38237.fb2 Gestatten, Bestatter! - Bei Uns Liegen Sie Richtig - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

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Maria

Ich werde sehr oft gefragt, ob man es als Bestatter auch mit ungeklärten Todesfällen zu tun bekommt, was man da macht und so weiter. Meistens sind die Todesumstände schon geklärt, wenn wir beauftragt werden, aber von Zeit zu Zeit treten solche Ausnahmen eben doch auf. Von einem solchen Fall möchte ich Ihnen jetzt erzählen.

Am Dienstag gegen 12.20 Uhr ging bei uns der Anruf eines Mannes ein, seine Tochter sei verstorben, wir sollten bitte kommen. Unsere Männer rücken aus und rufen vom Einsatzort aus an, es handle sich um ein Kind, Maria, und wir sollten uns schon mal darauf einstellen, dass die Familie etwas Besonderes sei: »Alles Italiener, alle sehr aufgeregt und ziemlich laut.«

Die Leichenschaupapiere lauten auf plötzlichen Kindstod.

13 Uhr

Maria ist bei uns eingetroffen.

Wenig später ruft mich Herr Huber aus dem Einbettungsraum an, ich solle mal herunterkommen und mir das ansehen. Das Kind hat am Hals Würgemale, durch ein Rüschenhemdchen verdeckt.

Scheiße!

Ich rufe die Polizei an, ich muss das tun. Die lassen sich Zeit, um 14.15 Uhr kommen zwei Zivilbeamte. Es wird fotografiert, wir müssen erzählen, wie es war, dann wird die Kleine als sichergestellt erklärt, und wir sollen sie mal in die Rechtsmedizin bringen.

Jetzt fahren die Polizisten zu den Eltern – und ich hätte am liebsten einen Schnaps.

20 Uhr

Der Hausarzt hat inzwischen angegeben, er habe zwar Spuren am Hals des Kindes gesehen, diesen aber keine Bedeutung beigemessen. Wir sind inzwischen alle nochmals befragt worden; ich kann nur das sagen, was ich schon schrieb: Das Hemdchen des Mädchens hat einen Rüschen- oder Spitzenkragen, ich weiß nicht genau, wie man so etwas nennt, und der verdeckte den Hals komplett. Einen so langen Hals haben so kleine Kinder nicht.

Maria ist sechs Monate alt geworden und befindet sich im Rechtsmedizinischen Institut.

Die Polizei war inzwischen bei den Eltern. Wie ich erfahren habe, sollen die Beamten die Anwesenden vor die Wahl gestellt haben, dass entweder der ganze Clan jetzt mal verschwindet, damit man die Eltern befragen kann, oder die beiden müssen mit auf die Wache.

Erstaunlicherweise hat sich noch für heute Abend der Vater angekündigt. Er will mit mir alles besprechen.

Mal sehen, was der mir erzählt.

21.30 Uhr

Für heute ist Schluss.

Neue Sachlage: Bei genauerer Betrachtung der Leichenschaupapiere (von denen wir uns Kopien gemacht haben – im Original liegen sie jetzt bei den Behörden) stellt sich heraus, dass der Arzt wohl beides angekreuzt hat: Natürlicher Tod und Nichtnatürlicher Tod, aber das zweite Kreuzchen ist kaum zu erkennen. Angeblich habe er von seiner Praxis aus gerade die Polizei anrufen wollen, aber wir seien ihm zuvorgekommen. Na ja …

Der Vater des Kindes war bei mir, der sah gar nicht italienisch aus. Ein Italiener, man verzeihe mir dieses primitive Vorurteilsdenken, ist klein, hat schwarze Haare; der hier ist aber groß, hat rotblondes Haar und blaue Augen, lediglich sein Gestikulieren und sein Akzent verraten eindeutig die Herkunft.

Ich frage zuerst die notwendigen Daten ab, dann spreche ich ihn auf die Todesumstände an. Er macht eine wegwerfende Handbewegung, er sei ja gar nicht dabei gewesen – seine Frau habe das Kind im Bad auf der Wickelkommode für den Mittagsschlaf vorbereitet und dann ins Bett gelegt. Als er wenig später nach der Kleinen gesehen habe, habe sie leblos im Bettchen gelegen. Er schimpft über deutsche Krankenkassen, die Nachbarn, die Polizei. Ich habe etwas Angst vor dem kommenden Moment, in dem ich ihm sagen muss, dass wir die Polizei verständigt haben. Wird er begreifen, dass wir nicht anders handeln konnten?

