38237.fb2 Gestatten, Bestatter! - Bei Uns Liegen Sie Richtig - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 12

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Olugulade

Man stellt mir auch immer wieder die Frage, ob mich als Bestatter ein Sterbefall noch berühren kann, ob ich mitleide und mitempfinde. Nun, mitempfinden muss man, mitleiden kann man oft nicht, tut es aber hin und wieder doch. Glücklicherweise bestatten wir ja überwiegend alte Leute, die ihr Leben hinter sich haben, deren Zeit einfach gekommen ist. Wollte ich da jedes Mal, so schwer der Verlust auch für die Familie sein mag, großartig in Trauer verfallen, hätte ich keinen klaren Kopf, um die Sache ordentlich abwickeln zu können. Bestatter müssen auch Distanz bewahren. Man würde verrückt, würde man bei jedem Verstorbenen emotional beteiligt sein. Doch es gibt natürlich nicht nur alte Menschen, die sterben, und es gibt Schicksale, die einen ganz besonders berühren. Eine Geschichte hat uns anderthalb Jahre lang beschäftigt. Es ist die längste Geschichte in diesem Buch, weil es da so viel zu erzählen gibt.

Olugulade ist nicht etwa eine besondere Schokoladensorte, Olugulade ist ein Nachname aus Nigeria und gehört einem Afrikaner, der auch noch zwei Vornamen hat, nämlich Kaldawule und Emmanuel.

Insgesamt hört der Mann also auf den Namen Kaldawule Emmanuel Olugulade.

Aber genau genommen hört Kaldawule auf gar nichts mehr, er ist nämlich tot – und es sieht so aus, als würde er uns noch einige Probleme bereiten, denn viel mehr als diesen Namen hat er nicht.

Mittwochabend suchte mich Herr Bauer auf. Herrn Bauer kenne ich schon viele Jahre, er hat hier seine Mutter und seinen Vater bestatten lassen und vor einigen Monaten für seine schwerkranke und pflegebedürftige Frau alles geregelt, die schon seit einem halben Jahr langsam vor sich hin stirbt. Außerdem ist er Vermieter und hat eine Wohnung an ebenjenen Herrn Olugulade vermietet.

Diese Wohnung wollte der Nigerianer gestern gegen 15 Uhr beziehen, ist zu diesem Behufe mit einem angemieteten Kleinlaster vorgefahren und hat sich zwei Straßen weiter den Wohnungsschlüssel bei Herrn Bauer abgeholt und bei diesem große Verwunderung hinterlassen, weil er für das Abladen seines Hausrates keine Hilfe organisiert hatte. Nur sein neunjähriger Sohn Daniel begleitete ihn. Gegen 16 Uhr dauerte Herrn Bauer der Afrikaner, und er beschloss, mal nach ihm zu sehen und ihm bei Bedarf seine Hilfe anzubieten. Doch als er in die Straße einbog, sah er schon den kleinen Daniel herumlaufen, der, wie er dann erfuhr, einen Arzt suchte, denn der Vater habe Husten und brauche Medizin. Herr Bauer nahm das Kind erst mal an die Hand, um nach Vater Olugulade zu schauen. Er konnte aber nicht viel helfen, denn Olugulade saß auf der Toilette und war tot.

Krankenwagen, Notarzt, Polizei, Abtransport durch Pietät Eichenlaub, Rechtsmedizin.

Die Polizei wollte auch Daniel gleich mitnehmen, um ihn dem Notfalldienst des Jugendamtes zu überstellen, doch Herr Bauer meinte, das Kind könne vorübergehend auch bei ihm bleiben.

Nun sitzt er vor mir, will wissen, wie es weitergeht, und ist ziemlich verwirrt.

Mein Einwand, dass sich die Behörden um alles kümmern werden, beruhigt ihn nicht.

»Ich weiß von Herrn Olugulade nur, dass er eine Frau hat, die hochschwanger irgendwo in einem Krankenhaus liegt, ich glaube in Bielefeld. Man kann den Mann doch nicht jetzt einfach beerdigen oder so, ohne dass das geklärt ist.«

»Was hat denn das Kind gesagt, wo seine Mutter ist?«, frage ich.

»Der weiß es überhaupt nicht, der weiß nur, dass sie in einer Stadt mit B ist. Was ist, wenn die die Frau nicht rechtzeitig finden?«

Da hat er recht. Wir sind ja durch die Superermittler vom CSI verwöhnt, die nur die Farbe eines Ohrläppchens in ihren Supercomputer eintippen und sofort auf dem Handy die komplette Strafakte jeder Person nachlesen und diese Person auch noch per Satellitenbild orten können. Die Wirklichkeit deutscher Polizeiarbeit sieht doch ein wenig anders aus, und so erkläre ich Herrn Bauer, dass ich mit den ermittelnden Beamten sprechen werde – mal sehen, ob die ihm helfen können.

»Gut«, sage ich, stehe auf und will Herrn Bauer hinausbegleiten, merke aber, dass er noch etwas auf dem Herzen hat. »Ist noch was?«, erkundige ich mich.

»Ja, ich habe doch den kleinen schwarzen Jungen aufgenommen. Aber mir wird das zu viel mit meiner Frau und dem Kind. Kann der nicht zu Ihnen kommen? Sie haben doch auch Kinder.«

»Bringen Sie ihn mal her, meine Frau kümmert sich darum. Da werden wir schon eine Lösung finden.«

Jetzt haben wir also ein Kind mehr – zumindest mal für ein, zwei Tage, bis wir genau wissen, wo die Mutter des Kleinen steckt.

Freitagvormittag wollten die Herren der Kripo noch einmal in die Wohnung der Olugulades, um mit Klebeband und Plastikröhrchen Proben vom Teppichboden zu nehmen. Ich erfahre, dass Herr Olugulade anscheinend an einer Art asthmatischem Anfall verstorben, also quasi auf dem Klo sitzend erstickt ist. Als eine der möglichen Ursachen vermutet man Fasern vom Bodenbelag, auf dem der Afrikaner genächtigt hatte. Sie erzählen mir noch, dass er zuvor in Duisburg im Ruhrgebiet gewohnt habe. Er sei dort als Student eingeschrieben gewesen, habe aber jetzt hier einen Studienplatz bekommen und sei deshalb kurzerhand umgezogen. Seine Frau, so viel weiß man, ist Krankenschwester und arbeitete vor der Schwangerschaft in einem Duisburger Krankenhaus. Mehr weiß man nicht, vor allem nicht, wo sie jetzt ist. Olugulade habe sie in ein Krankenhaus gebracht, aber keiner weiß, in welches. Und es sei eben auch nicht so wie im Fernsehen, dass man mal eben alle Krankenhäuser abtelefonieren könne. Das versuche man zwar, aber eben nur bei denen, die am ehesten in Frage kommen, nicht bei allen. Was denn jetzt mit dem Kind sei, erkundige ich mich, und die Beamten verweisen mich an das Jugendamt. Dort sagt man mir, dass noch heute jemand bei uns vorbeikommt, also heißt es abwarten.

Die Kriminalbeamten erlauben mir außerdem, mich um Olugulades angemieteten Kleinlaster samt seinem Inhalt zu kümmern. Wie nett! Obwohl der Junge erst seit einem Tag bei uns ist, muss ich sagen, Daniel ist ein ganz merkwürdiges Kind. Sehr eloquent, sehr gebildet, aber ein kleiner Besserwisser und Klugscheißer. Meine Kinder streiten sich mit ihm, es ist der Streit von durchsozialisierten Geschwisterkindern mit einem Erst- und Einziggeborenen. Ich glaube, dem kann es nur guttun, wenn er ein bisschen bei uns bleibt. Ob er das aber kann, wird sich zeigen. Mir und meiner Frau macht das nichts aus – unser Haus ist groß genug, und einen Mund mehr zu stopfen kann keine große Kunst sein.

Vom Jugendamt ist doch keiner mehr gekommen – wie denn auch, es ist ja Freitag. Am Montag, da will man jetzt »mal vorbeischauen«. Allerdings hat sich die örtliche Afrikagruppe zu Wort gemeldet. Diese Leute sind kirchlich organisiert, sammeln seit Jahren sehr löblich für Afrika und haben schon einiges gestiftet und gespendet.

So ein kleines, armes Negerkind käme denen jetzt wohl gerade recht, das säße bestimmt schön leidend in der ersten Reihe und würde die Spendenbereitschaft bei der sonntäglichen Kollekte sicher in die Höhe treiben. Eine Frau Birnbaumer-Nüsselschweif jedenfalls hat ganz aufgeregt angerufen und will das Kind jetzt vor uns retten. »Frau Rüsselschwein«, sage ich zu ihr, »der Junge ist bestens bei uns aufgehoben, und ich denke, dass er gerade genug durchmacht, da sollten wir ihn jetzt nicht noch herumreichen wie einen Wanderpokal.«

Ich weiß nicht genau, ob es am Wort »Rüsselschwein« liegt oder am Rest von dem, was ich gesagt habe – jedenfalls schnaubt sie nur kurz und legt auf.

Der Kleinlaster ist jetzt wieder beim Vermieter. Die Papiere lagen im Handschuhfach. Ich habe noch nie einen Laster gesehen, der so chaotisch und ohne Sinn und Verstand beladen worden ist. Zerbrechliches einfach in Eimer gepackt, Schweres auf Leichtes gelegt, nichts richtig befestigt, das meiste in Einkaufstüten und ein randvoller Kühlschrank, aus dem es schon abartig roch und aus dem Tauwasser lief, quer obenauf.

Jetzt steht der Hausrat, der ein bisschen aussieht wie vom Sperrmüll, in einer unserer Garagen. Wir haben nichts, aber auch gar nichts gefunden, was Daniel in irgendeiner Weise zum Spielen oder Anziehen dienen könnte. Da merkt man, dass die Mutter beim Umziehen nicht hat helfen können – das war afrikanische Männerarbeit.

Am Abend sitze ich vor dem Kamin und trinke einen Cognac, was ich sonst nie tue, aber heute muss es sein. Das Schicksal von unserem Pflegekind nimmt mich ziemlich mit. Seinen Vater habe ich nicht gekannt, er ist halt gestorben, das tun viele. Aber was wird aus dem Jungen? Was wird aus seiner Mutter? Wenn da alles klargeht, entbindet die in absehbarer Zeit und steht dann mit zwei Kindern in einem fremden Land vollkommen alleine da. Schrecklich, was ist das für eine Perspektive?

Ein paar Minuten zuvor waren meine Frau und ich noch einmal bei Daniel, bei uns wird früh zu Bett gegangen (wenn man ein Kind ist). Er ist katholisch und hat uns gefragt, ob wir mit ihm für seinen Papa beten. Das haben wir natürlich gemacht. Dann druckste er so herum und wollte uns noch etwas fragen. »Hast du noch was auf dem Herzen?«, hat meine Frau ihn gefragt, und seine Augen leuchteten: »Ja, ich hätte so gerne einen Fußball, einen eigenen Fußball.«

Unter unserer Treppe steht eine große gelbe Plastikbox, in der unsere Kinder bestimmt ein Dutzend Fußbälle deponiert haben, aber trotzdem fahre ich morgen mit dem Jungen los, um ihm einen Fußball zu kaufen – vielleicht taut ihn das etwas auf. Im Moment scheint ihm der Schock noch so in den Knochen zu sitzen, dass man nichts Vernünftiges aus ihm herausbekommen kann.

Er antwortet mit Gegenfragen, ausweichend oder schweigt einfach, wenn man ihn etwas fragt. Ansonsten bewegt er sich sehr grazil, hoch aufgereckt, zeigt eine unbeschreibliche Würde und strahlt einen Stolz aus, so etwas habe ich bei einem Kind noch nicht gesehen. Nun soll er aber erst mal eine Nacht schlafen, morgen ist auch noch ein Tag.

