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XLVI
Der Stiftsherr Vestiarius zitterte am ganzen Leib. Johanna verspürte unglaubliches Mitleid mit ihm, mehr noch als mit Margarethe Gänslein, die ausgesprochen gelassen und ruhig wirkte. Man mochte fast annehmen, dass sie regelrecht erleichtert war – ganz so, als sei eine enorme Last von ihren Schultern genommen.
Und auch die Base Mechthild reagierte anders auf das skandalöse Urteil, als man es von ihr hätte annehmen mögen: Sie betonte immer und immer wieder, als sie sich in kleiner Runde in dem rasch zu räumenden Hause Gänslein eingefunden hatten, dass sie mit einem noch viel schlimmeren Ausgang der Geschichte gerechnet habe. Die Begine Regine war derselben Meinung, sie schilderte in bunten Farben, welch entsetzlichen Verlauf Margarethes Schicksal hätte nehmen können. Der kluge, alte Bennheim enthielt sich jeglichen Kommentars und auch jeglicher Gefühlsregung, er ließ sich von seiner Herrin einen Brief diktieren, welchen er alsbald an alle Kaufleute, Unterhändler und Handelsgesellschaften, mit denen die Gewürzhändlerin Geschäfte getätigt hatte, schicken sollte.
Es herrschte also eine recht ruhige Stimmung, abgesehen davon, dass, wie erwähnt, der Stiftsherr Vestiarius von seiner Verzweiflung regelrecht geschüttelt wurde. Johanna reichte ihm einen mit einem starken Mandelschnaps angereicherten Tee, damit er sich ein wenig erhole, denn auch wenn Margarethe ihm versichert hatte, dass sie ihm glaube, nichts mit diesem Komplott gegen sie zu tun zu haben, so konnte ihn ihr Zuspruch dennoch nicht beruhigen. Er war außer sich vor Trauer, Scham und der Gewissheit, seine Freundin und heimliche Angebetete nun für immer verlieren zu müssen.
»Aber Vestiarius, nun ist gut. Ich bin ja nicht gestorben, und aus der Welt bin ich auch nicht. Nach fünf Jahren und fünf Tagen darf ich die Stadt und ihren Bannkreis wieder betreten«, versuchte Margarethe ihn erneut zu trösten, während sie die von Johanna zusammengepackten Kleidungsstücke prüfte.
Unterdessen wurde die kleine Gruppe scharf beäugt. Der Vogt hatte dafür gesorgt, dass sechs Büttel im Hause postiert wurden, die sicherstellen mussten, dass die zu verbannende Frau nichts von Wert oder Interesse unterschlug. Lediglich einen Beutel voller Kleidung, Proviant und ein wenig Geld durfte sie mitnehmen, wenn sie in wenigen Stunden vom Henker aus der Stadt geführt würde.
Nun wandte Margarethe sich mit knappen, aber freundlichen Worten an einen jeden in der Runde:
»Vestiarius, Ihr wart mir immer ein treuer Freund, und das sollt Ihr auch bleiben. Wir werden uns schreiben, das versichere ich Euch.
Schwester Regine, es ist für mich eine große Erleichterung zu wissen, dass meine liebe Mechthild in Eurem Hause unterkommen wird. Verzeiht mir, dass ich mich über Jahre hinweg in Euch getäuscht habe. Ihr habt ein großes, gutes Herz.
Mechthild«, und nun bekam sie tatsächlich Tränen in die Augen, kniete sich vor ihre Base nieder und griff nach deren Händen. »Du bist mir der teuerste Mensch, und es schmerzt mich, dich verlassen zu müssen. Aber du verstehst, dass es besser für dich ist, hierzubleiben. Verstehst du es?«
Mechthild nickte unter Schluchzen, dann umarmte und küsste sie ihre Base.
»Wir werden uns wiedersehen«, weinte sie.