Doch! Er sagt: »Habbe korrekt gemacht! Vielleicht hatte de Arzt eine Fehler gemacht!«

Moment mal, der Arzt ist doch erst gekommen, als das Kind schon leblos war. Was ist da los? Ich erkläre ihm nochmals, dass wir so handeln müssen und so weiter. »Jaja, habbe korrekt gemacht.«

Steht der unter Drogen oder unter Schock? Er will den Sarg aussuchen, ganz schnell einen Termin, aber nicht vor Anfang nächster Woche – wegen der Familie, die muss nämlich erst aus Italien kommen. Das ist mir nicht genug, ich will doch wissen, was passiert ist. Einerseits wäre es mir ja lieb, wenn an der ganzen Sache nichts dran ist, andererseits hätten wir uns dann riesig blamiert. Blöde Zwickmühle.

Der Italiener fängt an zu weinen, erzählt mir, dass seine Frau jetzt gleich von einem anderen Arzt behandelt werde, sie habe einen Nervenzusammenbruch, deshalb müsse er jetzt nach Hause. Aus der Hosentasche zieht er eine Rolle Banknoten und legt mir 800 Euro hin, als Anzahlung.

Morgen sehen wir weiter. Mir langt’s vorerst.

Mittwoch, 14 Uhr

Langsam kommt etwas Klarheit in die Sache. Wir bekommen heute gegen Abend die Freigabe, vielleicht schon am Nachmittag.

Es ist ja nicht so, dass ich mich den ganzen Tag um diesen einzelnen Fall kümmern könnte. Man darf nicht vergessen, dass wir in aller Regel vor allem alte Väterchen und Mütterchen beerdigen, wie es sich gehört; also Menschen, die schon lange auf dieser Erde weilten und die eben in dem Alter sind, in dem man auch schon mal sterben kann. Andere Fälle – junge Menschen, Menschen mittleren Alters – sind glücklicherweise eher selten, und Fälle, in denen es zu einer solchen Dramatik kommt wie diesmal, sind noch deutlich seltener. Aber merkwürdigerweise treten sie oft in Serie auf. Wenn man gerade so einen doch recht merkwürdigen Fall abgeschlossen hat, kommt garantiert gleich der nächste – und dann ist oft wieder für Jahre Ruhe.

Bei Maria ist es zu einer unerwarteten Wendung gekommen: Die Mutter musste gestern Abend noch von ihrem Mann ins Krankenhaus gebracht werden, weil sie aufgrund der nervlichen Belastung einen Weinkrampf bekommen hatte. Man stelle sich einfach eine Dreizimmerwohnung voll mit Südländern vor, dazu die Polizei, ein Pfarrer der italienischen Gemeinde, die Vorbereitungen für die Bestattung – all das war einfach zu viel für die Mutter, aber sicherlich auch für den Vater. Im Krankenhaus hat die Mutter sich dann weinend einer Ärztin offenbart; daraufhin wurde erneut die Polizei hinzugezogen.

Folgendes ist wohl passiert: Die Mutter machte gestern Mittag das Kind auf der Wickelkommode fertig. Dabei ist ein Fläschchen Babyöl umgefallen, was sie aber nicht bemerkte. Nachdem sie das Kind gewickelt hatte, nahm sie es an die Schulter, damit es ein Bäuerchen machen konnte. Dabei stützte sie es mit einer Hand am Rücken und im Nacken, und mit der anderen Hand räumte sie die Utensilien und die alte Windel weg. Dabei beugte sie sich etwas vornüber, wodurch das Kind ins Rutschen kam; vor Schreck ließ sie dann alles andere fallen und versuchte, die Kleine mit beiden Händen zu greifen. Weil das Kind im oberen Nackenbereich durch das Babyöl rutschig war, fand sie zunächst keinen richtigen Halt und bekam es erst am Hals richtig zu greifen. Daraufhin hörte das Baby sofort auf zu schreien, und die Mutter rief den Vater hinzu. Beide meinten, das Kind sei nur bewusstlos, also zogen sie ihm ein Hemdchen an, legten es ins Bett und riefen sofort den Arzt. Bis hierhin haben wir es mit einem mehr als tragischen und schrecklichen Unfall zu tun, und die hier wiedergegebene Schilderung entspricht auch dem, was die Kriminalbeamten für wahrscheinlich halten und was, wie ich hörte, auch die Rechtsmediziner unterschreiben. Weitere Anzeichen von Gewalteinwirkung gibt es nicht, und – Beamte drücken sich immer so wunderbar amtlich aus – die bei der Tatorterhebung gewonnenen Erkenntnisse deuten auf ein intaktes soziales Umfeld hin sowie auf die Tatsache, dass die Eltern mit dem Baby in die Zukunft geplant haben, was durch das Vorhandensein von Gegenständen, die das Kind erst später brauchen wird, unterstrichen wurde. Von einer absichtlichen, also vorsätzlichen Tat kann keine Rede sein, heißt es.