Inzwischen habe ich mit unserem Rechtsberater gesprochen. Wie ich sieht er keine Chance, dass wir die Bestattung des Herrn Olugulade durchführen können, zumindest nicht ohne einen Auftrag von der Ehefrau.

Ja – und die wird sicherlich ganz andere Sorgen haben, denn ich glaube, dass sie keinen blassen Schimmer von ihrer Situation hat. Sie wird vielleicht auf einen Anruf ihres Mannes warten, aber der wird nicht kommen. Das Mobiltelefon des seligen Herrn Olugulade hat die Kripo, ein Prepaid-Gerät mit 14 Cent Guthaben und drei eingespeicherten Nummern.

Samstagvormittag haben wir, wie versprochen, dem kleinen Daniel einen Fußball gekauft. Meine Frau hat ihm auch Unterwäsche und ein paar Shirts geholt, ansonsten passen ihm die Sachen, die wir noch von unserem Größeren haben. Ich bleibe dabei, er ist ein Klugscheißer und altkluger Besserwisser. Ich kann es nicht richtig beschreiben, aber er benimmt sich wie der Prinz von Zamunda.

Egal, er hat einen Kükenbonus – und natürlich berücksichtigen wir die besondere Situation, in der er jetzt steckt. Allerdings halte ich nichts davon, dass wir ihn jetzt über Gebühr schonen oder bevorzugen.

Am selben Vormittag taucht Frau Birnbaumer-Nüsselschweif hier auf und bringt zwei große Müllsäcke voller Altkleider. In ihrer Begleitung befindet sich Herr Dr. Raps, der in der Afrikagruppe einen besonderen Status genießt, weil er, wie ich erfahre, als Einziger schon mal in Afrika war. Insbesondere möchte sich Frau Birnbaumer-Nüsselschweif durch persönliche Inaugenscheinnahme davon überzeugen, dass Daniel, den sie vehement »das hinterbliebene Kind« nennt, bei uns auch wirklich gut untergebracht ist. Dabei wird sie nicht müde, zu beteuern, dass es dem hinterbliebenen Kind in ihrer Obhut gewiss viel besserginge. Ich lehne es aber ab, jetzt über einen Umzug Daniels zu verhandeln. Am Montag will jemand vom Jugendamt kommen, und dann wird sich alles weisen.

Sie werde dann die nigerianische Botschaft anrufen und sich erkundigen, wie alles weitergeht. Das halte ich jedoch für keine gute Idee, da ich keine Ahnung habe, welchen Status die Olugulades hier genießen – und man sollte in einer solchen Situation keine schlafenden Hunde wecken.

Dr. Raps tut so, als sei ich der Quertreiber, und redet beruhigend auf die Birnbaumer ein, als ob er einem vernunftbegabten Menschen das Verhalten eines Irren begreiflich machen müsste. Die beiden sehen in mir einen Konkurrenten, der ihnen quasi eine Trophäe streitig macht, von der sie glauben, dass sie ihnen zusteht.

Merkwürdige Leute; ich komplimentiere sie hinaus.

Wenig später inspizieren meine Frau und ich die Klamotten, die das Rüsselschwein gebracht hat. Darunter ein fadenscheiniger Janker in Größe 52, ein Filzhut, der bestimmt Luis Trenker gehört hat, und etliche Hosen, die sogar mir zu lang wären. Zwei Hemden könnten Daniel passen, den Rest kann sie zurückhaben.

Währenddessen spielt Daniel auf dem Hof Fußball, aber da es viel zu kalt ist, rufe ich ihn herein. Ich will nochmals nach der geheimnisvollen Stadt mit B forschen und habe mir allerlei clevere Fragen zurechtgelegt. »Das Krankenhaus, in dem deine Mutter liegt«, beginne ich, doch er unterbricht mich: »Sie meinen das Krankenhaus in Bonn?« Und schon scheint das Geheimnis gelüftet zu sein. Ob sich da eine Blockade gelöst hat, oder ob Daniel gestern einfach zu aufgeregt war?

Ich bin jedenfalls ziemlich aufgeregt, als ich der Reihe nach die Bonner Krankenhäuser abtelefoniere – schon beim zweiten habe ich Glück. Olama Olugulade ist dort bekannt, man verbindet mich »auf Station«, und es meldet sich Schwester Cordula. Die ist Nonne, sehr bemüht und heftig erschrocken, als ich ihr berichte, was vorgefallen ist. Ja, klar, den verstorbenen Mann kenne sie, der habe seine Frau gebracht, die stehe kurz vor der Entbindung, morgen, spätestens übermorgen sei es so weit. Man könne der werdenden Mutter in Anbetracht der schwierigen Lage unmöglich jetzt mit einer solchen Botschaft kommen – und überhaupt könne ich so was ja wohl schlecht telefonisch machen.

»Ich will das überhaupt nicht machen«, protestiere ich. »Ich dachte eher daran, dass ich Sie informiere und Sie das dann übernehmen.«

»Das muss schon einer machen, der die Familie kennt«, sagt Schwester Cordula, und ich erkläre ihr nochmals, dass ich die Familie überhaupt nicht kenne. »Ja, trotzdem, Sie sind ja quasi der Ersatzvater für den Kleinen, also können Sie auch mit der Mutter sprechen, aber frühestens am Dienstag.« Ich will nochmals protestieren, aber Schwester Cordula lässt sich in ihrer Wegbeschreibung nicht unterbrechen.

Nee, das mach ich nicht. Ich bin Bestatter und kein Todesbotschaftsüberbringer.

Ich rufe Pfarrer Schmidt an. Er ist evangelisch und hat oft ganz gute Ideen, wenn ich in so Sachen nicht weiterweiß. Er hört sich meine Geschichte an, unterbricht mich kaum, fragt nur zweimal kurz nach, und dann warte ich auf seinen Ratschlag. Statt mich aber nun zu bestärken, dass mich das alles nichts angeht, sagt er: »Dann werden wir beide am Dienstag eben nach Bonn fahren müssen.«

Kein Verlass mehr auf die Popen!

»Na ja«, sagt er, »überlegen Sie doch mal, in was für einer Situation die Frau ist. Die hat dann gerade ein Baby geboren und wartet sicher darauf, dass ihr Mann kommt oder sich meldet. Wollen Sie, dass dann ein Polizist ihr die Botschaft überbringt?«

Mann, ich wollte dem Herrn Bauer einen Gefallen tun, dem kleinen Daniel helfen, aber doch nicht so in die Sache hineingezogen werden.

Seit Montag weiß ich mehr von der Rechtsmedizin. Herr Olugulade ist an einem Lungenemphysem verstorben. Wodurch das genau verursacht worden ist und ob es kurzfristig aufgetreten ist, konnte oder wollte man mir nicht sagen. Jedenfalls sind damit die Untersuchungen abgeschlossen, keine Fremdeinwirkung, kein Suizid. Es ist im Moment ausgeschlossen, dass die Witwe irgendeinem Bestatter einen Auftrag erteilt, und bis Mitte der Woche will die Behörde nicht warten und vergibt dann den Auftrag von Amts wegen vermutlich an die Pietät Eichenlaub.

Ich schlage mich um solche Aufträge nicht, schon gar nicht um diesen Auftrag. Wenigstens ist die junge Frau von der Ortspolizeibehörde kooperativ. Sie habe kein vitales Interesse daran, dass die Bestattung auf Anordnung erfolge. Ich schildere ihr die vermutlich prekäre finanzielle Situation der Familie und biete einen Kompromiss an. Mit dem ist sie sehr einverstanden, denn er spart Geld, und das ist mir wichtig, denn ich habe das Gefühl, dass die Familie Olugulade auf sich selbst gestellt ist und hinterher selbst für die Kosten einstehen muss.

Das rechtsmedizinische Institut hat auch keine Probleme mit meiner Idee.

Also werden wir heute Nachmittag einen Sarg, den wir – sagen wir es mal so – »übrig haben«, dorthin bringen und den Verstorbenen ordnungsgemäß einbetten. Dann lassen wir den Sarg dort, denn der Verstorbene gilt dann für die Ortspolizei mit Duldung als versorgt, und es besteht kein Anlass, behördlicherseits tätig zu werden. Und den Sarg dort gekühlt aufzubewahren kostet auch nichts. Sobald ich mit der Ehefrau gesprochen habe, werden wir weitersehen, ob es eine Erd- oder Feuerbestattung gibt, auf welchem Friedhof und wie die Trauerfeier sein soll.

Die Damen vom Jugendamt sind auch hier gewesen. Man stellt sie sich ja immer etwas ältlich vor, mit Hosenanzügen und einem grauen Dutt, unfreundlich, schnippisch und durch und durch Beamte. Die Realität sieht anders aus: Die beiden waren eher jung, trugen Jeans und einen Haufen Unterlagen und waren überaus freundlich, hilfsbereit und betroffen. Sie wollten sehen, wo Daniel schläft, ob er was zum Anziehen und zum Spielen hat, und waren ganz angetan von der Idee, dass Daniel bis auf weiteres mit unseren Kindern in die Schule geht. Der Schulleiter hatte überhaupt keine Probleme damit und nahm diesen Vorschlag sofort an. Dann wollten die beiden Damen einzeln mit Daniel, mit meiner Frau und mit mir sprechen, dann noch mal mit meiner Frau und mir zusammen. Sie hatten etliche Fragebögen, fragten nach Einkommens- und Wohnverhältnissen, Ernährungsgewohnheiten und den sanitären Bedingungen. Dann machten wir einen Rundgang durch die Wohnräume, und damit war auch schon alles erledigt. Es gibt von Seiten der beiden keinerlei Bedenken, dass Daniel bis auf weiteres als Pflegekind bei uns bleiben kann. Morgen schon sollen wir ein entsprechendes Schreiben bekommen, und eine Überprüfung der Verhältnisse kann jederzeit unangekündigt, spätestens aber in vier Wochen erfolgen.

Für 14 Uhr hatte sich die Birnbaumer-Nüsselschweif angekündigt. Sie habe mir Wichtiges zu berichten.

Die Frau wollte es überhaupt nicht glauben, dass Daniel jetzt bei uns bleibt. Übers Wochenende habe sie bereits ein Kinderzimmer bei sich eingerichtet und bei den übrigen Mitgliedern der Afrikagruppe Spielzeug und Kleidung für das Kind gesammelt. »Das kann ich jetzt gar nicht ab«, sagt sie und zückt ihr Mobiltelefon, um mit ihrem Mann zu sprechen – und vor allem, um dann noch Dr. Raps anzurufen. Sie ist entrüstet. Während sie telefoniert, habe ich die Gelegenheit, sie mir näher anzuschauen. Sie ist eigentlich eine exakte Kopie von Heidi Klum, nur rund 15 Zentimeter größer und 100 Pfund schwerer und auch sonst ganz anders. Sie ist nicht schön, aber auch nicht unhässlich. Dann stiefelt sie auch schon mit dem Telefon nach draußen in die Halle.

In der Zwischenzeit klingelt mein Telefon. Es ist die Klinik in Bonn, diesmal eine Schwester Barbara, die eine etwas unangenehm hohe Stimme hat, aber sonst sehr sympathisch klingt. Das Kind sei geboren, ein Junge, 3420 Gramm, 55 Zentimeter. Ich kenne Frau Olugulade zwar nicht, freue mich aber wie ein Schneekönig. Da wäre aber noch was, sagt Schwester Barbara: »Jemand hat hier heute Mittag angerufen und wollte mit der Frau sprechen, von einem afrikanischen Verein war die Dame.«

»Von der Afrikagruppe?«, frage ich. »Eine Frau Birnbaumer-Nüsselschweif?«

»Afrikagruppe stimmt, an den genauen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber das, was Sie da gesagt haben, kommt schon hin.«

»Ja, und was wollte sie?«

»Die wollte der Frau Olugulade erzählen, dass ihr Mann gestorben ist und dass sie ein Schreiben per Fax haben möchte, damit sie auf das andere Kind aufpassen darf.«

Während mein Blutdruck bedrohlich ansteigt, beschwöre ich die Schwester, Frau Olugulade abzuschirmen.

