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III
Man hatte sie nicht einlassen wollen. Zu spät sei sie, hatte der Wächter am Ostertor missmutig geraunt, als er nach einer halben Ewigkeit vehementen Pochens endlich eine kleine Luke an dem Tor geöffnet und sein wettergegerbtes Gesicht hinausgestreckt hatte. Längst herrsche Nachtruhe in der Stadt, und er werde einen Teufel tun und einer fahrenden, fremden Dirne zu dieser Stunde Einlass gewähren.
»Ich bin keine Dirne«, hatte ihm Johanna zugerufen und dabei ihre Stimme sehr erheben müssen, um gegen den heftigen Herbstwind anzukommen, der an diesem Abend wehte und einen unangenehm peitschenden Regen zum Begleiter hatte.
»Das ist mir gleich. Komm morgen wieder, dann lass ich dich ein.«
Und mit diesen Worten war die Holzklappe krachend geschlossen worden, das Gesicht des Wärters war verschwunden, und Johanna stand nun allein im Regen vor der massiven und undurchlässigen Stadtmauer Hamelns.
»Morgen«, flüsterte sie, bibbernd vor Kälte.
In ihrem Dorf war sie gewesen, nachdem die Mordtat an ihrem Herrn verübt worden war. Dorthin hatte sie sich geflüchtet und Unterschlupf bei ihrem Schwager gesucht. Hermann war der Bruder ihres verstorbenen Mannes und der einzige Verwandte, der Johanna noch geblieben war. Doch Hermann war nicht nur arm wie ein jeder Bauer, der den Ritter Wilhelm von Eicheck zum Grundherrn hatte, sondern ihn plagte auch seit dem Tode seines Bruders ein schlechtes Gewissen. Und von ebendiesem schlechten Gewissen wollte Johanna sich nicht abhängig machen, denn sie spürte, dass, so freundlich sich der Schwager auch gab, es ihm dennoch unwohl dabei war, Johanna in seinem kleinen Haus zu beherbergen. Ganz abgesehen davon, dass sie auf den Herrenhof gehörte, von dort geflohen war und gewiss bald gesucht werden würde.
Johanna hatte nach nur einem Tag eingesehen, dass sie hier nicht bleiben konnte. Also war sie gegangen. Nach Hameln, in die Stadt hatte es sie gezogen, dort hatte sie eine Arbeit finden wollen. Aber offenbar war sie nun zu spät.
Morgen solle sie zurückkehren. Doch wo die Nacht verbringen?
Das wollene braune Tuch, welches ihr die gute Trudi, die Frau des Schwagers, mitgegeben hatte, war schwer vom Regen und spendete schon lange keine Wärme mehr, im Gegenteil. Johanna streifte es ab und versuchte, es auszuwringen, doch die Mühe war bei diesem Wetter vergeblich.
Wollte sie sich nicht den Tod holen, dann musste sie zurück. Zurück in die Hölle. Denn nichts anderes war dieses Haus, welches sie vor weniger als einer halben Stunde auf ihrem Marsch nach Hameln passiert hatte.
Ein Nobiskrug.
Johanna wusste aus Erzählungen von derartigen Kaschemmen; sie selbst hatte nie eine betreten, denn in derlei Häusern ging es mitunter wild zu. Auf dem Hellweg, der uralten Handelsroute, die schon in heidnischen Zeiten von Aachen bis hin nach Königsberg geführt hatte, lagen zahlreiche dieser berüchtigten Absteigen. Und auch wenn niemand jemals dort ein und aus gegangen sein wollte, so waren dennoch ausgesprochen viele Erzählungen über die Räuberlöcher in Umlauf. Zu den Zeiten der Lepra, als neben Kaufleuten, Söldnern, Pilgern und Landstreichern auch Aussätzige auf dem Hellweg unterwegs waren, hatte es auf der Strecke Gasthäuser gegeben, die eigens der Aufnahme von Leprösen dienten. Nicht Erbarmen und Mitleid waren Anlass für die Wirtsleute gewesen, sich auf derartige Kundschaft zu spezialisieren, nein, das Ganze stellte durchaus ein lohnendes Geschäft dar. Denn groß war einst die Zahl derer, die an dieser Geißel Gottes erkrankt waren und verkrüppelt, zerlumpt und bettelnd durch die Lande streiften, um Almosen von ihren Mitmenschen zu erbitten und sie daran zu erinnern, dass Mildtätigkeit gegenüber den Armen Gott ein Wohlgefallen sei. Doch lange schon schien diese Plage nun ein Ende gefunden zu haben, kaum mehr wurde ein Mensch vom Aussatz befallen, die eigens am Rande der Städte errichteten Leprösenhäuser verwaisten oder änderten ihre Gestalt, indem sie zu Hospitälern oder aber zur Herberge für einsame Alte wurden. Und auch die berüchtigten, bis dato von Gesunden gemiedenen Nobiskrüge änderten ihre Gestalt. Gemieden wurden sie jedoch weiterhin, nicht etwa weil man befürchtete, sich dort eine unheilbare Krankheit einzufangen. Nein, man musste dort viel unmittelbarer mit dem Verlust seines Lebens rechnen, denn mit dem Schwinden der Siechen kamen die Räuber, Tunichtgute, Geächteten und Ehrlosen, welche die Leprosengasthöfe zu ihren angestammten Wirtshäusern machten. Den Wirten aber war dieser Wandel durchaus recht.