Aber zurück zum Arzt, den man nun also gerufen hatte. Man muss wissen, dass es sich bei den Sterbepapieren, die er ausfüllt, um einen ganzen Stapel durchschreibender Blätter handelt. Allgemeine Daten wie die Personalien schreiben sich durch den ganzen Satz bis auf das unterste Blatt hindurch, während bestimmte Angaben – wie z.B. die zur Todesursache – gezielt nur auf einem Teil der Ausfertigungen landen, weil sie die Empfänger der anderen Exemplare nichts angehen. Wenn man nun beim Ausfüllen etwas eilig oder unachtsam ist und die Blätter nicht genau übereinanderliegen, schreibt sich manches in die falschen Felder durch, manches ist doppelt, vieles unleserlich und so weiter. So haben wir im aktuellen Fall lauter Kreuze auf den Durchschriften, und es ist nicht erkennbar, ob der Herr Doktor nun den natürlichen oder den nichtnatürlichen Tod angekreuzt hat. Neben das Ankreuzfeld »Plötzlicher Kindstod« hat er noch eine lange Welle gezogen, als ob da noch etwas Unleserliches käme.

Darüber, ob bei plötzlichem Kindstod immer die Polizei verständigt werden muss, gibt es unterschiedliche Meinungen: Manche sagen »auf jeden Fall«, andere »wenn der Arzt es für nötig hält«. Meine Meinung: Auf jeden Fall!

Zurzeit deutet jedenfalls alles auf einen tragischen Unfall hin. Nach dem, was mir ein Beamter so nebenbei erzählt hat, steht noch nicht einmal fest, ob überhaupt ein Verfahren gegen die Mutter eröffnet wird. Das hänge vom endgültigen Obduktionsbericht ab, da sei noch etwas offen.

Wahrscheinlich können wir die Kleine morgen früh holen, sobald die Freigabe da ist. Einen Sarg hat der Vater gestern schon ausgesucht – klassisch schlicht und in Weiß. Blumen bestellen sie selbst beim Gärtner, Zeitungsanzeigen gibt es nicht. Wenn man sieht, wie fertig der Vater ist, kann man eigentlich nur Mitleid mit ihm haben. Morgen soll das Kind hier bei uns im Aussegnungsraum bzw. in unserer Hauskapelle aufgebahrt werden, und dann kommen auch die Mutter und der Rest der Familie.

Donnerstag, 14 Uhr

Bis jetzt gibt es keine neuen Erkenntnisse, außer dass die Sache meines Wissens als Unfall behandelt wird. Maria ist da und wurde eingebettet. Der Pathologe war gnädig und hat das Kind nicht zu sehr verschandelt – da habe ich schon anderes gesehen. Die offene Aufbahrung ist für heute Nachmittag angesetzt und dürfte wohl problemlos ablaufen.

Im Vorfeld haben wir uns überlegt, ob wir das in einem unserer Aufbahrungsräume machen sollen oder in unserer Hauskapelle. Einerseits ist die Kapelle viel größer, und auf Grund des zu erwartenden Besucherstroms liegt es zunächst nahe, diesen Raum zu verwenden. Aber ich befürchtete, dass die vielen Leute wegen der Dramatik der Vorfälle, wegen des jungen Alters der Verstorbenen und natürlich auch wegen des südländischen Temperaments möglicherweise zu Problemen führen könnten.

Unsere Aufbahrungsräume sind etwa vier Meter lang, drei Meter breit und durch ein Rolltor mit Kälteisolation in zwei Bereiche aufgeteilt, von denen der hintere gekühlt ist. Das Rolltor fährt fast lautlos nach oben und wird durch einen dicken Vorhang verdeckt, der sich erst öffnet, wenn es vollständig in der doppelten Decke verschwunden ist. Ein zweiter Vorhang dieser Art verdeckt die hintere Wand des Aufbahrungsraumes mit der Tür zu unserem Versorgungsgang, durch den die Verstorbenen herein- und hinausgefahren werden.