»Machen Sie sich keine Gedanken«, sagt die Schwester, »wir haben der Frau jetzt was gegeben, die braucht jetzt sehr viel Ruhe.«

»Und sie hat keine Ahnung, was passiert ist?«

»Nein, nicht die geringste. Der verstorbene Mann scheint sowieso ein bisschen sehr afrikanisch gewesen zu sein, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Ich weiß zwar nicht genau, was sie meint, aber mir soll das im Moment recht sein. Ich sage Schwester Barbara noch, dass ich morgen kommen möchte und einen Pfarrer von hier mitbringe. Das findet sie gut, der Krankenhauspfarrer sei schon fast 80 und auch nicht bei bester Gesundheit.

Die Nüsselschwein kommt wieder herein, und ich beende mein Gespräch, um mich ihr zuzuwenden. »Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, in der Klinik anzurufen?«

»Es kann ja wohl nicht sein, dass man der Frau einfach ihr Kind wegnimmt«, wehrt sie sich.

»Ja, wer will das denn?«, frage ich. »Ich habe selbst Kinder, ich brauche weiß Gott kein weiteres Pflegekind mehr, nicht mit aller Gewalt. Kein Mensch will der Frau ihr Kind wegnehmen. Wir kümmern uns um den Kleinen, weil der hier fremd ist, niemanden hat und Kinder irgendjemanden brauchen. Sobald die Frau dazu in der Lage ist, kann Daniel doch wieder zu ihr.«

»Bis dahin aber ist er hier untergebracht«, sagt Heidi Klums fette Schwester und zeigt angewidert im Raum herum, »in diesem … diesem Etablissement!«

»Sie haben recht, Frau Birnbaumer-Nüsselschweif, das ist hier ein Bestattungshaus, und unsere Kinder müssen sich jede Nacht das Bett mit einer kalten Leiche teilen und nachmittags mit Totenschädeln Fußball spielen. Und zu essen gibt es bei uns nur Leichenmaden und frische Innereien.«

»Sagen Sie mal, wollen Sie mich jetzt zu meinem ganzen Unglück auch noch auf den Arm nehmen?«

Ostentativ lasse ich meinen Blick über ihren massigen Körper schweifen und schüttele langsam den Kopf: »Nein, das glaube ich kaum.«

»Damit gehe ich ganz und gar nicht konform! Der einzige sinnvolle Platz für den Jungen ist bei mir, bei einer richtigen Mutter, einer Frau und nicht irgendwo bei irgendwelchen Leuten.«

»Sie gehen mir so was von auf den Zeiger, das glauben Sie gar nicht. Wenn Sie was Sinnvolles tun wollen, dann kümmern Sie sich darum, dass Frau Olugulade eine Unterkunft hat. Wir wissen zwar nicht, ob sie überhaupt hierhin kommen will, aber es besteht doch immerhin die Möglichkeit, oder?«

Entrüstet packt die Afrika-Helferin ihre Sachen zusammen und zieht ab wie eine Fregatte unter Volldampf. Ich begleite sie zur Tür und winke ihr nicht hinterher, als sie mit ihrem Sharan um die Ecke biegt. Innerlich koche ich! Schon wieder geht das Telefon. Ein Mann namens Jussip ist am Apparat, und ich höre sofort, dass es ein Afrikaner ist. Er spricht ein gutes Deutsch mit starkem Akzent, für mich aber viel zu schnell.

Ich bitte ihn, langsamer zu sprechen, dann verstehe ich ihn. Er ist der allerbeste Freund der Familie und hat heute erfahren, was passiert ist. Unsere Polizei hat in Duisburg ermittelt und ist auf ihn gestoßen. Er ist kein Nigerianer, sondern aus Ghana, und er ist vollkommen erregt und traurig. Ob das alles stimme und was denn jetzt sei, will er wissen. Ich erzähle ihm alles, was er wissen will, und er bittet darum, eine Weile darüber nachzudenken, dann werde er sich wieder melden. Noch bevor ich etwas sagen kann, hat er aufgelegt. Im Display stand nur »unterdrückte Nummer«.

Ja, Jussip sei ein ganz guter Freund, bestätigt Daniel. Der sei ein guter Mann. Nun denn, dann warte ich mal auf den Anruf von Jussip.

Am nächsten Tag gönnen wir – Pfarrer Schmidt, Daniel und ich – uns den Luxus und lassen uns von einem meiner Männer fahren. Das ist ja schon eine Strecke, und ich war der Meinung, dass dem Pfarrer und mir vorher ein Glas Sekt und hinterher ein Schnaps ganz guttun würden. So haben wir das auch gemacht – so ein wenig Sekt beschwingt wenigstens ein bisschen.

So kleine afrikanische Babys sind ja so was von süß. Ich finde ja überhaupt alle Babys goldig, aber so kleine dunkelhäutige Krausköpfchen sind was ganz Besonderes. Ganz klitzekleine Krüselchen hat der Kleine auf dem Kopf. Benjamin soll er heißen und noch einen afrikanischen Namen dazubekommen, und Benjamin hat man uns zuerst gezeigt.

Nach der Babyschau ging es auf Station III, und wir kamen zum Zimmer von Frau Olama Olugulade. Die hatte schon am Verhalten der Schwestern gespürt, dass irgendwas im Gange ist, und den ganzen Vormittag gefragt, ob was Besonderes sei. Ein Arzt und zwei Schwestern standen bereit, als wir die Zimmertür öffneten.

Daniel rannte als Erster hinein, und die beiden begrüßten sich laut und wortreich in einer Sprache, die ich nicht kenne, die aber von englischen Vokabeln durchsetzt zu sein scheint, denn ab und zu verstand ich ein einzelnes Wort.

Als Pfarrer Schmidt und ich das Zimmer betraten, verstummte Frau Olugulade kurz und rief sofort: »Was ist mit meine Mann? Wo ist meine Mann? Was ist passiert? Was ist passiert?«

Wer jetzt meint, man könne bei einer so hochsensibilisierten Frau noch irgendwelche Floskeln oder beruhigenden Einführungssätze anbringen, der täuscht sich. Pfarrer Schmidt und ich schauten uns an. Die ganze Fahrt über hatten wir es tunlichst vermieden, darüber zu sprechen, wer die Botschaft überbringt. Jetzt ging er vor, setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, nahm die Hand der Frau und sprach leise auf sie ein. Zuerst schwieg die Frau; das laute Wehklagen, das dann folgte, ist mit Worten kaum zu beschreiben.

Sie setzte sich auf, begann den Oberkörper vor- und zurückzuwiegen und schlug mit den Händen auf die Bettdecke. Dabei stimmte sie ein sich immer wiederholendes Wehklagen an, das sich wie »Oh weia, oh weia« anhörte, sicher aber anders lautete. Jetzt erst kamen die beiden Schwestern ins Zimmer und sprachen ebenfalls beruhigend auf die Frau ein. Daniel saß die ganze Zeit am Fußende und weinte, es war das erste Mal, dass er so richtig laut und heftig weinte. Die ganzen Tage bei uns hatte er sich mal das eine oder andere kleine Tränchen erlaubt, aber ansonsten keine Regung in dieser Richtung gezeigt. Im Grunde war ich froh, dass dieser Stau endlich aufgelöst war und die Tränen fließen konnten.

Eine halbe Stunde später sitzen wir im Wartebereich der Station. Man hat uns Kaffee gebracht, so richtig schönen geschmacksbefreiten Krankenhauskaffee. Frau Olugulade hat eine Spritze bekommen, und wir sollen ihr wenigstens eine gute halbe Stunde Zeit geben. Im Grunde ist es gar nicht die richtige Zeit und Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Man müsste bei ihr bleiben können, aber wir müssen wieder zurück. Pfarrer Schmidt und ich besprechen, dass wir der Frau vielleicht dadurch helfen, dass wir ihr sagen, dass sie sich zunächst um nichts Sorgen machen muss und dass wir uns kümmern werden. So machen wir es auch. Es ist das erste Mal, dass ich mit Frau Olugulade sprechen kann. »Wie kommt das, dass mein Mann tot ist, wie kommt das?« Wir versuchen es zu erklären, sitzen oft nur minutenlang schweigend da, sprechen ihr Mut zu, mehr können wir nicht tun.

Der Krankenhauspfarrer kommt dazu. Er macht überhaupt keinen senilen Eindruck, sondern ist sehr bestimmt. Er stammt aus Bayern, das hört man, er ist etwas laut, aber sehr lieb. Mit seinem weißen Bart sieht er ein bisschen aus wie ein Nikolaus in Schwarz. Wir schreiben alle unsere Telefonnummern auf, auch für Frau Olugulade fertigen wir einen Zettel aus. Daniel ist es, der nach fast anderthalb Stunden zum Aufbruch drängt – ich glaube, ihm wurde das alles zu viel.

Sie will den Kleinen nicht gehen lassen, eine Schwester muss sie halten, und erst als eine andere Schwester den frisch geschlüpften Benjamin bringt, bessert sich die Situation. Ich werde nie diese großen schwarzen Augen vergessen, mit denen sie uns hinterherschaute.

Als wir wieder daheim sind, erwartet uns meine Frau – sie hat Hähnchenflügel gebacken und Bier kaltgestellt. Das tut uns allen gut. Sie erzählt außerdem, dass die Birnbaumer-Nüsselschweif nach dem Unterricht vor der Schule gewartet habe und Daniel angeblich nur »was Schönes« schenken wollte. Unsere Kinder haben ihr aber gesagt, dass Daniel erst morgen zur Schule kommt, dann ist sie beleidigt abgezogen. Morgen werden wir Daniel hinbringen und auch wieder abholen. Nicht dass der noch vernüsselschweift wird.

Ein schrecklicher Tag. Ich bin froh, wenn ich nachher ins Bett gehen und den Tag beenden kann. Vorher noch »Dr. House« im Fernsehen anschauen und dann langsam in Richtung Federbett.

Der folgende Tag wird jedoch auch nicht viel besser, denn die Birnbaumer-Nüsselschweif macht jetzt Bambule. Sie hat nun neben Herrn Dr. Raps auch den Vorsitzenden des Heimatvereins und die halbe Kirchengemeinde gegen mich aufgebracht. Das Telefon steht praktisch nicht mehr still. Hinter teilweise scheinheilig vorgetragenen Hilfsangeboten lauert stets der Vorwurf, warum wir das Kind nicht in die richtigen Hände geben wollen. Aus dem Anruf der Müttervorsitzenden, also der Vorsitzenden des Mutterkreises der Kirchengemeinde, kann ich aber einen wichtigen Hinweis über die Beweggründe der Birnbaumer-Nüsselschweif entnehmen. Die habe nämlich vor acht Jahren eine Fehlgeburt erlitten, und mittlerweile sei für sie aus Altersgründen »der Zug abgefahren« – daher habe sie einen tiefen, aber unerfüllten Kinderwunsch. Ich weiß gar nicht, wie ihr Mann jetzt heißt, ist das der Herr Birnbaumer oder der Herr Nüsselschweif? Jedenfalls ist er wohl um beinahe zwanzig Jahre älter als seine mutternde Frau, und deshalb kommen die Birnbaumer-Nüsselschweifs angeblich für eine Adoption nicht mehr in Frage.