An einer derartigen Absteige war auch Johanna vorübergegangen, und dorthin zog es sie nun zurück, denn es war das einzige Haus weit und breit, in welches man zu dieser Stunde außerhalb der Stadtmauern noch eintreten konnte. Ihr blieb also nur die Wahl, sich in der nasskalten Nacht Schutz unter einem tropfenden Baum zu suchen oder aber die Gesellschaft unangenehmer Zeitgenossen zu ertragen. Sie entschied sich für Letzteres, auch wenn es sie schmerzte, ihr einziges Geld, die drei Münzen, die sie nur widerwillig von Hermann in Empfang genommen hatte, in einem Nobiskrug zu lassen.
Es war ein winziges, windschiefes, strohgedecktes Fachwerkhäuschen, das inmitten des Nichts, unweit eines dunklen Waldes, aber weit entfernt vom nächsten Dorf, die frierende Johanna empfing. Vorsichtig versuchte sie, einen Blick durch die Schweinsblase zu erhaschen, welche vor das einzige kleine Fenster der Kaschemme gespannt war. Doch alles, was Johanna durch die gelblich braune Haut ausmachen konnte, war, dass Licht in der Gaststube brannte. Laute hörte sie keine, kein Grölen, kein Singen, kein Spielen von Fideln oder Flöten. Es war ruhig in dem Nobiskrug, und das beruhigte auch Johanna, die sich nun ein Herz fasste, zur Tür ging und sie vorsichtig aufstieß.
Eine angenehm trockene, aber übel riechende Wärme schlug ihr entgegen, als sie eintrat. Der Raum war ganz und gar nicht groß, hätte aber gut und gerne Platz für drei Dutzend Menschen geboten. Und dass so viele hier mitunter verkehrten, konnte man durchaus wahrnehmen, denn es stank noch immer erbärmlich nach ungewaschenen menschlichen Leibern und nach allem, was diese so von sich gaben oder geben konnten. Am heutigen Abend jedoch waren die vielen Stammgäste bloß zu riechen, nicht aber zu sehen, denn außer Johanna hielten sich nur zwei weitere Personen in der Gaststube auf: eine alte, beleibte Frau, offenbar die Wirtin, welche dösend auf einem Hocker neben dem Ausschank saß, und ein junger Mann. Dieser saß gekrümmt so weit wie möglich entfernt von der Alten in der äußersten Ecke des Raumes hinter einem runden Tisch und blickte die eintretende Johanna aus traurigen Augen staunend an.
»Gut«, dachte diese bei sich und hockte sich auf dem nächstbesten Platz neben der Tür nieder. Eine Weile saß sie nur da und rührte sich nicht. Die Wirtin döste weiter, und der Mann starrte wieder in seinen Bierkrug. Johanna war es recht, sie wrang erneut ihren triefenden Umhang über dem auf dem Boden verteilten schmutzigen Stroh aus und hängte ihn schließlich über eine Stange, die in der Nähe der Kochstelle angebracht war. Dann begab sie sich zurück zu der Holzbank und hoffte, dass die Nacht bald ein Ende finden würde.
Es war mit Sicherheit eine geschlagene Stunde vergangen, die Wirtin hatte bereits zu schnarchen begonnen, als der junge Mann schließlich das Wort ergriff und Johanna, die es bislang nicht gewagt hatte, die Augen zu schließen, ansprach.
