bienenfleiß angekreidet worden war. Sie waren bereits in Gewahrsam genommen und sogar zum Galgen geführt worden. Jedoch – zu Johannas Gewissenserleichterung – nicht in Hameln und auch nicht ausschließlich wegen des vermeintlichen Mordes an dem Landsknecht. Der Herzog selbst hatte Gericht über sie gehalten und sie wegen zahlloser Raubüberfälle auf seinen Wegen und Straßen dem Henker übergeben. Johanna musste also keine Sorge haben, wieder durch das Stadttor zu ziehen.

Nicht so Margarethe.

»Hätte ich dummes Weib doch den Gugelmann nicht fortgeschickt. Er wäre nun als Vorbote sehr brauchbar gewesen«, schimpfte sie nun leise vor sich hin, während Johanna ihrer Herrin einen skeptischen Seitenblick zuwarf.

Es war dieser Frau offenbar schier unmöglich, ihren falschen Stolz ganz und gar zu überwinden. Nicht nur, dass sie dem ihr bis dato treu zur Seite stehenden Gugelmann vor wenigen Stunden schroff zu verstehen gegeben hatte, dass sie seine Hilfe nicht weiter benötigte, und es sogar vorzog, mit Johanna den Heimweg zu Fuß anzutreten. Nein, nun redete sie auch vor ihrer Magd weiterhin so von dem Medicus, als habe es sich bei ihm all die vielen Tage um nichts weiter als eine Gesindekraft, einen Dienstleister, gehandelt. Und welche Dienste Gugelmann ganz offensichtlich geleistet hatte, darüber waren sich Vinsebeck und Johanna stets im Klaren gewesen. Doch dass Margarethe Gänslein dies tatsächlich derart kühl betrachtete, wie es auch jetzt noch den Anschein hatte, das konnte und wollte Johanna nicht glauben. Deshalb ließ sie mit ihrem verwunderten Blick auch nicht von Margarethe ab, was diese nach einer Zeit sichtlich verwirrte.

»Was starrst du so?«, fragte sie schließlich.

»Ich wundere mich lediglich«, gab Johanna zurück.

»Worüber wunderst du dich?«

»Über den Eindruck, den Ihr von dem Wanderarzt Gugelmann habt.«

»Woher willst du wissen, wie mein Eindruck von ihm ist?« Jetzt klang die Stimme der Herrin gereizt, und Johanna wusste, dass sie sich auf Glatteis begab. Dennoch sprach sie weiter.

»Er hat Euch liebgewonnen, und ich dachte …«, sie stockte einen Moment, nahm dann aber ihren Mut zusammen und sagte: »… und ich dachte, auch Ihr hättet ihn liebgewonnen.«

»Was wagst du da zu behaupten?«, fuhr Margarethe ihre Magd nun an, aber ihr Gesicht verriet dabei so eindeutig, wie sehr Johanna im Recht war, dass diese nicht anders konnte, als ihre Herrin verhalten, aber dennoch frech von der Seite anzugrinsen.

»Ich mag ihn, das muss ich zugeben«, sagte Margarethe nun schnippisch und legte dabei ihren Kopf entschieden in den Nacken. »Aber dabei wollen wir es belassen. Und zudem halte ich es nicht für angemessen, mit dir über meine … meine … meine Herzensangelegenheiten zu reden.«

»Oh«, machte Johanna nur und wiederholte leise das Wort »Herzensangelegenheiten«.

Margarethe wurde plötzlich über und über rot.

»Ich, ich … ich meinte natürlich …«, stammelte sie. Dann fing sie sich: »Ach, was. Weshalb sollte ich mich rechtfertigen. Erzähl du mir lieber von dir und Philipp.«

Nun war es an Johanna zu erröten. Sie hatte bislang vermieden, mit Margarethe über Philipp und insbesondere über sich und Philipp zu sprechen. Zu groß war ihr schlechtes Gewissen, und aus diesem Grunde freute sie sich sehr, dass es ihrer Herrin offenbar gelungen war, sich rasch zu trösten. Doch ebenso wenig, wie Margarethe über ihre unstandesgemäßen Erfahrungen mit einem fahrenden Medicus sprechen wollte, wollte Johanna an ihre bittersüßen Erlebnisse mit Philipp erinnert werden.

»Ist das da drüben nicht Justus Carnifex?«, rief die Magd schließlich, erleichtert darüber, ablenken zu können. Johanna war sich nicht sicher, ob es sich bei der Gestalt, die dort langsam, eine schwere Last hinter sich herziehend, über den kreuzenden, breiteren Weg schlich, tatsächlich um den gutmütigen Scharfrichter handelte, aber der Silhouette nach hätte er es sein können.

Nun wurde auch Margarethe aufmerksam.

»Wenn er es ist, dann solltest du zu ihm gehen und ihn aushorchen«, flüsterte sie aufgeregt und verbarg sich selbst rasch hinter einem großen Felsbrocken.

»Was sage ich ihm über seinen Bruder?«, fragte Johanna, noch immer den Blick auf den sich langsam entfernenden Menschen gerichtet.

»Du bist klug genug, um selbst zu wissen, was du tust. Mach es abhängig vom Verlauf der Unterhaltung. Sei aber gut zu ihm, er ist ein freundlicher Bursche. Wichtig ist auch, in Erfahrung zu bringen, was Hasenstock während meiner Abwesenheit getrieben hat. Finde es bitte heraus«, flüsterte Margarethe.

War es eine Traumgestalt?