Sie habe sich daraufhin der Zucht von Yorkshire-Terriern hingegeben, das weitere Ausüben dieses Gewerbes sei ihr aber behördlicherseits untersagt worden. Sie habe ihre Zuchthündinnen zu oft »belegen« lassen, um möglichst oft und möglichst viele Welpen zu haben, von denen sie sich auch nur sehr schwer trennen konnte. Die Müttervorsitzende erzählt weiter, dass die Nüsselschweifs heute gar keine Tiere mehr hätten, und das sei doch eine ganz arme Frau, die ich jetzt so gemein behandeln würde.

Mann, ich reiße mich doch wirklich nicht um diesen kleinen schwarzen Jungen. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es ihm guttäte, käme er jetzt alle paar Tage in eine andere Familie. Der kleine Prinz von Zamunda hat sich ganz gut eingelebt und nutzt wie selbstverständlich die Gegebenheiten des Hauses. Meinen Kindern gegenüber benimmt er sich oft wie ein Feldwebel, der sofort beleidigt ist, wenn nicht alle nach seiner Pfeife tanzen. Es kann ihm nicht schaden, sich ein bisschen einfügen zu müssen, finde ich.

Jussip hat sich auch wieder gemeldet. Er will nächste Woche nach Bonn fahren, Frau Olugulade dort abholen und mit dem kleinen Benjamin hierherbringen.

Damit stellt sich für mich nun das Problem, wo ich die Familie unterbringe. Im Rathaus sagt man mir, das sei doch kein Problem, die könnten in die Siedlung. Mit »der Siedlung« sind die Baracken gemeint, die zwar inzwischen recht ordentlich hergerichtet sind, aber dennoch Einfachstwohnungen für Obdachlose und Zwangsgeräumte, in denen (von Ausnahmen mal abgesehen) nur Leute wohnen, denen ich die Olugulades nicht anvertrauen möchte.

Mein Fahrer Freddy ist vor drei Monaten auch zwangsgeräumt worden. Die näheren Umstände tun hier nichts zur Sache, nur so viel sei erzählt, dass da eine trunksüchtige Ehefrau, eine bevorstehende Scheidung und ständig versoffene Mieten im Spiel waren. Und der Freddy gibt mir heute den entscheidenden Tipp. Er habe damals bei einer bestimmten Wohnungsbaugenossenschaft angerufen, die sich besonders für ihn eingesetzt habe. Auf Grund der Umstände habe man eine Monatsmiete »Sicherheit« verlangt, ihm aber quasi über Nacht eine Zweizimmerwohnung zugewiesen. Dort will ich nachher mal anrufen, vielleicht können die auch für die Olugulades etwas tun.

Inzwischen ist es etwas still geworden um die Olugulades, seit unserer Fahrt nach Bonn vor ein paar Tagen hat sich nichts Neues ergeben. Frau Birnbaumer-Nüsselschweif scheint sich selbst etwas ins Abseits geschossen zu haben – wie mir zugetragen wurde, scheint ihr Rückhalt in ihrer Kirchengemeinde doch nicht so groß zu sein, wie ich zunächst dachte. Diejenigen, die bei mir anriefen, hatten sich wohl hauptsächlich von ihr dazu anstacheln lassen. Die meisten anderen aktiven Gemeindemitglieder sehen das eher pragmatisch und sind einfach froh darüber, dass Daniel untergebracht ist.

Herr Bauer hat seine Wohnung nun doch nochmals angeboten. Zuerst hatte er gesagt, dass ihm das jetzt, auch wegen des Todes seiner Frau, alles zu viel wird und er gar nicht weiß, ob er hierbleibt oder zu seiner Tochter nach Ulm ziehen wird. Aber offenbar hat ihm seine Tochter anlässlich der Beerdigung das unwiderstehliche Angebot gemacht, auf das alle Senioren sehnsüchtig warten, nämlich ihm in Ulm einen schönen Heimplatz zu besorgen. Ich kann verstehen, dass er lieber hierbleibt.Aber auch die Wohnungsgenossenschaft hat mir eine Wohnung für die Olugulades in Aussicht gestellt, und genau die Wohnung nehmen wir jetzt erst mal. Das hat einen einfachen Grund: Kein Mensch weiß bisher, ob Frau Olugulade überhaupt hierbleiben will, und diese Wohnung der Genossenschaft ist teilmöbliert. Da kann die Familie gleich einziehen, und es macht dem Verwalter auch nichts, wenn sie nach wenigen Wochen vielleicht doch noch in die Bauer-Wohnung umziehen. Zumindest hat die Familie jetzt eine Anlaufstelle.

Vom Jugendamt habe ich jetzt die Unterlagen bekommen. Daniel gibt weiter den Prinzen auf der Erbse, aber wir kommen damit klar. Wenn man das an den passenden Stellen einfach ignoriert, läuft das alles wunderbar.

Seit Kaldawule Olugulade starb, sind sechzehn Tage vergangen, und es wurde dringend Zeit, dass Frau Olugulade kam. Jussip hat die Frau und den neugeborenen Benjamin am Donnerstag hierher begleitet. Wir sind zum Bahnhof gefahren und haben die drei abgeholt. Obwohl Frau Olugulade ziemlich fertig von der Fahrt war, wollte sie zuallererst ihren verstorbenen Mann sehen. Die Nonnen im Krankenhaus hatten ihr erklärt, dass ich Bestatter bin, und sie ging fälschlicherweise davon aus, dass der Verstorbene sich in meiner Obhut befinden würde. Tatsächlich liegt er aber noch in getränkten Tüchern im Rechtsmedizinischen Institut und ist keinesfalls in einem Zustand, der es erlaubt, ihn der Witwe zu zeigen.

Es ist viel zu viel Zeit vergangen, und die Trauerfeier muss jetzt unverzüglich stattfinden. Ich hatte in der Zwischenzeit nochmals im Krankenhaus angerufen und die Schwestern gebeten, bei Frau Olugulade einmal vorsichtig vorzufühlen, ob nicht die Möglichkeit besteht, dass wir den Toten einäschern können und dann nur noch mit der Urne auf sie warten. Das wollte die Witwe aber auf gar keinen Fall.

Jetzt wird es so sein, dass der Verstorbene im kleinen Trauerraum der Rechtsmedizin seine Feier bekommt. Das kostet die Familie nichts, genauso wenig wie die lange Aufbewahrung des Mannes. Die Olugulades sind, wie ich mittlerweile weiß, ja nicht mittellos und bekämen deswegen auf gar keinen Fall öffentliche Unterstützung.

Die Frau hat immer als Krankenschwester gearbeitet, und er studierte, wie ich jetzt erst erfahren habe, Medizin und wollte hier ein Praktikum absolvieren, daher der Umzug. Nebenher hatte er im Ruhrgebiet, wo er zuletzt gelebt hatte, in einem Chemiewerk gearbeitet, weshalb die Polizei – auch das kam mir erst nachträglich zu Ohren – auch dort ermittelt hatte, ob seine tödlichen Atemprobleme eventuell da herrührten.

Frau Olugulade nahm die neue Wohnung gerne an, war sehr dankbar und hat viel geweint, mich und viele andere immer wieder gedrückt, und wir alle haben unseren Spaß mit dem kleinen Benjamin gehabt.

Daniel war heilfroh, dass seine Mutter wieder in seiner Nähe ist, aber von seinem Stolz und seinem an Überheblichkeit grenzenden Selbstbewusstsein nahm er auch in ihrer Gegenwart keinen Abstand. Wir sind übereingekommen, dass Daniel noch zwei oder drei Tage bei uns bleiben sollte, damit sich seine Mutter besser einleben kann und sich nicht um zwei Kinder kümmern muss. Für Jussip war es irgendwie sonnenklar, dass er auch bei uns einziehen kann, aber das ging mir dann doch zu weit. Schließlich nistete er sich auf dem Sofa bei Frau Olugulade ein, denn bis nach der Trauerfeier wollte er bleiben.

Dramatisch wurde es für mich am nächsten Tag. Freitag in aller Frühe, um kurz nach acht, stand Frau Olugulade geschniegelt und gestriegelt bei uns und wollte jetzt ihren Mann sehen. Es halfen keine guten Worte, keine ernsten Worte, kein energisches Nein, sie bestand darauf, sie wurde laut, sie zeterte und heulte, wie es nur Frauen ihrer Herkunft wohl können, sehr theatralisch, aber irgendwie auch alles sehr verständlich.

Was tun? Die Frau wollte unbedingt ihren verstorbenen Mann sehen, der mit Sicherheit nicht schön anzusehen sein würde. Mir blieb nichts anderes übrig, als zwei meiner Männer als Vorhut loszuschicken. Bewaffnet mit allem, was unser Keller an Wiederherstellungsmaterialen zu bieten hat, machten sich Huber und Manni auf den Weg. Meine Aufgabe war es nun, Frau Olugulade zu beschäftigen – und solange es im Raum stand, dass sie dann zu ihrem Mann gebracht wird, war sie auch gefügig, trank Kaffee und redete mit mir und meiner Frau, die das Baby gar nicht mehr hergeben wollte. Anderthalb Stunden dauerte es, bis der Anruf von Huber kam: »Chef, ich lehne jede Verantwortung ab, wir haben alles versucht, und man kann ihn jetzt anschauen, aber schöner ist der im Sterben nicht geworden.«

»Wie schlimm ist es?«, wollte ich wissen.

»Na ja, obduziert halt, Y-Schnitt in Brust und Bauchraum, ein Kniegelenk als Gewebeprobe entnommen, den Kopf geöffnet. Außerdem …« Huber zögerte.

»Los, was ist?«

»Nun, der ist ganz grau, der sieht gar nicht mehr aus wie ein Neger, sondern einfach nur hellgrau.«

»Können wir es der Frau zumuten, ihn anzuschauen?«

»Also, wir haben ihm ein Tuch um den oberen Teil des Kopfes gelegt, das sieht eigentlich sogar ganz gut aus. Einen Talar hat er an, die Hände haben wir gefaltet und einen schmalen schwarzen Schleier drumgewickelt, die sehen nicht mehr gut aus. Im Gesicht können wir nichts machen. das gibt der Zustand der Haut nicht mehr her. Sagen wir es mal so: Wenn die tapfer ist und ihn nicht anfassen will, dann geht’s.«

Ich gehe zu den Frauen und dem Baby zurück und frage Frau Olugulade, wo denn Jussip sei. Ja der schlafe noch, aber er habe ein Mobiltelefon. Also rufe ich Jussip an; der meldet sich auch schon beim dritten Anruf und verspricht, sofort zu kommen. Fünfunddreißig Minuten später ist er endlich hier; ich nehme ihn beiseite und bespreche mit ihm die Situation. Er wird leichenblass, und ganz entfernt bekomme ich eine Vorstellung davon, wie Herr Olugulade jetzt wohl aussehen könnte. Aber Jussip verspricht, uns hilfreich zur Seite zu stehen und die Frau davon zu überzeugen, dass sie ihren Mann nicht anfassen oder gar küssen kann.

Unterwegs war mir noch die Idee gekommen, dass es vielleicht gut gewesen wäre, auch einen Pfarrer mitzunehmen, aber dafür war es jetzt zu spät. Langsam näherten wir uns der Tür, Huber trat zur Seite, und ich drängelte mich vor, um der Erste zu sein. Insgeheim hatte ich vor, die Situation sofort zu beenden und den Besuch bei Herrn Olugulade doch nicht zuzulassen, wenn es zu schlimm wäre. Meine Augen waren überall, in Sekundenbruchteilen hatte ich die Situation erfasst, und mein Kopf rauschte. In diesem Moment wusste ich, dass man den Besuch zulassen konnte, ich war mir aber auch klar darüber, dass ich tierische Kopfschmerzen bekommen würde. Mir war das alles etwas zu viel. Doch nun war Frau Olugulade die wichtigste Person.