»Das werden wir gewiss«, sagte Margarethe, stand auf, versuchte, sich zu fangen, und wandte sich nun an ihren Secretarius:
»Guter Bennheim, solch treue und untadelige Dienste über eine solch lange Zeit! Habt tausend Dank. Besonders für die Gewürzlieferung an den Herzog stehe ich in Eurer Schuld und würde sie so gern begleichen. Leider ist es mir nicht mehr möglich, sodass Ihr Euch selber behelfen müsst. Aber Ihr wisst ja bestens Bescheid.« Dabei zwinkerte sie dem alten Mann zu, und dieser verstand, auch wenn er gern protestiert hätte. Er wollte das unterschlagene Geld vom Herzog nicht annehmen, aber er wusste ebenso gut, dass Margarethe darauf bestand. Unerwarteterweise nämlich hatte der Herzog vor einigen Tagen seine Schuld bei der Gewürzhändlerin in bar entrichten lassen – eine Zahlung, von welcher der Fiskus noch keine Kenntnis hatte und die er auch nicht mehr erhalten sollte. Denn das Geld war für Bennheim bestimmt.
»Johanna, von dir muss ich mich nun verabschieden. Du hast einen weiten Weg vor dir.« Dabei blickte Margarethe auf die teure, riesige Uhr in ihrer Stube. »Morgen beim ersten Hahnenschrei wird Carnifex mich abholen.«
Sie lächelte ihrer Magd zu und streckte die Arme nach ihr aus. Johanna ging zu ihr und ließ sich gern von ihrer Herrin ans Herz drücken.
»Auf dem Weg nach Rinteln soll er sein. Ich beeile mich«, flüsterte Johanna Margarethe ins Ohr. »Wir werden rechtzeitig zurück sein.«
»Gott sei mit dir. Was wäre ich ohne dich«, flüsterte Margarethe zurück und gab ihrer Magd einen Kuss auf die Wange.
»So!« Nun klatschte sie in die Hände. »Leider ist mein restliches Gesinde aus dem Dienst ausgeschieden, aber dennoch fühle ich mich imstande, selbst ein kleines Abschiedsmahl für uns zu kochen. Die Herren Büttel werden nichts dagegen haben, denn auch sie sind herzlich eingeladen.«
Mit diesen Worten verschwand Margarethe in der Küche, während sich Johanna aus dem Hause stahl, um so schnell wie möglich in das sechzehn Meilen entfernte Rinteln zu eilen.
Mit einem Bann belegte Leute aus der Stadt zu geleiten, war eine der leichtesten Aufgaben eines Scharfrichters, und Justus Carnifex versah diese Aufgabe stets mit einem gewissen Gleichmut. Allein das Wehklagen der Angehörigen ging ihm zuweilen ein wenig ans Herz, doch immerhin kamen die Verurteilten mit dem Leben davon und waren meist auch unversehrt. Es sei denn, er hatte sie zuvor foltern oder brandmarken müssen, doch davon war im Falle Margarethe Gänsleins abgesehen worden.
An diesem Tage war es ihm jedoch keine leichte Aufgabe, seine Arbeit zu verrichten, denn er schätzte diese Frau sehr, die so aufrecht und stolz neben ihm her durch die von gaffenden Menschen gesäumten Straßen und Gassen schritt. Und als ihr eine dumme Vettel beim Vorbeigehen ins Gesicht spuckte, konnte er nicht an sich halten und versetzte dem unverschämten Weib einen gehörigen Fußtritt, sodass es hintenüberschlug und eine Weile im Dreck liegen blieb.
Erst als sie sich bereits inmitten des Landwehrrings befanden, wurden die Schaulustigen weniger. Lediglich eine Meute Kinder lief noch hinter ihnen her, doch sie hüteten sich, Schandlieder zu singen oder gar mit Steinen zu werfen, da sie gehörigen Respekt vor dem Scharfrichter hatten.
»Wohin werdet Ihr nun gehen, Frau Margarethe?«, fragte Carnifex scheu und leise, während sie dem Ende des Bannkreises, wo er sie allein lassen würde, näher kamen.
»Er muss sich nicht sorgen, mein Lieber. Aber vielleicht nimmt er mir nun die Fesseln ab. Da ist niemand mehr, der uns beobachtet.«
Carnifex kam diesem Wunsch Margarethes nach. Und so gingen sie die letzten Schritte frei nebeneinander her.
»Dort drüben sind sie ja«, meinte Margarethe plötzlich leise, und ein unglaubliches Strahlen erschien auf ihrem Gesicht.
»Man holt Euch ab, da bin ich erleichtert«, versicherte nun auch der Henker. »Seid nämlich gewiss, dass man uns durchaus verfolgt hat.«
»Tatsächlich?«, fragte Margarethe.