»Wollt Ihr etwa nichts trinken oder essen?«
Johanna zuckte zusammen, obwohl er eine durchaus angenehme, leise, ja nahezu schüchterne Stimme hatte. Eine Stimme, die ganz und gar nicht zu seinem kräftigen, grobschlächtigen Erscheinungsbild passte. Nie zuvor in ihrem Leben war sie derart höflich angesprochen worden.
»Vielen Dank. Aber ich möchte die Wirtin nicht wecken. Es langt mir, mich hier ein wenig aufzuwärmen und den Morgen zu erwarten.«
Zum ersten Mal schaute sie den anderen Gast nun genauer an. Er war auf den zweiten Blick ein gar nicht so übler Bursche. Trotz seiner jungen Jahre fiel ihm das Haar schon aus, und sein Gesicht war ein wenig zu rund, aber er hatte schöne, große blaue Augen, und sein verschämtes Lächeln offenbarte gesunde Zähne.
»Wohin zieht es Euch, wenn ich fragen darf?«
»Ich wollte in die Stadt Hameln gehen, aber die Tore waren bereits verschlossen.«
»Ihr wart noch nie zuvor in Hameln, nicht wahr?«
»Woher wollt Ihr das wissen?«
»Nun, sonst wäre Euch bekannt, dass es zahlreiche Schlupflöcher gibt, um anderweitig in die Stadt zu gelangen.«
»Ach.« Johanna lächelte. Es schien ein freundlicher, harmloser Mensch zu sein, vor dem sie sich als einsame Frau nicht zu fürchten brauchte.
»Ich lebe in der Stadt und werde mich auch gleich wieder dorthin aufmachen. Wenn Ihr mögt, kann ich Euch zu Eurem Schutze begleiten und Euch eines der heimlichen Tore zeigen.«
Vielleicht hatte sie sich doch in ihm geirrt, denn Johanna stand der Sinn ganz und gar nicht danach, mit einem Fremden durch die Nacht zu streifen und sich von ihm geheime Orte zeigen zu lassen.
»Habt vielen Dank, aber ich werde bis morgen warten«, antwortete sie, nun weniger freundlich, um ihm zu verdeutlichen, dass sie nicht eine solche sei.
Er schien zu verstehen und wurde über und über rot. Fast konnte er ihr leidtun, denn Johanna hatte den Eindruck, dass er gar nicht beabsichtigt hatte, sie zu beleidigen. Er war einfach noch ein junger, unerfahrener Tölpel.
Es verging eine Weile des Schweigens, in der Johanna einer auf dem Rücken liegenden Schabe beim Sterben zuschaute. Dann fragte der junge Mann, nachdem er sich mehrere Male verlegen geräuspert hatte:
»Was treibt Euch in die Stadt?«
»Ich will mir dort eine Anstellung als Magd suchen.«
»Seid Ihr vom Lande?«
»So ist es.«
»Seid Ihr etwa schollenflüchtig?«
»Wie kommt Ihr denn darauf?« Johanna wurde nervös.
»Nun, das ist bei den meisten so, die es vom Lande in die Stadt zieht. Nach Jahr und Tag ist man frei. Wo kein Kläger, da kein Richter. Bislang hat es nur wenige Herren gegeben, die ihre Leute an den Ohren wieder durch die Tore hinausgezogen haben. Und wer sucht schon nach einem schwachen Weib?«
Jetzt wurde er offenbar munter.
»Also gibt es in Hameln viele wie mich?« Johannas Interesse war nun geweckt.
»Durchaus. Und wie gesagt: Die Grundherren suchen nur selten nach ihnen. Häufiger sind es die gehörnten Ehegatten, welche ihren Weibern nachstellen. Ihr seid nicht etwa Eurem Gatten entlaufen, oder?«
»Ich bin Witwe.«
Er schmunzelte. Diese Antwort schien ihm zu gefallen.
»Kinderlein?«
Wollte er jetzt wieder unverschämt werden?
»Auch mein einziges Kind ist gestorben«, antwortete Johanna wahrheitsgemäß.