Der Raum ist nur etwa 25 Quadratmeter groß. Eine Wand hat man mit einem weißen Vorhang sehr hübsch geschmückt. In der Mitte hängt ein großes Kruzifix, direkt darunter steht der offene Sarg. Auf großen Kerzenständern brennen auf jeder Seite jeweils sechs Kerzen; die Stühle, die für kleine Trauerfeiern da sind, stehen gestapelt hinten in einer Ecke. Herr Olugulade sieht, wie zu erwarten war, wirklich nicht gut aus.

Seine Haut hat die Farbe von Recyclingpapier, aber unsere Männer haben ihn schön eingebettet; der Talar, die Decke und das weiße Tuch, das er oben um seinen Kopf trägt, helfen ungemein. Er sieht fast aus wie ein toter Pharao.

Frau Olugulade hat Benjamin auf dem Arm und Daniel an der Hand.

Langsam nähert sie sich dem Sarg, wir halten Abstand – gerade so viel, dass man mit einem Schritt bei ihr sein kann. Ich habe keinen Schimmer, was man in Nigeria alles am Sarg veranstaltet, und ich weiß nicht, was auf mich zukommt. Direkt neben dem Sarg bleibt die Frau stehen, Daniel steht neben ihr und macht große Augen. Mit der Hand fährt sie über die Kante des Sarges, dann über die Decke. Ganz nah geht sie an das Gesicht ihres Mannes, und Jussip sagt: »Sie will spüren, ob er wirklich nicht mehr atmet.« Dann nimmt Frau Olugulade den kleinen Benjamin, dreht ihn in Richtung seines toten Vaters und spricht. Ich verstehe nicht, was sie sagt; Jussip erklärt: »Sie stellt dem Vater seinen Sohn vor und dem Sohn seinen Vater.«

Nach drei oder vier Minuten kniet die Frau sich hin, Daniel auch, und wir anderen tun es ihr gleich. Dann betet sie das Vaterunser auf Englisch, und wir beten mit ihr, jeder in der Sprache, die ihm am besten liegt – und verdammt noch mal, ich gebe es zu, ich habe schon wieder heulen müssen.

Als das Gebet beendet ist, steht sie auf, dreht sich um und verlässt mit ihren beiden Kindern den Raum, ohne den toten Mann noch einmal anzuschauen. Huber und Klaus machen den Deckel zu, und wir gehen zu der Frau.

»Ein schönes Hemd«, sagt sie zu mir und nickt, und ich glaube Dankbarkeit in ihren Augen zu sehen, aber sicher bin ich mir nicht. Ihr Gesicht ist sehr ernst, was soll man auch anderes erwarten.

Die Trauerfeier war dann schon am folgenden Tag. Diesmal war natürlich der Pfarrer da, und sogar ein Harmonium wurde gespielt – dass da eins steht, war mir beim ersten Besuch gar nicht aufgefallen.

Die Situation war weitaus weniger bedrückend, nachdem der Sarg jetzt geschlossen und mit einem kleinen Gesteck geschmückt war. Die Damen vom Mütterkreis waren gekommen und – genau – die Birnbaumer-Nüsselschweif! Zwei Leute kannte ich gar nicht, und ansonsten waren bis auf Frau Büser alle Mitarbeiter der Firma da.

Nach der bewegenden kleinen Trauerfeier für den verstorbenen Afrikaner fuhr ich Frau Olugulade, die beiden Kinder und Jussip nach Hause. Ein Zuhause! Das war etwas, mit dem Frau Olugulade gar nicht gerechnet hatte, und wie es schien, gefiel ihr die Wohnung, denn sie erzählte mir von Plänen bezüglich der Einrichtung und Gestaltung. Das macht man ja nur, wenn man da auch bleiben will.

Daniel blieb noch eine Stunde bei seiner Mutter, dann kam er zu uns: »Mama schläft jetzt, sie ist ganz müde.«

Der Junge musste noch bei uns bleiben, seine Mutter war nach der Geburt und dem Verlust ihres Mannes gar nicht in der Lage, sich um zwei Kinder zu kümmern. Das schien Daniel auch zu spüren, denn er klagte nicht, beschwerte sich nicht und nahm es einfach als Selbstverständlichkeit hin, dass er bei uns wohnte und seine Mutter nur besuchte.

Mir war daran gelegen, ihn und seine Mutter etwas aufzubauen, denn ein weiterer schwerer Gang stand uns ja noch bevor.

Nach der Trauerfeier war Herr Olugulade ja von unseren Fahrern Freddy und Manni ins Krematorium gebracht worden und würde dort nun bald eingeäschert.

So war die Beisetzung der Urne für die kommende Woche terminiert. Ich hatte ein kleines Urnengrab auf unserem Friedhof im alten Teil besorgt. Wo sollte Herr Olugulade denn sonst auch hin?

Ja, wo sollte er denn hin?

Das erklärte mir dann meine herzallerliebste Busenfreundin Frau Birnbaumer-Nüsselschweif.

Die klingelte mich nämlich am Tag der Trauerfeier noch gegen 21.30 Uhr vom Fernseher weg und stand in wallendem Mantel vor der Tür: »Also, ich muss jetzt sofort mal mit Ihnen sprechen, das geht ja jetzt so gar nicht!«

Kurz dachte ich daran, sie einfach umzuschubsen oder ihr die Tür vor der Nase zuzuschlagen, aber ich war doch zu neugierig und wollte erfahren, was sie mir zu berichten hatte. Auch wollte ich eigentlich an der Tür stehen bleiben und sie dort abfertigen, aber das hätte es mit sich gebracht, dass auch ich hätte stehen bleiben müssen, und dazu bin ich abends um halb zehn zu faul.

»Kommen Sie herein«, sagte ich und führte sie in die Halle, wo ich ihr einen Platz auf dem Sofa anbot.

»Ich und meine Afrika-Gruppe, wir sind der Meinung, dass Sie etwas Unrechtes tun, wenn Sie den armen Mann hier in fremder Erde verscharren.«

»Aha, und was meinen Sie, sollte ich stattdessen tun?«

»Der muss nach Afrika, das ist doch wohl klar!«

»Und Sie und Ihre Afrika-Gruppe bezahlen das?«

»Ich? Ja wo käme ich da denn hin! Niemals!«

»Dann haben Sie auch nichts anzumelden.«

»Sie können doch einen so frommen Nigerianer nicht fern der Heimat beerdigen. Der hat doch auch in Nigeria Familie, und denen verwehren Sie damit einen Besuch des Grabes.«

So einen Blödsinn hatte und habe ich noch nie gehört. Natürlich haben viele Leute das Bestreben, dass ihre Angehörigen in heimatlicher Erde beerdigt werden. Das ist meist dann der Fall, wenn jemand im Ausland verstirbt und seine Angehörigen ins Heimatland zurückkehren. Wer möchte schon einen nahen Verwandten irgendwo auf einem anderen Kontinent beerdigt wissen und nicht ans Grab können. Aber Frau Olugulade war nun mal in Deutschland und wollte sicher auch hierbleiben und ihren Mann in ihrer Nähe wissen.

»Also, Sie können machen, was Sie wollen, der Mann geht nach Nigeria!«, verkündete die Birnbaumer-Nüsselschweif und stand auf. Sie hatte ihr Urteil gesprochen, und ich sollte mich nun fügen. Das wollte ich aber nicht, wozu auch?

»Ach, Frau Birnbaumer-Nüsselschweif. Sie haben sich bis jetzt ständig nur eingemischt, und da ist nie irgendwas dabei herausgekommen. Lassen Sie doch die Familie einfach in Ruhe.«

»Sind Sie der Afrika-Experte oder ich? Also, ich habe jetzt vorhin die nigerianische Botschaft angerufen und den ganzen Fall mal erzählt. Sie werden sich wundern!«

Die Tage vergehen, und ich hatte Gelegenheit, mit Frau Olugulade wegen der bevorstehenden Urnenbeisetzung zu sprechen. Noch drei Tage sind es bis dahin. Nein, eine Feuerbestattung, das sei nicht das, was sie sich vorgestellt habe, aber ihr Mann, das wisse sie, der habe immer gesagt, dass es das Einfachste und Sauberste sei. So will sie denn auch nichts dagegen sagen. Sie ist froh, dass alles organisiert ist, und hat Angst vor dem schweren Tag.

Meine Frau und eine unserer Freundinnen sind jetzt viel bei ihr und versuchen sie ein wenig aufzubauen.

Doch es kommt dann doch ein wenig anders, und die kleinen Fortschritte, die wir bei der trauernden Frau zu beobachten glaubten, wurden gleich wieder zunichtegemacht.

Es ist nachmittags gegen 16 Uhr, da klingelt es bei uns, und vier Afrikaner stehen vor der Tür: Herr Ossomowa, Herr John, Herr Smith und Herr Kalombolawa. Sie kommen aus Freundschaft, sind alte Freunde der Familie Olugulade und »want to bring joy and help. Lot of help«. Sie wollen also Hilfe und Freude bringen, viel Hilfe.

Das ist ja schön, dass sie sich um die Familie bemühen wollen, und kaum habe ich sie in der Besucherecke unter den Ikonen auf dem Sofa plaziert, begehren sie sogleich Daniel zu sehen. Der kommt, guckt interessiert, und Herr Ossomowa streicht ihm über den Kopf, nennt ihn »my son« und redet schnell und eindringlich in einer fremden Sprache auf ihn ein. Die Sprache ist durchsetzt mit englischen Wörtern, und ich glaube auch etwas Französisch herauszuhören, bin aber nicht in der Lage, irgendetwas zu verstehen.

Ich sehe Daniel sofort an, dass er diese Männer noch nie zuvor gesehen hat.

Die Herren Ossomowa, John, Smith und Kalombolawa wollen nicht nur »joy and happiness« bringen, sondern grinsen und strahlen über das ganze Gesicht, und das die ganze Zeit. Sie sprechen alle besser Englisch als Deutsch, können sich aber in unserer Sprache halbwegs verständlich machen. Herr Smith betont, und er lässt dabei seine beneidenswert weißen Zähne aufblitzen, dass er Christ sei, katholischer Christ und an die Mutter Gottes glaube. Herr John bestätigt das und beteuert, Herrn Smith schon sehr lange zu kennen, dass sei ein »good guy«, ein guter Kerl, und vor allem seien sie alle ganz besonders enge Freunde der Familie.

Herr Kolambowala trinkt ein bisschen Kaffee, knabbert einen Keks, strahlt die ganze Zeit wie ein Pfund Plutonium … und nickt dann Herrn Ossomowa aufmunternd zu. Während sich die Männer noch kurz unterhalten, weicht Daniel auf einmal zurück; er hatte die ganze Zeit sehr verlegen und etwas verschüchtert dagestanden, und ich sehe ihm an, dass er sich mehr als unwohl fühlt. Das merkt auch Herr Ossomowa und wendet sich in seinem Sprachgemisch direkt an Daniel. Später erfahre ich, dass Daniel diese Sprachen bei weitem nicht gut beherrscht; seine Mutter spricht natürlich stolz mit ihm auf Nigerianisch, aber ihr Nigerianisch ist Ugbo oder Igbo, eine völlig andere Sprache. Einige Wörter nur kann Daniel verstehen, Herr Ossomowa erkennt das wohl schnell und spricht langsam und gedehnt, verwendet wohl dann auch hauptsächlich die Sprache von Daniels Mutter, und der wird regelrecht blass.

Man mag es ja gar nicht glauben, dass ein Schwarzer blass werden kann, aber doch, das geht. Die Haut bekommt einen ganz anderen Schimmer, vor allem die Lippen verlieren an Farbe, und Daniel sagt mir später, dass ihn absolut erschreckt hat, dass Ossomowa von Daniels Heimat sprach, die auf ihn warte.