»Mindestens zwei oder drei Halunken sind uns auf den Fersen. Immerhin seid ihr vogelfrei und zudem eine schöne Frau. Man kann ungestraft mit Euch tun und lassen, was man will. Allein würdet Ihr hier draußen nicht lange sicher sein.«
»Welch beruhigende Worte, Carnifex.« Etwas irritiert blickte Margarethe sich nun um – und wahrhaftig, in diesem Augenblick huschte eine Gestalt rasch hinter einen Busch, um sich dort zu verbergen.
Nicht mehr lang, und sie hatten die Weggabelung erreicht, an welcher der Bannkreis zu Ende war und an welcher der bunte und überladene Wagen des Heilers Gugelmann wartete.
Etwas verschämt begrüßte Margarethe den Mann, der, obwohl sie sich ihm gegenüber so schlecht betragen hatte und nun zu allem Überfluss auch noch eine verstoßene Obdachlose war, erschienen war, um sie zu begrüßen.
»Verzeih mir meinen Starrsinn«, flüsterte sie, als sie sich von ihm auf den Kutschbock helfen ließ.
»Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir!«, gab er schelmisch, die berühmten Worte Luthers in Worms zitierend, zurück, woraufhin er einen glücklich erleichterten Seitenblick Margarethes erntete.
Johanna, die zusammen mit dem Knecht Gugelmanns ebenfalls neben dem Wagen gewartet hatte, zögerte noch, zu ihrer Herrin auf den Bock zu steigen. Sie schritt langsam auf Carnifex zu und gab ihm die Hand.
»Auf Wiedersehen, Justus«, sagte sie.
»Du kannst doch bleiben, Johanna. Du bist nicht gebannt. Du kannst bei mir bleiben. Ich werde für dich sorgen.« Die Stimme des Henkers klang verzweifelt, und das, was er da sagte, überrumpelte Johanna vollkommen.
»Leb wohl«, erwiderte sie nun mit schwacher Stimme. »Leb wohl. Wir werden uns gewiss wiedersehen. Ich habe dir versprochen, dich zum Grabe deines Bruders zu führen, und dieses Versprechen werde ich halten.«
»Ja, leb wohl, Carnifex«, rief nun auch Margarethe. »Du bist eine gute Seele, eine der besten Seelen der Stadt.«
Nun stieg auch Johanna auf die Kutsche. Der Knecht war längst unter der Plane der Ladefläche verschwunden. Götz Gugelmann gab seinen Rössern mit einem Schnalzen zu verstehen, dass sie wieder laufen durften. Und das taten sie dann auch in einem schnellen Trab.
Carnifex blickte ihnen lange nach.
Da ging er hin, sein Traum.
Wenige Wochen später kehrte Johanna nach Hameln zurück. Sie hatten sich mit ihrer kleinen fahrenden Gruppe für eine Weile in Höxter niedergelassen, was sich offenbar bis nach Hameln herumgesprochen hatte, denn von dort erreichte Margarethe alsbald eine Nachricht ihrer Base Mechthild. Der Stadtvogt, als neuer Eigentümer des Gänslein-Hauses, erwies sich als großmütig genug, der verbannten Margarethe am Tage vor seinem Einzug zu gestatten, eine Magd ins Haus zu lassen, um letzte persönliche Dinge ihrer Herrin herauszuholen.
»Es gibt da einige Bücher über die Heilkraft von Gewürzen, die ich nun gut gebrauchen könnte. Und einige wollene Decken für den nahenden Winter wären auch vonnöten. Das ist alles«, sagte Margarethe, nachdem sich Johanna angeboten hatte, in die Stadt zurückzukehren. »Ansonsten ist es mir lediglich wichtig, Gewissheit darüber zu erhalten, dass es den wenigen mir teuren Menschen dort gut ergeht.«
Johanna nickte, sie erledigte diese Aufgabe gern. Zwar fühlte sie sich im Grunde wohl in ihrem neuen Zigeunerleben, in dem ihr Verhältnis zu Margarethe ein freundschaftlicheres, freieres geworden war. Es gab viel zu tun, man begegnete zahllosen Menschen, half ihnen und lernte täglich bislang unbekannte, interessante Dinge hinzu. Aber dennoch: Bei aller Liebe zu Margarethe Gänslein und aller Sympathie für Götz Gugelmann war es mitunter mühselig, dem Glück der beiden Tag und Nacht ausgesetzt zu sein, während Johanna selbst noch immer an ihren enttäuschten Hoffnungen zu nagen hatte. Es würde ihr guttun, allein nach Hameln zu gehen und einige Tage auf sich gestellt zu sein.