Im vorderen Bereich sind die Aufbahrungsräume unterschiedlich gestaltet: Einer ist mit einfachen Stühlen möbliert – den nehmen wir, wenn mit mehreren Personen zu rechnen ist –, ein anderer hat einen bequemen Sessel und einen kleinen Tisch, sonst nichts. Es kommt immer häufiger vor, dass Angehörige eine längere Zeit allein mit ihrem Verstorbenen verbringen möchten. Manche sitzen lange da und weinen, andere bringen einen CD-Player mit und spielen Musik ab, die für sie und den Verstorbenen eine Bedeutung hat, wieder andere möchten ihren Verstorbenen anfassen, streicheln oder ihm einfach etwas erzählen. Die technische Ausrüstung der Räume umfasst neben der Kühltechnik eine sehr aufwendige indirekte Beleuchtung, Kerzenständer, Blumenständer und künstliche Lorbeerbäumchen (echte würden bei der Kälte eingehen). Außerdem gibt es einen Rufknopf – um unsere Mitarbeiter herbeirufen zu können –, Steckdosen für die Geräte, die die Angehörigen mitbringen, und eine kleine Kamera mit Weitwinkeloptik. Über diese Kamera können wir das Treiben dort überwachen und notfalls einschreiten.

Es gibt immer mal wieder Gründe, warum wir eine weitergehende Beschäftigung der Angehörigen mit dem Verstorbenen ab einer gewissen Schwelle unterbinden müssen. Hierzu ist es unabdingbar, dass wir wissen, was die da genau machen. Selbstverständlich werden die Leute informiert, dass da eine Kamera ist – und letztlich dient sie auch dem Schutz der Besucher, denn es kommt immer mal wieder vor, dass Familienangehörige ohnmächtig werden, sich übergeben müssen oder Herz- und Kreislaufprobleme bekommen.

Doch nun zurück zu Maria

Einer unserer Aufbahrungsräume liegt am Ende des Versorgungsgangs. Er hat aus baulichen Gründen keinen frontalen Eingang, sondern zwei Türen, eine links, eine rechts. Wenn wir mit sehr großen Besucherzahlen rechnen, nehmen wir auch immer wieder diesen Raum – dann können die Besucher der Reihe nach durch die eine Tür eintreten, am Verstorbenen vorbeigehen, stehen bleiben und den Raum durch die andere Tür wieder verlassen. Ich plädierte dafür, dass wir diesen Raum nehmen, meine Frau sprach sich für die Kapelle aus. Auch die anderen Damen im Büro meinten, die Kapelle sei besser, während die Männer sich hinter mich stellten. Frauen haben da wohl eigene Vorstellungen, und in diesem Fall sollten sie recht behalten. Wir haben Maria in der Kapelle aufgebahrt. Die Vorhänge vor den hohen Buntglasfenstern haben wir nur einen Spaltbreit geöffnet, das Licht streift dann in langen hellen Fingern hindurch und beleuchtet den Raum nur spärlich. Der Sarg steht ganz hinten auf einem Podest, er ist geöffnet; die Kleine liegt friedlich darin, wie schlafend, ein schönes Kind. Blass ist sie, und ihre dunklen Augenbrauen stechen hervor. Unser Thanatopraktiker Rob hat beste Arbeit geleistet, pudert noch etwas und legt dann einen weißen, durchsichtigen Schleier über das Gesicht des Kindes. Besser ist das, es mildert alles etwas ab.

Hinter dem Sarg stehen neun große schwere Kerzenleuchter, auf denen dicke Kerzen brennen. Meine Frau hat Blumen bestellt – weiße Blumen mit viel Grün drum herum, lauter kleine Gestecke, die seitlich neben dem Sarg stehen. Sie hat auch eine CD gefunden, »Wellness-Musik« steht auf der Hülle – na ja, ich weiß ja nicht.

Aber die Leute werden es auch nicht wissen, und die Musik klingt sehr gut: weiche, sanfte Klänge, wie fließendes Wasser, harmonisch, irgendwie beruhigend. Die Frauen haben noch rote Rosenblätter besorgt und streuen sie über die Decke der Kleinen. Alles ist nahezu perfekt, doch eins gefällt mir nicht: Der kleine weiße offene Sarg wirkt wie ein Präsentierteller. Ich ordne an, den Sarg nicht längs, sondern quer hinzustellen. Herr Huber stattet den Deckel des Sarges noch mit einer Seidenbespannung aus und bringt ihn in die Aufbahrungshalle. Wir bringen ihn in hochgeklappter Position am Sarg an – das gibt ein perfektes Bild. Es sieht jetzt viel geborgener aus, finde ich. Mimi saugt den dicken Teppichboden ab, auf dem noch Blumenreste zu sehen sind. Nächstes Mal nehme ich auf jeden Fall eine andere Sorte Teppich – auf diesem hier muss man immer in die gleiche Richtung saugen, damit es keine Spuren gibt. Anschließend zünden wir im Nebenraum einige Räucherhütchen an – das legt einen bestimmten Duft über das Ganze –, dann noch einmal die Lüftung einschalten, damit es nicht zu stark wird. Wir richten im Vorraum Wasser und Kaffee, ein letzter Blick, alles ist okay. Jetzt können die Leute kommen.