Glücklicherweise kommt in diesem Moment meine Tochter, um Daniel zu holen. Herr John ruft dem weggehenden Jungen noch etwas hinterher, aber der Klang seiner Stimme und das Grinsen in seinem Gesicht passen nicht zusammen.

Ich bin mit den Männern alleine und frage sie, was sie eigentlich wollen, wie sie helfen wollen und in welcher Beziehung sie zu der Familie Olugulade stehen.

Herr Kolambowala, an Liebenswürdigkeit nicht zu überbieten, erklärt in Deutsch-Englisch, wie nahe sie alle der Familie stünden, und dann auf einmal erklärt er, ja, die anwesenden Herren seien sozusagen auch alle mit den Olugulades verwandt. Der Schwager des Onkels von Herrn Smith sei mit einer Schwester des Verstorbenen verheiratet, und er selbst habe eine Schwester, die mit dem Bruder des Schwagers verheiratet sei … Genau kann ich die verwandtschaftlichen Beziehungen nicht mehr wiedergeben, aber irgendwie war jeder mit einer Schwester von irgendwem verschwägert, und alle hatten eine schwägerliche Wurzel in der Olugulade-Sippe.

Grundsätzlich kommen mir die Herren inzwischen mehr als merkwürdig vor, und ich frage erneut nach ihren Beweggründen. Da bleiben sie aber nebulös und sprechen nur von »help and joy«, wollen also nicht raus mit der Sprache.

Ob sie denn von der Botschaft kämen, will ich wissen.

»No, no, no!« Sie fuchteln mit den Händen: »No embassy, no gouvernment, wir sind privat, nur privat, good friends and family!«

Aha, die lügen mich an, das ist sonnenklar. Doch Herr Smith beteuert, sie seien alle Studenten, man kenne den Verstorbenen vom Studium her. Ach nein, eben noch »good friends«, dann auf einmal »family of Schwagers« und jetzt Studienkollegen. Die verarschen mich doch und glauben wohl, ich sei total bescheuert.

»Das können Sie erzählen, wem Sie wollen, mir ist es auch egal. Ich will von Ihnen nur wissen, was Sie genau von der Familie wollen.«

Das aber wollen sie mir nicht sagen. Joy, happiness und »good feelings with the wife of the deseased«. Sie wollen gute Gefühle mit der Frau des Verstorbenen teilen und sind auf einmal ganz mitleidig und zeigen großes Verständnis für die Witwe. Man müsse der Frau helfen und ihr jetzt den Weg ebnen. Jetzt und auf der Stelle müssen sie mit der Frau sprechen, und auf einmal sind die Herren Smith, John, Kolambowala und Ossomowa kein bisschen freundlich, sondern bestimmt und fordernd.

Das lehne ich ab, schütze vor, der Frau gehe es nicht gut, das käme gar nicht in Frage. Herr Kolambowala kneift die Augen zusammen, beugt sich nahe zu mir herüber, so dass ich sein Rasierwasser riechen kann und sagt in auf einmal doch sehr gutem Deutsch: »Ich MUSS diese Frau sehen, und ich werde diese Frau sehen und sprechen. Wenn nicht heute, dann morgen!«

Schnell hat man sich verabschiedet, alle sind urplötzlich wieder strahlende Freundlichmänner, schütteln mir überschwenglich die Hand, klopfen mir auf die Schulter, und dann sind sie verschwunden.

Etwas später spreche ich mit Frau Olugulade, und ich kann diese Situation nicht richtig wiedergeben. Sie zeigt Entsetzen, das ist ganz eindeutig zu erkennen. Die Situation ist für sie bedrohlich, und sie hat auch Angst, das erkennt man auch. Aber sie setzt ein Lächeln auf, ein falsches Lächeln, und erklärt, dass sei so in Nigeria, da sei eben jeder mit jedem verwandt, und das habe alles seine Richtigkeit.

Ich sehe aber deutlich, dass sie mich anlügt, und erkläre ihr, um sie zu beruhigen, dass sie nicht mit den Männern zusammentreffen muss, ich könne das abblocken. »Nein, ich muss!«, sagt sie. »Ich muss mit denen sprechen, sonst gibt es große Probleme!«

Gestern dann kam Jussip, wie versprochen, wieder. Mit einem Teddybären für den kleinen Benjamin und einem Federballspiel für Daniel stand er am Bahnhof, wo ich ihn abholte.

Unterwegs erzählte ich ihm von den nigerianischen Herren, die mir einen Besuch abgestattet hatten, und Jussip nickte nur mit zusammengekniffenen Lippen.

Auf dem Display meiner Kamera zeigte ich ihm dann später das Bild der Männer, er kannte keinen davon. Nein, er sei nicht verwundert, dass die sich so einfach haben fotografieren lassen, das sei denen egal, die Typen wechselten so schnell, und einer sei sowieso wie der andere. Das machte mich neugierig. Vielleicht weiß Jussip mehr?

Das sei alles sehr kompliziert, und er habe so etwas schon befürchtet. Man müsse wissen, dass Nigeria lange eine Diktatur gewesen sei. Es habe ein politischer Filz ohnegleichen geherrscht und eine große Unterdrückung gegeben. Damals sei es nichts Ungewöhnliches gewesen, dass der nigerianische Geheimdienst überall, wo sich Nigerianer im Ausland aufhielten, seine Leute hatte. Es ging den Machthabern darum, die jungen Nigerianer im Ausland unter Kontrolle zu behalten, damit sie zwar im Rahmen internationaler Programme eine gute Ausbildung genossen, dann aber sichergestellt war, dass sie ihre Fähigkeiten auch in Nigeria einsetzten.

Manche seien gar mit Gewalt dazu gedrängt worden, wieder in die Heimat zurückzukehren. Jussip nennt Namen, erwartet dass ich diese kenne, aber ich befürchte, dass das afrikanische Allerweltsschicksale sind, für den Einzelnen dramatisch, uns überhaupt nicht bekannt und von uns auch ignoriert. Mittlerweile gebe es zwar eine Demokratie, aber das sei ja alles noch ziemlich chaotisch in Nigeria. Es gebe überall Milizen, Untergrundgruppen und Geheimbünde, in denen genau die gleichen Leute wie früher nach wie vor operierten und mit Korruption, mafiaähnlichen Strukturen und viel krimineller Energie die Macht auf ihre Weise sicherten. Die Regierung bekomme das nicht in den Griff, es gebe ganze Regionen in Nigeria, in die sich kein Polizist, kein Soldat und kein Regierungsbeamter traue, weil dort die Macht der Geheimbünde oder bewaffneten Gruppen so groß sei.

Diese Leute, die heute noch im Ausland unterwegs sind, das seien genau die gleichen, die das schon immer gemacht haben. Nicht dieselben Männer und Frauen, die wechseln immer schnell, aber es ist die gleiche Gruppe, die gleiche Struktur. Nur sei der Auftraggeber eben jetzt kein Diktator, ja nicht mal die Regierung, sondern irgendwelche dubiosen Machtstrukturen in Nigeria. Ziel und Zweck ist es nach wie vor, die im Ausland lebenden Nigerianer als Vaterlandsverräter hinzustellen, Druck auszuüben und sie zur Heimkehr zu bewegen. Beliebtes Mittel sei, vorderhand ehrfürchtig von den Lieben daheim in Nigeria zu sprechen, jeder aber wisse, dass das auch heißen kann, dass den in Nigeria Verbliebenen Ungemach drohen kann, wenn man sich nicht in der gewünschten Weise verhält.

Was denn diese Leute von der Familie Olugulade wollen, will ich von Jussip wissen. Er zuckt nur mit den Achseln und meint: »Nichts. Gar nichts. Die machen das einfach, weil sie es schon immer so gemacht haben, und wissen eigentlich gar nicht, warum, wozu und für wen.«

Im Grunde müsse man jetzt der Familie Beistand leisten, die Frau etwas abschotten, aber unbedingt einen Kontakt zu den Männern zulassen.

»Warum das denn?«, will ich wissen, und Jussip erklärt: »Weil die sonst keine Ruhe geben. Die wollen ihr Programm abspulen und erst wenn sie merken, dass das nichts bringt, werden sie nachlassen.«

Nein, es sei nicht zu befürchten, dass die der Frau oder den Kindern etwas tun. Im Grunde sei die Familie jetzt sicherer als zuvor. Als der Mann nämlich noch gelebt habe, seien solche Männer immer mal wiederaufgetaucht. Jetzt sei der werdende Arzt ja tot, und was will man in Nigeria mit einer Krankenschwester und zwei kleinen Kindern.

Eine komplizierte Sache, ich nehme mir vor, mich da mal ein bisschen einzulesen. Mehr, als dass Nigeria in Afrika liegt, weiß ich nämlich auch nicht.

Wir bereiten uns auf die Urnenbeisetzung von Herrn Olugulade vor. Ein kleines Urnenreihengrab, direkt an der Mauer des Friedhofs soll es werden. Frau Olugulade ist manchmal nicht zu verstehen. In einem Moment erklärt sie, eine Feuerbestattung sei gar nichts, im nächsten Augenblick kommt dann wieder eine Erdbestattung nicht in Frage. Man würde etwas flapsig sagen: Sie ist völlig durch den Wind.

Eine Feuerbestattung hat auch Jussip, der Freund der Familie, für gut befunden. Zwar erklärt die Witwe, dass sie auf keinen Fall jemals nach Nigeria zurückkehren möchte, aber immerhin hätte sie in diesem Fall die Möglichkeit, die Urne mitzunehmen.

Ja, das mit dem Zurückkehren nach Nigeria, das ist noch so ein Thema.

Einen Tag zuvor stand Frau Birnbaumer-Nüsselschweif in der Tür. Unser Haus ist immer Dreh- und Angelpunkt für alle und Anlaufstelle für Familien, Vereinsamte, Merkwürdige und Streithammel. Ich habe schon oft überlegt, warum das so ist. Wahrscheinlich liegt es daran, dass wir ein sehr offenes Haus führen und viele Dienstleistungen unter einem Dach bieten. Schon allein, dass man bei uns seine Verstorbenen so besuchen kann, wie es einem beliebt, führt dazu, dass die Leute häufiger kommen, und wenn sie schon mal da sind, dann reden sie entweder gar nichts, oder sie erzählen ganz viel.

Und ich bin ja nun ein Misanthrop und Grantler, der nicht mit jedem gleich ein langes, fröhliches Schwätzchen hält. Gerade das aber ist es, was die Leute wohl schätzen, dass ich einfach zuhöre, den Gemütlichen gebe und Verständnis für sie und ihre Lage aufbringe.

Es ist wohl so, weil ich niemals Anteilnahme heuchle und immer auch klar sage, dass das mein Geschäft, mein Beruf ist. Die Fronten sind geklärt, keiner geht von falschen Voraussetzungen aus. Wir helfen den Menschen in einer schwierigen Situation, aber wir sind keine selbstlose Samariter.

Die Birnbaumer-Nüsselschweif hat so einen Wallewalle-Mantel an, so ein Ding, bei dem man nicht genau weiß, ob es ein Mantel, ein Cape, ein Umhang oder eine Wolldecke mit Schal ist. Irgendwo aus zwei Öffnungen an den Seiten schießen ab und zu ihre Hände hervor und fuchteln mir vor dem Gesicht herum. »Die Afrika-Gruppe, wie auch der Mütterkreis und überhaupt alle sind ja der Meinung, dass der Familie am besten geholfen ist, wenn sie in die Heimat zurückkehrt.«

Ach nee, ganz neue Töne. Es ist noch gar nicht so lange her, da sah die Birnbaumer das Heil der Familie allein darin, dass sie sich höchstpersönlich um die Kinder kümmere. Was hat sie nicht alles in Aussicht gestellt, wie sie der Familie einen dauernden Aufenthalt hier in Deutschland ermöglichen würde. Und jetzt? Das sieht mir doch verdammt nach Sandkuchen-Plattdrücken aus.