Schon am folgenden Tag schritt Johanna wehmütig durch die vertrauten, aber bereits der Veränderung preisgegebenen Räume des Gänslein-Hauses. Sie war nicht allein. Überall wirbelten Burschen und Mägde herum, die bereits alles für den Einzug des neuen Hausherrn vorbereiteten. Als Johanna gerade ein Paket mit Decken, zwei Mänteln und den gewünschten Arzneibüchern geschnürt hatte, da läutete plötzlich die Glocke an der Haustüre. Der ehemaligen Magd dieses Hauses war das Geräusch so vertraut, dass sie nicht einen Augenblick zögerte und sich sogleich verpflichtet fühlte, die Türe zu öffnen, um zu schauen, wer um Einlass ins Heim der Witwe Gänslein bat.
Doch der junge Mann, dem Johanna dann gegenüberstand, war ihr vollkommen unbekannt. Sicherlich handelte es sich um einen Freund oder einen Verwandten des Vogtes. Er war eigentümlich, ja nahezu exotisch gekleidet, von mittelgroßem Wuchs, mochte etwa fünfundzwanzig Jahre zählen, hatte zerzaustes, rotblondes Haar, leuchtend blaue Augen, unzählige Sommersprossen auf sonnengebräunter Haut, einen struppigen Bart und ein freches Lächeln.
»Da bin ich«, sagte er nur, als seien er und Johanna schon seit Jahren miteinander vertraut. Dann lüftete er seinen ungewöhnlichen, breitkrempigen Hut und betrat mir nichts, dir nichts die Diele, ganz so, als wäre er hier seit Jahr und Tag zu Hause.
»Nanu, wo sind die Waren?«, fragte er, sich verwundert im leeren Raum drehend. »Und wo ist meine Mutter? Sie schläft gewiss zu dieser Stunde, nicht wahr?«
Johanna hob nur fragend die Schultern.
»Ach, ich vergaß ganz, mich vorzustellen. Georg ist mein Name, Georg Bingelstein. Ich bin der Sohn Mechthild Bingelsteins und somit mit der Hausherrin Margarethe Gänslein verwandt. Ist denn wenigstens Tante Margarethe zu sprechen? Ich habe ihr so viel zu berichten.«
»Oh ja«, fiel es nun Johanna wie Schuppen von den Augen. »Der Weltreisende.«
»Genau. So ist es. Gesund, aber hungrig zurückgekehrt. Und leider auch mit leeren Taschen.« Dann begann er zu rufen, dass es nur so in der leeren Diele hallte. »Mutter! Mutter! Tantchen! Ratet, wer zurück ist.«
Johanna zog die Brauen hoch und seufzte: »Ihr wisst es also noch gar nicht.«
»Was weiß ich nicht?«, fragte Georg, sich nun verdutzt nach Johanna umdrehend.
»Eure Tante Margarethe … man hat ihr alles genommen. Dieses Haus gehört nun dem Vogt.«
»Das ist nicht wahr!« Er wurde mit einem Male so bleich, dass man nicht einmal mehr seine Sommersprossen erkennen konnte. »Lebt sie denn noch?«
»Oh ja, sie lebt, und es geht ihr sogar sehr gut.«
Für eine Weile schwieg er, dann aber begann er zu lachen und rief: »Na, das ist doch die Hauptsache, dass es ihr gutgeht.« Danach wurde er wieder ernst. »Aber meine Mutter – was ist mit ihr?«
»Sie ist den Beginen beigetreten und wohnt nun in deren Haus im Süden der Stadt. Auch ihr geht es gut, ich besuchte sie heute Morgen. Jeden Tag ist sie unterwegs und hilft armen, alten und kranken Menschen.«
Wieder schwieg er einen Augenblick, dann verzog er den Mund erneut zu einem Grinsen und meinte: »Ich fand, sie war ohnehin zu viel allein in ihrer Kemenate. So kommt sie wenigstens wieder unter die Leute.«
Johanna wich erstaunt einen Schritt zurück und betrachtete den Luftikus kritisch aus der Distanz. Wie war es diesem Menschen möglich, das alles so sehr auf die leichte Schulter zu nehmen?
