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V
So schnell sieht man sich wieder.«
Johanna erschrak. Sie erschrak, obwohl sie den Mann bereits wahrgenommen hatte, als sie, aus einer engen Gasse kommend, den großen Marktplatz betreten hatte. Vergeblich hatte sie versucht, unbemerkt an ihm vorüberzuhuschen, während er mit den letzten Handgriffen der ihm zugedachten Aufgabe beschäftigt gewesen war.
Doch nun steckten Kopf und Hände des zappelnden, dünnen Männleins im Pranger, ein Amtsdiener hatte das Urteil verlesen, und die kleinen Rachehandlungen der Bürger der Stadt Hameln an dem betrügerischen Bäcker Köbel konnten ihren Anfang nehmen. Der Henker Justus Carnifex hatte seine unblutige Tätigkeit beendet und war nun offenbar so froh, das vertraute Gesicht der Frau aus dem Nobiskrug wiederzusehen, dass er seine Versprechung vom Vorabend ganz vergaß und ihr einfach mit lauter Stimme nachrief.
Nachdem sie kurz zusammengezuckt war, beschloss Johanna, sich gar nicht erst nach ihm umzuschauen. So dankbar sie ihm war, und obwohl er ein freundlicher Bursche zu sein schien, wollte – nein: konnte sie nichts mit diesem Kerl zu tun haben; nicht, nachdem sie erleichtert war, endlich die Stadt betreten zu dürfen und sich nun bei der Witwe Pfeffersack vorzustellen zu können. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war ein schlechter Leumund, und den hätte sie sich allemal eingehandelt, wenn offensichtlich würde, dass es sich bei dem einzigen Hamelner Bekannten dieser jungen fremden Frau ausgerechnet um den Scharfrichter handelte.
Carnifex schien zu begreifen. Es war nicht das erste Mal, dass ihm dergleichen widerfuhr. Eigentlich hätte er längst einsehen müssen, dass nicht grundlos seit Generationen Henker nur Henkerstöchter ehelichten. Seine Mutter war die Tochter des Onkels seines Vaters gewesen, der wiederum aus einer Verbindung zweier Halbgeschwister stammte, denn in der unehrenhaften Tätigkeit des Kopfabschneiders, Abdeckers und Grubenaushebers blieb man nun einmal so sehr unter sich, dass sich die Henker in den umliegenden Städten sogar allesamt verteufelt ähnlich sahen.
Er blickte der Frau noch eine Weile hinterher, die tatsächlich, seinem Rat folgend, auf das Pfeffersäcksche Haus zusteuerte. Dann wandte er sich um und ging gesenkten Kopfes und, ohne auch nur von einer Menschenseele beachtet zu werden, zurück zu seinem bescheidenen Heim nahe dem Weserufer an der Fischpforte.
Margarethe Gänslein hatte soeben neben ihrem alten Secretarius Bennheim Platz genommen, um mit ihm die anstehenden Geschäfte durchzusprechen, als die Köchin Immeke verlegen in der Tür der Schreibstube stand, um der Herrin des Hauses mitzuteilen, dass eine junge Frau eingetroffen sei, die nach der freien Stelle als Dienstmagd frage.
»Kaum haben sie vom Weggang der armen Gerda gehört, da schlüpfen sie auch schon wie die Ratten aus den Löchern«, kommentierte Margarethe ein wenig gereizt, erhob sich aber dennoch, um einen Blick auf das Mädchen zu werfen.
Eine neue Magd war in diesem Hause dringend vonnöten. Selbst dann, wenn es Margarethe gelingen würde, Gerda zurückzuholen, gäbe es genügend für zwei weitere tüchtige Hände zu tun. Außerdem war es besser, die offene Stelle schnell wieder zu besetzen, bevor tatsächlich stündlich ein neues, dümmlich lächelndes Ding mit fragendem Blick vor ihrer Türe stand und die Kauffrau von der Arbeit abhielt.
»Wo ist sie?«, fragte sie, während sie bereits an Immeke vorüberrauschte.
»Sie wartet in der Diele.«
Zunächst hatte Johanna geglaubt, eine Kirche zu betreten, so weit und hoch war der Raum hinter dem großen Eingangstor, durch welches sie die freundliche Köchin hereingebeten hatte. Aber es war weniger die Größe der Diele als vielmehr der sie umnebelnde Duft, der die erstaunte Johanna an ein Gotteshaus erinnerte.