Man kennt das doch: Das kleine Nüsselschweifchen sitzt im Sandkasten, die Kinder backen mit Förmchen aus Sand Kuchen und lassen das dicke, hässliche Nüsselchen nicht mitschweifen. Und weil sie nicht mitspielen darf, haut sie dann eben den anderen Kindern die Sandkuchen kaputt. Wenn ich nicht mit dem Kuchen spielen darf, sollt ihr es auch nicht.

Nur dass der Kuchen jetzt eine dreiköpfige Familie ist.

Ich sehe überhaupt keinen Grund, dass Frau Olugulade, Daniel und Benjamin nach Nigeria zurückkehren sollten. Der einzige Grund, den es geben könnte, wäre der Wunsch der Betroffenen, und die wollen das auf gar keinen Fall.

Frau Olugulade kann hier als Krankenschwester arbeiten, und das auch noch in einem Krankenhaus, das neben einem Schwesternheim auch eine Kinderkrippe unterhält. Das gibt es nur ganz selten und stellt für Frau Olugulade das Optimum dar.

Meine Aufgabe sehe ich eher darin, ihr beim Start in die veränderte Lebenssituation zu helfen, und nicht darin, der Frau jetzt jahrelang als Dauerhelfer zur Verfügung zu stehen.

»Nein, nein, nein, nein«, ich glaube, das sagte die Nüsselbaum sogar an die siebenmal: »So geht das nicht, da bin ich gar nicht bei Ihnen, nicht einmal ein Stück weit sind wir da zusammen. Das sind Afrikaner mit afrikanischen Wurzeln, und in Nigeria da gibt es Großeltern, Brüder und Schwestern, und da wäre die Familie doch wesentlich besser positioniert.«

»Positio, was?«, frage ich verdutzt zurück, nicht weil ich es nicht verstanden hätte, sondern weil mir der Quatsch einfach zu absonderlich erscheint.

»Also, ich sehe das so, dass es das Beste wäre, wenn mein Mann und ich die Familie bei ihrer Rückkehr begleiten würden. Ich habe sogar schon einen Sponsor gefunden, der für die Flüge aufkäme.«

»Einen Sponsor, soso.«

»Ja und die Olugulades würde das alles gar nichts kosten, denn das übernimmt alles die Redaktion.«

»Der Sponsor ist also eine Redaktion?«

»Sagen wir mal so, es ist eine sehr hilfsbereite Firma.«

»Hmm, ja klar, und die schicken dann einen Reporter und einen Fotografen mit und schlachten das Schicksal der Familie schön aus.«

»So darf man das nicht sehen. Die begleiten unsere Arbeit in der Afrika-Gruppe schon seit Jahren und haben uns auch schon einmal ganz groß in der Zeitung gebracht.«

Es ist klar, woher der Wind weht. Egal auf welche Weise, die Birnbaumer-Nüsselschweif sieht bloß schwarze Neger, denkt an ihr Afrika-Projekt und die zu erwartenden Spenden und möchte sich als Beschützerin aller Negerkinder dieser Welt verkaufen. Ekelhaft.

»Und warum erzählen Sie mir das alles, warum kommen Sie hierher?«, frage ich sie, und sie schmollt: »Weil Frau Olugulade nicht mit mir reden will. Die ist sturköpfig und sagt, ich soll mit Ihnen reden, was ich ja nun hiermit tue.«

Ich erkläre der müttervorsitzenden Matrone, dass ich keine Lust auf ihren Quark habe. Auf das Wort Quark reagiert sie säuerlich, und einmal mehr schiebt sie schnaubend ab, mal wieder mit der Abschiedsformel, ich würde noch von ihr hören.

Jussip ruft an, er berichtet, dass die Viererbande um die Herren John und Smith mit Frau Olugulade gesprochen haben. In mir läuten alle Alarmglocken, da wäre ich doch nun wirklich gerne dabei gewesen. Aber ich bräuchte mir keine Gedanken zu machen, das Gespräch sei lang und intensiv gewesen, aber man habe die Frau eher vorsichtig behandelt. In der Tat versuchten die vier Männer, die Frau mit ihren Kindern zur Rückkehr nach Nigeria zu bewegen. Aber besonderen Druck hätten sie nicht aufgebaut. Na, immerhin.

Im Grunde hatte ich erwartet, dass von diesen Nigerianern eine Gefahr für die Frau ausgeht, dass sich da dramatische Entwicklungen ergeben würden, doch bis jetzt war es dazu nicht gekommen. Sie sind eher nur einfache, fleißige Missionare ihrer Sache und keine gefährlichen Krieger.

Dass die Sache noch eine dramatische Entwicklung nehmen würde und dass daran die Birnbaumer-Nüsselschweif beteiligt sein würde, das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.

Am nächsten Tag findet dann die Urnenbeisetzung von Kaldawule Emmanuel Olugulade statt.

Seine Frau hat Benjamin dabei, und wir trinken alle gemeinsam noch einen Kaffee, essen noch die restlichen »Bolle« von Frau Büser. Wir haben uns alle feingemacht, weil sowieso nicht viele kommen und wir dem Verstorbenen wenigstens anständig gekleidet die letzte Ehre erweisen wollen.

Noch anderthalb Stunden, dann geht es rüber zum Friedhof. Es ist Spannung und Entspannung zugleich in uns, das spürt man. So dazusitzen, einfach ein bisschen klönen und schnacken, das tut gut, das hilft auch Frau Olugulade. Und dennoch, es steht ein schwerer Gang für sie bevor, und auch das steckt uns allen in den Knochen.

Doch eine Sekunde später steckt uns etwas ganz anderes in den Knochen, meine Tochter kommt von nebenan, wo eben noch die Kinder spielten, und sagt: »Daniel ist weg!«

»Wie weg?«, frage ich, und sie steht nur da mit ihren großen Kulleraugen und sagt: »Ja, weg eben. Vorhin war er noch da, dann ist er mal kurz rausgegangen und jetzt schon eine ganze Weile weg. Einfach weg.«

Frau Olugulade verdreht die Augen, presst Benjamin an sich, ruft etwas in ihrer Muttersprache und fängt an zu weinen. Meine Frau und ich schauen uns nur kurz an, und dann geht die Suche los. Wo kann der Bursche bloß stecken?

Wir durchsuchen das ganze Haus, stellen alles auf den Kopf, und auch die gesamte Belegschaft beteiligt sich an der Suche, doch die bleibt ergebnislos. Eine halbe Stunde später kommen die Rückmeldungen aus allen Abteilungen: Der Junge ist nirgends zu finden.

Mir gehen tausend Gedanken durch den Kopf. Ist Daniel weggelaufen, hat er sich nur versteckt? Stecken die nigerianischen Männer dahinter? Hat die Birnbaumer-Nüsselschweif etwas damit zu tun? Wo fängt man jetzt an?

Manni fährt zum Friedhof hinüber, vielleicht ist er dorthin gelaufen, unsere Kinder ziehen sich Jacken an und suchen draußen auf der Straße, auf dem Spielplatz und dort am Stromhäuschen, wo sich Kinder eben so verstecken.

Daniel ist und bleibt verschwunden.

Was tut man denn in einem solchen Fall?

»Sollen wir die Polizei rufen?«, fragt meine Frau, doch das widerstrebt mir, ich habe keine Lust, mich jetzt mit hölzernen Beamten auseinanderzusetzen, die vermutlich in der Kürze der Zeit sowieso nichts bewirken können. Die Beisetzung ist gleich, und ohne Daniel kann und soll sie nicht stattfinden.

Ich fälle eine Entscheidung: »Ich rufe jetzt auf dem Friedhof an, und wir verschieben die Urnenbeisetzung um eine oder zwei Stunden. Manni soll dort die Trauergäste abfangen und hierherschicken.«

»Sandy!«, ich muss nicht viel zu ihr sagen. Sie weiß Bescheid und kennt unser Notfallprogramm. Die vorher gefeierte Frau Schulzbach wird aus unserer Halle in die Kühlung geschoben, vorne wird etwas durchgefegt, und die Blumen der Familie Schulzbach werden etwas mehr in die Mitte geschoben. Kränze mit Schleifen kommen nach draußen. Es wird Frau Schulzbach nichts ausmachen, wenn wir ihre Blumen noch ein Stündchen für jemand anderes nehmen.

Vom CD-Spieler kommt leise und ruhige Musik. Nur noch die Stühle geraderücken, und unsere Halle ist fertig für eine kleine, improvisierte stille Gedenkfeier für Kaldawule Emmanuel Olugulade.

Ich habe zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, ob da überhaupt Leute zum Friedhof kommen und von Manni zu uns geschickt werden, erbeten oder angekündigt war es nicht, aber man weiß ja nie.

Eine Praktikantin und Sandy sind auf jeden Fall bereit, um eventuell eintreffende Gäste in die Halle zu führen und dort zu plazieren. So können wir anderen uns der Suche nach Daniel widmen.

Frau Olugulade, meine Frau, Jussip und ich diskutieren und überlegen hin und her, wo der Junge stecken könnte. Jussip sieht ihn schon gefesselt und geknebelt auf dem Flug nach Nigeria, Frau Olugulade jammert, weil ohne Daniel ihr Kaldawule nicht unter die Erde kommt, und meine Frau hat komische Ideen. Ich könnt’ sie ja manchmal, wenn sie so komische Ideen hat, so Ideen, auf die kein Mann käme, völlig an der Realität vorbei, vollkommen weltfremd. Und noch mehr könnt’ ich sie, wenn sie dann – was meistens der Fall ist – auch noch recht hat mit ihren komischen Ideen …

»Die Nüsselschwein!«, sagt sie und macht so ein vielsagendes Gesicht.

»Das traut die Dicke sich nicht«, behaupte ich, und dennoch greife ich zum Telefon und rufe bei der Birnbaumer-Nüsselschweif an. Es meldet sich der Anrufbeantworter. Okay, so komme ich auch nicht weiter.

Inzwischen kommen die Kinder wieder und sagen, sie hätten Daniel auch nicht gefunden, und dann rückt das Stück Holz, das mein Sohn ist, mit der Botschaft heraus: »Der ist bestimmt Blumen kaufen gegangen.«

»Was für Blumen?«

»Hat er gestern gesagt, er will von seinem Geld Blumen für seinen Papa kaufen.«

So eine Holzbirne! Warum sagt der das nicht früher, von wem hat er dieses Holzbirnige bloß? Meine Frau und ich waschen unsere Hände in Unschuld, und während ich noch wasche, sehe ich im Augenwinkel, wie sie auf mich deutet und mit dem Mund lautlos irgendwas Hässliches über mich in die Welt setzt.

Es gibt sechs Blumengeschäfte in der Gegend, die Nummern haben wir alle, schon aus beruflichen Gründen, eingespeichert.

Bei Kötters war Daniel nicht, aber der alte Kötters verspricht, sofort anzurufen, wenn ein schwarzer Junge kommen sollte.

Das versprechen auch die nächsten drei Blumenhändler, und auch meine Frau signalisiert, dass Daniel nicht beim Blumenhaus »Egons Blumenstübchen« war.

Erst bei Neureuthers haben wir endlich Erfolg. Ja, der Junge sei schon vor einer halben Stunde oder so da gewesen, habe für fünf Euro Nelken gekauft und sei dann mit der Frau wieder weggegangen.

»Mit was für einer Frau?«

»Keine Ahnung, so eine Dicke, die müssten Sie aber kennen, die ist irgendwas bei der Gemeinde.«

»Die Nüsselschweif!«, entfährt es mir.

Was hat sie bloß mit dem Jungen vor?