»Dann könnte wahrlich die Stadt die einzige Rettung aus Eurer trostlosen Lage sein. Mägde werden dort durchaus gesucht. Das ist eine gute Möglichkeit für anständige Weiber, in einem reichen Haushalt unterzukommen. Derlei Haushalte gibt es viele in Hameln.«
»Wisst Ihr etwa einen, in dem eine fleißige Hand fehlt?«
»Durchaus.«
»Wollt Ihr es mir sagen?«, bohrte Johanna weiter.
»Erst gestern musste ich Gerda Klinger vor die Tore führen, weil sie sich ein Kind hat machen lassen. Das darf einer Magd nicht passieren. Sie war bei der Witwe Pfeffersack beschäftigt, und die dürfte jetzt nach einem neuen Mädchen Ausschau halten. Oh, hat die geschimpft.« Und in Erinnerung an den gestrigen Tag klopfte er sich lachend auf die Schenkel.
»Wer, die Magd?«
»Nein, die Pfeffersack. Die wollte das lose Stück behalten. Hätte nichts dagegen gehabt, deren kleinen Bastard in ihrem Hause großzuziehen. Im Grunde ist sie nämlich ein guter Mensch. Aber was zu weit geht, geht zu weit.«
»Und was habt Ihr damit zu tun?«
Jetzt wurde er wieder stiller und spielte mit seinen Fingern verlegen an der Tischkante herum.
»Mein Name ist Justus Carnifex. Ich bin der Scharfrichter der Stadt Hameln.«
Johanna musste schlucken. Sie hatte sich tatsächlich mit einem Henker unterhalten. Das war eine Sünde, die es in jedem Fall zu beichten galt. Kein Wunder, dass sich ein unehrenhafter Geselle wie er in einer abgelegenen Spelunke wie dieser herumtrieb. Denn so wichtig seine Tätigkeit für das Fortbestehen von Sicherheit und Ordnung in einer Stadt auch war, so wenig wollte man mit diesen Leuten zu tun haben. Scharfrichter wurden gemieden, man sprach nicht mit ihnen, saß nicht mit ihnen an einem Tisch und ließ sie nach Möglichkeit erst recht nicht in sein Haus, denn das brachte mehr als Unglück: Es war eine Schande.
Dennoch beschloss Johanna, weiter mit ihm zu reden, denn das, was er da sagte, interessierte sie trotz aller Widrigkeiten ungemein.
»Was habt Ihr denn mit der schwangeren Magd gemacht?«
»Nichts. Fortgejagt habe ich sie. Das wurde mir aufgetragen, und was mir aufgetragen wird, das muss ich machen. Aber wie ich die kenne, lässt die sich den Balg von der nächstbesten Engelmacherin wegmachen und ist in der nächsten Woche wieder zurück in der Stadt.«
»Und ihr Platz bei der Frau Pfeffersack ist frei?«
»Ja, aber die heißt nicht Pfeffersack. So wird sie nur geschimpft. Gänslein ist ihr Name, und sie lebt im prächtigsten Haus am Pferdemarkt. Das werdet Ihr nicht verfehlen, wenn Ihr denn dort morgen vorsprechen wollt.«
»Habt vielen Dank für den Ratschlag.« Johanna lächelte etwas gequält. Sie fühlte sich mehr als unwohl, eine Empfehlung von einem Henker erhalten zu haben. Ein schlechtes Omen konnte das bedeuten. Dennoch beschloss sie, am morgigen Tage das Haus der Witwe Pfeffersack aufzusuchen. Schlechtes Omen hin oder her, sie musste nun einmal von etwas leben. Und besser, sie nahm den Rat eines Unehrlichen an, als dass sie sich letzten Endes gezwungen sah, selbst unehrlich zu werden, indem sie in ein Hurenhaus eintrat.
Während sie wieder nachdenklich auf die nun regungslose Schabe starrte, erhob sich der junge Mann von seinem Platz und ging zur Tür.
»Ich muss nun zurück in die Stadt. Ein wenig Schlaf sollte schon sein, bevor ich morgen in aller Früh die Jauchegrube des Bürgermeisters aushebe. Eine geruhsame Nacht wünsche ich Euch. Vielleicht sieht man sich eines Tages hinter den Mauern Hamelns wieder. Doch keine Sorge, gute Frau, ich werde Euch nicht böse sein, wenn Ihr dann so tut, als hätte es nie ein Gespräch zwischen uns gegeben.«
Er nickte höflich und verschwand dann in der stürmischen Dunkelheit.