Justus Carnifex traute seinen Augen nicht, als plötzlich sie, Johanna, seinen Namen rief und dann auch noch eilig auf ihn zurannte. Wie sehr hatte er sich genau das gewünscht. Tagelang war er nun auf der Suche nach ihr gewesen, hatte versucht, ein Lebenszeichen von ihr zu finden. Vergeblich. Und nun kam sie einfach so dahergelaufen – aus dem Nichts. Er war für einen kurzen Moment versucht, die Arme auszubreiten und sie leidenschaftlich in Empfang zu nehmen. Doch er wagte es nicht. Stattdessen hielt er das Bein des verendeten Hundes, den er soeben im Straßengraben gefunden hatte, noch fester umklammert und starrte ihr ungläubig entgegen.

»Tatsächlich, Ihr seid es, Carnifex«, rief sie ihm zu, sobald sie ihn erkannt hatte.

Konnte das sein? Hatte auch sie nach ihm gesucht?

»Ihr lebt, Johanna«, stotterte er nur.

»Es ist gut, dass ich dich treffe. Können wir miteinander reden?«

Sie schien aufgeregt, ihr Gesicht war stark gebräunt, ganz so wie bei einer Bäuerin, das Haar war unbedeckt und ebenfalls von der Sonne gebleicht, die Ärmel ihres Kleides waren hochgeschlagen und legten den Blick auf ihre schlanken Arme frei. Wunderschön war sie.

Mit schlotternden Knien ging er ein Stück neben ihr her, noch immer den Hundekadaver durch den Staub nach sich ziehend. Er genoss diesen Moment sehr, und noch mehr genoss er, als sie sich im Schatten eines Baumes nebeneinander auf einem im Gras liegenden, großen Ast setzten. Es war ein warmer, sonniger Tag, die Vögel sangen, die Schmetterlinge tanzten, und Justus Carnifex war ein glücklicher Mensch. Zumindest war er es, solange er zu hoffen wagte, dass sie seinetwegen neben ihm saß und mit ihm sprach. Doch bald schon musste er feststellen, dass es ihr ausschließlich darum ging, ihn auszuhorchen. Sie tat es auf eine freundliche, ehrliche, liebenswürdige Art, aber dennoch war er enttäuscht, antwortete aber, um ihre Nähe noch weiterhin auskosten zu können, gerne auf ihre Fragen.

Er erzählte ihr alles. Über den schrecklichen Leichenfund in der Weser, davon, dass nur er, die Begine Regine und die Witwe Mechthild wussten, dass es sich bei der Toten um die Köchin Immeke handelte. Er erzählte ihr, dass er die Tote längst heimlich und auf Anweisung Mechthilds vom Schindanger hin in den Rosengarten der Kauffrau Gänslein geschafft und dort vergraben habe. Er erzählte ihr auch, dass er dies aus schlechtem Gewissen getan habe, da er annähme, niemand anders als sein Bruder habe die arme Frau eines Schlüssels wegen ermordet. Er erwähnte zudem, wie sehr er befürchtet hatte, dass Till auch Johanna etwas angetan haben könnte. Dann, nachdem Johanna eine Weile still vor sich hin geweint und er sich hatte zurückhalten müssen, sie nicht in den Arm zu nehmen, berichtete er auch davon, dass sein Bruder und Peter Hasenstock zusammen Geschäfte gemacht hätten, dass Hasenstock nun aber gestorben sei. Er habe während eines Aufenthaltes im Frauenhaus einen Blutsturz erlitten. Sein Haus und die Apotheke seien sogleich dem Rat übergeben worden, da er darauf mehrere Renten bei der Stadt Hameln aufgenommen hatte, woraufhin seine junge Witwe nun mittellos dastehe. Er wusste davon zu berichten, dass man sich in der Stadt über das lange Fortbleiben der Margarethe Gänslein wundere, dass man sich aber erzählte, sie sei auf einen Hansetag nach Lübeck gereist und werde erst in einigen Tagen zurückerwartet. Auf die Nachfrage Johannas, ob irgendeine Missgunst oder trübe Stimmung in Hameln bezüglich der Kauffrau herrsche, zuckte er nur mit den Schultern und antwortete, dass er nichts dergleichen mitbekommen habe.

Danach saßen sie noch lange schweigend nebeneinander.

Johannas Gedanken waren bei Immeke und auch bei Till Carnifex, dessen grausamer Tod ihr nun noch weniger zu Herzen ging als zuvor.

»Dein Bruder ist gestorben«, sagte sie schließlich.

»Was?«, fragte er ungläubig.

»Hasenstock hat ihn mit seinem Wagen auf der Straße nach Lemgo überfahren.«

»Wie konnte das sein?«

»Es ist eine lange Geschichte. Dein Bruder war kein guter Mensch, aber dennoch solltest du wissen, dass wir alles versucht haben, um sein Leben zu retten.«

»Wer ist wir?« Carnifex stand unter Schock.

»Das kann ich dir nicht sagen. Aber wenn du magst, führe ich dich bald einmal zu seinem Grab.«

Sie legte eine Hand auf die starke, muskulöse Schulter des jungen Mannes.

»Ich danke dir für alles. Jetzt wollen wir beide erst einmal die schlimmen Nachrichten, die einer dem anderen überbracht hat, verkraften«, sagte Johanna leise.

Er starrte zu Boden und nickte.

Johanna erhob sich und ging, sich noch einmal nach Justus Carnifex umblickend, zurück zu der bereits lange in ihrem Versteck wartenden Margarethe.

Im Grunde war alles, was sie ihrer Herrin nun zu berichten hatte, entsetzlich. Alles. Auch wenn das Resultat Margarethe Gänslein erlaubte, ohne Bedenken wieder nach Hameln zurückkehren zu können.