Als könne er ihre Gedanken lesen, sagte er nun:
»Ich habe dieses Haus nie gemocht. Es ist riesig, aber dennoch dunkel und eng. Wie ein Gefängnis erschien es mir stets, und ein Gefängnis war es auch für meine Mutter und meine Tante.«
»Und Ihr seid gar nicht traurig? Ihr hättet erben können«, fragte Johanna überrascht.
»Ach. So wie ich mich kenne, wäre mein Erbe ohnehin nach nur einem Jahr vor die Hunde gegangen.« Nun kratzte er sich am Bart, schaute dabei hingegen wie ein kleiner Junge. Man musste nicht lange überlegen, um zu erkennen, dass es sich bei diesem Burschen um einen handfesten Abenteurer und Herumtreiber handelte. Kaum zu glauben, dass das der Sohn der frommen Mechthild war.
»Na, komm, dann zeig mir mal, wo meine Mutter zu finden ist«, forderte er Johanna nun auf, ging zur Türe und winkte sie hinaus auf die Straße. »Und danach wäre es mir eine Ehre, wenn du mich zu meiner Tante Margarethe bringst. Würdest du das tun?«
Johanna hob die Brauen und schaute etwas verlegen zu Boden.
»Nun, ich gehe ohnehin zurück zu ihr, da könnt Ihr mich gern begleiten«, sagte sie dann.
»Nichts lieber als das.«
Und dann machten sie sich auf den Weg durch die Bäckerstraße hin zu den Beginen.
»Ich war in der Neuen Welt«, berichtete er Johanna, während sie nebeneinander hergingen.
»Davon habe ich gehört. War das nicht furchtbar gefährlich?«
»Mitunter schon. Aber es werden auch viele dumme Spukgeschichten erzählt. Aufgefressen haben die Wilden keinen von uns. Ich habe dir übrigens etwas mitgebracht.«
»Mir? Wir kennen uns doch gar nicht.« Johanna blickte ihn skeptisch an. Fast war dieser junge Kerl ein wenig zu frisch und frivol, aber dennoch gefiel ihr seine ungehobelte Art ausgesprochen gut. Sie konnte sich nicht dagegen wehren.
»Ja, ich denke, es könnte dir gefallen.«
Dann zog er aus einem kleinen Beutelchen an seinem Gürtel ein rotes Ding – eine Schote, nicht groß, aber von solch intensiver Farbe, wie Johanna sie nur von den Rosen im Garten Margarethe Gänsleins kannte.
»Koste davon«, sagte er und hielt es ihr unmittelbar unter die Nase. »Das ist ein Gewürz aus der Neuen Welt.«
Johanna hätte es an seinem Gesichtsausdruck erkennen müssen, dass er einen Schabernack mit ihr trieb, aber dennoch griff sie nach dem purpurnen Ding und biss herzhaft hinein.
Es dauerte eine Weile, bis sich der Geschmack der Schote in ihrem Mund oder, besser, in ihrem Rachen entfaltete. Aber dann überkam es sie wie ein Donnerwetter. Das Feuer der Hölle einzuatmen hätte nicht ärger sein können. Johanna lief ebenso rot an wie die Schote, hielt sich mit beiden Händen den Hals, beugte sich vornüber, ging fast auf die Knie und hustete sich die Seele aus dem Leibe.
Alle Leute blieben stehen und starrten sie an, sie, die Magd der enteigneten Gänslein, die nun dort auf offener Straße zu sterben schien. Alle waren sie entsetzt, voll des Mitleids, nur Georg musste schallend lachen.
»Na, da ist doch jetzt endlich mal was los in diesem verschlafenen Nest«, sagte er zu Johanna, half ihr, sich wieder aufzurichten und gab ihr aus seinem ledernen Wasserbehältnis zu trinken.
»Glaubt mir«, stammelte diese nun, sich wieder beruhigend. »Hier war während Eurer Abwesenheit mehr los, als Ihr zu träumen wagt.«
»Wirst du mir davon erzählen?«, fragte er.
»Wenn ich dieses Feuer in meinem Rachen überlebe, gern«, sagte Johanna und erwiderte sein Lächeln.
Und plötzlich war es wieder da: dieses Gefühl, welches ihr sagte, dass eines Tages alles gut werden würde.