Eine halbe Stunde später geht es los. Ein Onkel bildet die Vorhut. Er gibt sich sachlich und erklärt, dass alles in Ordnung kommt und dass es kein Verfahren gegen die Mutter gibt – ich bin beruhigt.

Dann kommen noch mehr Männer; keiner traut sich als Erster in die Kapelle, sie verstecken sich hinter recht lautem und durch wilde Gesten unterstrichenem Gespräch. Auf einmal tritt Ruhe ein, die Eltern des Kindes kommen und hinter ihnen rund vierzig Personen aller Altersklassen. Der Vater hat die Mutter am Arm und begrüßt mich. Ich schaue ihn fragend an, er nickt. Ich öffne die beiden Flügeltüren, die Eltern treten näher, bleiben stehen, schauen den Gang in der Mitte entlang, sehen den kleinen Sarg, und die Mutter schluchzt auf. Mein Gott, ich will nicht in deren Haut stecken, denke an meine Kinder …

Nach einer Sekunde des Verharrens gehen sie los, langsam, ganz langsam nähern sie sich dem Sarg. Die anderen bleiben draußen, lassen ihnen Privatsphäre, schenken ihnen die Minuten des schlimmen, aber so wichtigen Abschiednehmens. Ich höre, dass die Mutter noch mehr weint, sie sind jetzt direkt am Sarg, der Vater streichelt über die Decke, zupft am Schleier. Die anderen betreten den Raum, gehen nach vorne, einer nach dem anderen, manche als Paar zu zweit. So stehen sie da, es wird geweint und getuschelt, doch alle sind sehr ruhig. Ganz anders, als ich es erwart hatte – kein Palaver, kein theatralisches Geheule, es ist Frieden, es ist Ruhe. Eine ältere Dame, vielleicht die Großmutter, muss sich setzen; eine Mitarbeiterin hilft ihr und bringt ihr ein Glas Wasser; auch andere nehmen Platz. Ich nicke dem Mann am CD-Player zu, er dreht die Musik etwas lauter. Alle sitzen, nur die Eltern stehen noch am Sarg, die Köpfe aneinandergelegt …

Eine halbe Stunde geht das so. Dann geht der Vater vor und tut etwas, womit ich nicht gerechnet habe: Er lüftet den Schleier und küsst sein totes Kind auf die Stirn. Die Mutter folgt und nach ihr alle anderen. Jeder steht auf, tritt an den Sarg, an dessen Kopfende die Eltern jetzt stehen, jeder küsst die Kleine auf die Stirn – die wenigen Jugendlichen und Kinder ausgenommen, die einfach nur zum Sarg gehen und kurz stehen bleiben. Danach verlässt man die Kapelle und lässt schließlich die Eltern allein zurück.

Der Vater sieht mich hilfesuchend an, ich gehe langsam hin. Was will er?

»Hammer!«, sagt er zu mir, ich nicke einem Mitarbeiter zu. Es dauert etwas, und wir finden Hammer und Nägel, zwei Frauen holen die Mutter ab und führen sie hinaus. Und dann steht er da, dieser Mann aus Italien, und nagelt einsam und weinend den Sarg seiner kleinen Tochter zu. Man muss das nicht, man macht das normalerweise nicht, aber er tut es, Schlag für Schlag treibt er die Nägel in das Holz. Ich weiß nicht, ob es sechs oder acht Nägel sind, dann ist er fertig, streicht einmal über den Deckel und nickt – ja, das hat er gut gemacht. Für ihn ist damit alles erledigt, ein Abschluss gefunden, der letzte schwere Akt vollbracht. Dicke Tränen laufen über sei Gesicht.

Er drückt mir den Hammer in die Hand, umarmt mich, seine Tränen nässen meinen Hemdkragen, und ich weine ihm auf die Schulter.

Ich glaube, alle haben geweint.