Weihrauch nahm sie wahr, das stand außer Frage. Aber da hingen noch Dutzende, vielleicht sogar Hunderte anderer herrlicher Düfte in der Luft, und die meisten von ihnen waren ihr noch nie zuvor in ihrem Leben in die Nase gestiegen. Teils herb und würzig, teils lieblich und süß zogen sie in unsichtbaren Schwaden durch den Raum und versetzten die junge Frau in nur kurzer Zeit in einen regelrechten Rausch.
Fasziniert schaute sie sich um. Da waren zahllose Kisten und Säcke in der Diele verteilt, allesamt sauber und ordentlich gestapelt, manche waren geöffnet und mit kleineren Säckchen und Kästchen gefüllt. Nahezu willenlos ging Johanna auf einen der Säcke zu und erblickte darin zahllose kleine, schwarze, hakenähnliche, hölzerne Gebilde. Sie griff hinein, nahm eine Handvoll heraus und hielt sie sich unter die Nase.
Lange sog sie mit geschlossenen Augen den unbeschreiblichen Duft dieser Nägelchen ein.
»Gewürznelken«, hörte sie plötzlich eine freundliche weibliche Stimme hinter sich, und schnell ließ Johanna die Häkchen wieder in den Sack zurückfallen. Auch das noch! Man hatte sie beim Herumschnüffeln ertappt.
»Sie stammen von den Molukken. Ein herrlicher Duft, nicht wahr? Manche Leute zünden sie an und atmen dann den aromatischen Rauch ein. Diese hier sind von besonders hoher Qualität.«
Nun trat die Frau neben Johanna und griff ihrerseits in den Sack, um sich einige der Nägelchen unter die Nase zu halten.
»Wir verfügen in diesem Hause über einen Gewölbekeller und einen riesigen Speicher, aber weder oben noch unten kann ich dieses kostbare Gut aufbewahren. Im Keller fängt es an zu modern, und auf dem Speicher werden wir der Ratten und Mäuse nicht Herr, die sich daran gütlich tun. Selbst Katzen, welche wir zu diesem Zwecke eingesetzt haben, fanden schnell Geschmack an dem einen oder anderen Gewürz, oder schlimmer gar, sie verrichteten ihre Notdurft in den kostbaren Waren. Nun, deshalb lagert mein ganzes Hab und Gut hier offen in der Diele und empfängt einen jeden eintretenden Gast auf immer dieselbe Art und Weise: mit seinem faszinierenden Duft. Obgleich einigen durchaus schon übel von dem intensiven Geruch geworden ist.« Dann lächelte sie und fuhr fort: »Mein Name ist Margarethe Gänslein, Kaufmannswitwe und Bürgerin der Stadt Hameln. Und mit wem habe ich es zu tun?«
Johanna vergaß in ihrer Verwirrung völlig zu antworten. Stattdessen starrte sie die Frau mit großen Augen an.
Sie war groß und schlank, und ihr Gesicht glich dem einer Marienfigur. Ihre Haut wies bereits einige kleine Runzeln auf, war aber ansonsten so ebenmäßig und fein, dass sie selbst in dem Halbdunkel der Diele zu strahlen schien. Sie hatte wunderschöne, kluge, braune Augen, und ihr blondes Haar trug sie gescheitelt unter einer schlichten, aber dennoch kostbar wirkenden, runden Haube. Auch ihr Gewand war schlicht, obgleich aus erlesenem, dunkelbraunem Tuch geschneidert. Johanna konnte nicht anders, als diese wunderschöne Dame schweigend zu betrachten.
Margarethe hingegen war amüsiert.
Wieder einmal so ein törichtes Ding. Nun ja, bei Gerda war es nicht anders gewesen. Was wollte man auch erwarten? Hauptsache war, dass sie fleißig die ihr gestellten Aufgaben verrichtete, keine langen Finger machte und auch die Finger von den Mannsbildern ließ, denn auf weiteren Ärger wegen einer schwangeren Magd wollte sie gerne verzichten.
Nett sah sie aus, hübsch sogar. Ein wenig blass um die Nase, mit rissiger Haut und fettigem, aschblondem Haar, aber unter diesen Mängeln, die sich schnell beseitigen ließen, war sicherlich ein mehr als ansehnliches Gesicht zu finden. Und so dümmlich sie nun auch reagierte – im Grunde reagierte sie gar nicht –, verrieten ihre großen, dunkelgrünen Augen dennoch, dass vielleicht sogar mehr von ihr zu erwarten war. Ja, vielleicht war sie einfach nur überwältigt und ein wenig schüchtern, denn der Kleidung nach zu urteilen, handelte es sich bei ihr nicht um ein Gewächs der Stadt. An ihren Händen erkannte Margarethe sogleich, dass da ein Bauernmädchen vor ihr stand, wobei Mädchen nicht die richtige Bezeichnung war. Es handelte sich hier, anders als bei der blutjungen Gerda, um eine Frau, eine hoffentlich erfahrene Frau von mindestens achtundzwanzig Jahren.
»Johanna«, antwortete sie schließlich doch noch, und Margarethe nickte.
»Von wo kommt sie?«, fragte die Hausherrin nun in einem eher kühleren Ton.
»Aus dem Umland.« Johanna blieb absichtlich ungenau in ihrer Antwort.
»Ist sie etwa jemandem davongelaufen?«
Jetzt wurde es heikel. Johanna wusste, dass Stadtluft frei machte, sie wusste aber auch, dass nicht jeder Bürger einer Stadt gewillt war, einen flüchtigen Hintersassen zu beschäftigen, da ein Jahr lang stets damit zu rechnen war, dass er von seinem alten Herrn ausfindig gemacht und zurückgeholt werden könnte.
»Mein Herr ist verstorben, und somit bin ich ohne Arbeit.«
»Er wird doch aber einen Erben haben«, entgegnete Margarethe.
»Man benötigt meine Arbeit nicht mehr.« Erneut fiel die Antwort Johannas knapp aus.
»Rätselhaft. Aber gut. Wie sah ihre Tätigkeit bei ihrem vorigen Herrn aus?«
»Amme und Dienstmagd war ich.«
»Amme? Dann hat sie Kinder?«
»Mein Kind hat nur wenige Tage gelebt.«
»Das ist sehr traurig, aber leider nicht ungewöhnlich. So hat sie also ihren Milchfluss genutzt und ist Amme geworden.«
Johanna nickte.
»Was ist mit dem Vater des Kindes?«
»Man hat ihn … Er ist ebenfalls tot. Er starb, noch während ich das Kind unterm Herzen trug.«
»Man hat ihn …? Was hat man ihn?«, bohrte Margarethe weiter. Es war weniger die Neugierde, die sie trieb, als vielmehr der gesunde Menschenverstand, welcher ihr sagte, etwaiges Gesinde fortan genauer zu prüfen, bevor man es in seinen Dienst stellte.
Johanna wurde unruhig und errötete. Nervös wippte sie von einem Bein aufs andere.
»Man hat ihn leblos auf den Feldern aufgefunden«, log sie und blickte dabei auf den blankgefegten, gepflasterten Boden der Diele.
Margarethe musterte sie eine Weile. Sie konnte es sich nicht erklären, aber die junge Frau gefiel ihr. Im Grunde hatte sie keine weiteren Fragen.
»Gut, sie kann bleiben«, sagte sie plötzlich zu Johannas Überraschung. »Am besten, sie geht in die Küche und lässt sich von Immeke ihre Kammer zeigen. Immeke wird sie neu einkleiden und ihr sagen, was es am heutigen Tage für sie zu tun gibt. Außerdem gilt es, sie als Neuankömmling in der Stadt beim Rat anzumelden.«
Dann nickte sie Johanna noch einmal kurz, aber nicht unfreundlich zu und verschwand schnellen Schrittes in einem Raum auf der linken Seite der Diele, dessen Tür alsbald schwer ins Schloss fiel.
Johanna blickte noch lange auf die verschlossene Tür.
Was für eine ungewöhnliche Frau. Kühl und unnahbar, aber dennoch mit einem Blick, aus dem mehr Wärme sprach als aus ihren Worten.
Würde sie sich hier wohlfühlen können?