Meine Frau beruhigt uns und sagt: »Wenn die mit dem Jungen Blumen kaufen geht, wird sie ihn ja nicht fressen wollen.«

Sie hat recht, ich nicke: »Ja, die wird sich nur in Szene setzen wollen.«

Frau Olugulade wird nun immer mehr abgelenkt, es treffen die ersten Trauergäste ein und gehen gemeinsam mit ihr in unsere Trauerhalle. Viele Leute tauchen allerdings nicht auf. Zu neu ist die Familie in unserer Gegend. Eine Frau vom Mütterkreis erscheint, ein Schwarzer, den wir zuvor nie gesehen haben, den Frau Olugulade aber weinend begrüßt, noch eine Frau aus unserem Stadtteil und später noch ein Spanier, den eigentlich niemand kennt, der aber beteuert, sehr zu trauern.

Der Friedhofsverwalter ruft an. Ja was denn nun sei, wann wir denn nun die Urnenbeisetzung haben wollten, ewig habe er auch keine Zeit, vor allem rege ihn auf, dass er nun in seiner grauen Uniform parat stehen müsse, weiter hinten auf dem Friedhof aber viel Arbeit auf ihn warte, die es aber nunmehr dringend erforderlich mache, dass er seine grünen Arbeitsklamotten wieder anziehe. Ja gut, so formuliert er das nicht, er sagt: »Ey, jetzt hab ich die Faxen langsam dicke, ich muss noch drei Löcher ausheben und sitz hier in der Uniform, wird das bei euch heut noch was?«

Frau Büser kommt herein: »Chef, hier ist jemand am Telefon.«

Es ist unsere geliebte Dorfklatschtante, die Gemüsefrau von vorne an der Ecke. »Sie suchen doch die Frau Birnenbaum, oder? Die steht nämlich drüben an der Kirche und lässt sich filmen, und die hat den Jungen dabei, den Sie apportiert haben. Nicht wahr, Sie wollen den doch apportieren, weil Ihre Frau keine Kinder mehr bekommen kann?«

Doofe Nuss! Meine Frau ist fruchtbarer als das Donaudelta, und wenn es nach der Zahl der Eisprünge ginge, könnten unsere Kinder in voller Mannschaftsbesetzung gegeneinander ganze Fußballturniere austragen  …

Aber so ist das eben mit den Tratschweibern, sie wissen immer nur ein bisschen, den Rest dichten sie dazu, erst als Frage oder Behauptung, dann als Tatsache. Ich habe aber keine Zeit, um mit der Gemüsefrau über diesen Quatsch zu diskutieren, bedanke mich kurz, und schon sitzen wir im Auto, auf dem Weg zur Kirche. Ich am Steuer, neben und hinter mir meine Frau, Sandy und der allgegenwärtige Jussip.

Vor der Kirche bietet sich uns ein absonderliches Bild. Die Birnbaumer-Nüsselschweif hat sich eine Papptafel mit einem Holzständer bringen lassen, auf der sie Zeitungsausschnitte über ihre Afrika-Gruppe aufgeklebt und mit einem dicken Filzstift ihre Bankverbindung für Spenden aufgemalt hat. Vor diesem Plakat posiert sie in ihrem Walle-Walle-Mantel, wirft den Kopf mal nach rechts, mal nach links und rückt den etwas hilflos dreinschauenden Daniel, der ein kleines Nelkensträußchen in der Hand hält, hin und her.

Herr Boberitz, der Lokalberichterstatter vom »Stadtanzeiger«, einem unsäglich dämlichen, stets hofberichterstattenden Reklameblättchen für unseren Stadtteil, dirigiert den tanzenden Wal und knipst. Bobritz ist der einzige Fotograf, der es schafft, von einer Leiter herab Leute zu fotografieren und dennoch eine Froschperspektive hinzubekommen.

Ihm kann ich keinen Vorwurf machen, er will nur eine kleine Schlagzeile und ein paar Bilder. Doch die Nüsselbaum, die möchte ich schlachten!

»Sie haben ja nun mal gar keine Ahnung!«, keift mich die Birnbaumer-Nüsselschweif an, während Daniel zu meiner Frau läuft.

»Wissen Sie, was Sie sind?«, frage ich die Birnbaumer, und sie schneidet mir das Wort ab: »Ja, ich bin die Einzige, die hier Verantwortung übernimmt und Flagge zeigt. Das alles hier dient ja einem höheren Ziel, wovon Sie ja offensichtlich überhaupt keine Ahnung haben. Wissen Sie eigentlich, wie viele Menschen jeden Tag in Afrika sterben?«

»Sie sind so eine impertinente Hohldommel!«, rufe ich und fuchtele ihr mit den Händen vor dem Gesicht herum. Später sagte Sandy mir, es habe ausgesehen, als ob ich der Nüsselbirne den Hals umdrehen wollte. Und ja, innerhalb von Sekunden stehen wenigstens zehn Leute um uns herum, während ich von der Birnbaumer nichts anderes wissen will, als was ihr denn einfiele, so einen Zinnober zu veranstalten, während wir alle darauf warten, endlich die Beisetzung der Urne durchführen zu können.

Den Leuten ist es egal, um was es geht, Hauptsache, es ist was los.

Und natürlich lässt auch das grün-weiße Auto unserer Ordnungshüter nicht lange auf sich warten. Wer denn verantwortlich sei für diesen Menschenauflauf, wollen sie wissen, und dann deutet einer auf Frau Brüsselschweifs Plakat: »Wem gehört das Ding denn da? Es hat Beschwerden gegeben, Sie dürfen hier doch vor der Kirche nicht einfach einen Infostand aufbauen.«

Ich bin viel zu aufgeregt, und in mir läuft ein Film ab, in dem ich mir vorstelle, was man mit der Dicken alles anstellen und auf welche Weise man sie möglichst schmerzhaft ins Jenseits befördern könnte. Da bekommt das Wort »Menschenauflauf« eine ganz andere Bedeutung und auf einmal habe ich ein Bild vor Augen: die Nüsselschweif nackt auf einem Riesentablett, Petersilie in den Ohren, einen Apfel im dampfenden Maul und rund um die Hüften einen schönen Berg Kartoffelpüree …

»Was gibt es denn da zu lachen?«, will der andere Beamte von mir wissen, der sich offensichtlich verscheißert fühlt. Nur mit Mühe gelingt es meiner Frau, ihn davon zu überzeugen, dass ich ihn nicht gemeint haben könne und dass wir jetzt alle zu einer Beerdigung müssten.

Jussip nickt heftig, schürzt die Lippen und sagt: »Amen!«

»Also alle, die mit der Demonstration nichts zu tun haben, verschwinden jetzt hier!«

Man glaubt nicht, wie schnell wir, mitsamt Daniel, im Auto sitzen und wegfahren. Zurück bleiben die Nüsselschweif und zwei Handvoll Neugieriger.

Vor uns liegt die Beisetzung der Urne des Herrn Olugulade.

Gemeinsam laufen wir zum Friedhof. Vornweg meine Frau, Pastor Brentzinger und ich, dahinter Frau Olugulade mit den beiden Kindern, und daran schließt sich die kleine Trauergesellschaft an. Der Weg ist nicht weit, und der Friedhofswärter sieht uns schon kommen. Er hatte sich inzwischen für eine Kombination aus grauer Uniformhose und grüner Arbeitsjacke entschieden, und bis wir bei ihm sind, hat er sich einen grauen Kittel übergezogen und seine amtliche Schirmmütze aufgesetzt. Die Urne mit der Asche des Verstorbenen hält er unter dem Arm, als würde er ein Ferkel zu Markte tragen.

Ich schaue ihn an, ziehe die Augenbrauen hoch und gebe ihm ein kleines Zeichen, woraufhin er sich nun wenigstens die Urne mit beiden Händen vor die Brust drückt. Wir warten noch einen kleinen Moment, bis sich der alte Herr Pastor umgezogen hat. Schon vor Tagen hatte er von sich aus angefragt, ob er die Urnenbeisetzung übernehmen solle, und den ganzen Vormittag auf unseren Anruf gewartet. Jetzt ist er schon etwas schläfrig, aber guter Dinge.

Der Friedhofsverwalter geht mit der Urne vor der Brust neben Pfarrer Brentzinger vor uns her, und wir anderen folgen ihnen. Der Weg bis zum Grab an der Mauer ist nicht sehr lang, aber der Friedhofswärter biegt zweimal unnötig ab, dadurch stehen wir aber alle schön in Reih und Glied, als die kurze Zeremonie beginnt.

Wir vom Bestattungshaus halten uns im Hintergrund, am Grab stehen die wenigen Leute, die gekommen sind, und der Pfarrer betet, spricht der Familie in einer kurzen Ansprache Trost aus, und dann kommt der Moment, in dem der Friedhofsverwalter die Urne in das kleine Loch gleiten lässt.

Frau Olugulade schluchzt auf, und die Frauen neben ihr haben ihre liebe Mühe, sie etwas zu beruhigen. Daniel steht da und dreht verlegen sein Nelkensträußchen in den Händen. Ich trete vor, gebe ihm einen kleinen Stupser und nicke in Richtung Grab. Er versteht, geht die paar Schritte, schaut neugierig in das Loch und legt die Nelken daneben.

Das war sie, die Urnenbeisetzung des Herrn Olugulade, schmucklos, kurz und kalt, wäre da nicht Jussip gewesen.

Er beginnt erst zu summen, dann singt er mit voller, tiefer Stimme ein Lied in einer Sprache, die ich nicht kenne. Langsam, ergriffen und mit geschlossenen Augen singt er Strophe um Strophe. Im wahrsten Sinne des Wortes ist außer dem Gesang nur Totenstille. Als er fertig ist, wischen sich alle ein paar Tränen aus den Augen.

Nach der Beisetzung erzählt uns Daniel, was während seines Verschwindens wirklich passiert war; dass er aus völlig freien Stücken losgelaufen sei, um Blumen für seinen Papa zu kaufen, und bei dieser Gelegenheit sei er der Birnbaumer geradewegs in die Arme gelaufen. Die habe für den Morgen einen Pressetermin gehabt und hatte nun nichts anderes im Sinn, als den kleinen Schwarzen zu diesem Termin mitzunehmen.

Dass der Junge dadurch beinahe die Beisetzung seines eigenen Vaters verpasst hätte, juckte die Dicke einfach nicht. Das tat sie mit einem stirnrunzelnden »Das glauben Sie ja wohl selbst nicht!« ab, als ich sie zwei Tage später deswegen zur Rede stelle und ihr Vorhaltungen mache.

Ich hätte das alles auch einem Eimer Elbewasser erzählen können, so wirkungslos verpuffte das. Anders gesagt: Eher hätte ich das Elbewasser dazu überreden können, aus dem Eimer in den Fluss zu hüpfen und gegen die Strömung zu fließen, als dass die Birnbaumer-Nüsselschweif auch nur im Geringsten darauf reagiert hätte.

Wenn man diese Frau einmal erlebt hat, dann weiß man, dass die einem sowieso nie zuhört. Besonders einfallsreich und eloquent ist sie nämlich nicht, redet aber dennoch unablässig, wenn es sein muss. Wenn ich ihr etwas sage, dann merke ich, dass sie mir in den seltensten Fällen überhaupt zuhört, viel zu sehr ist sie schon mit dem nächsten ihrer Sätze beschäftigt, kann kaum abwarten, bis man fertig ist, und plappert dann drauflos. Meistens hat das, was sie sagt, nichts mit dem zu tun, was man selbst gesagt hat.

Wenn ich jetzt schreibe, dass diese Frau eine dumme Kuh ist, sage ich noch viel zu wenig. Und dennoch gibt es Tausende in unserem Stadtteil, die glauben ernsthaft, diese Frau komme gleich nach dem heiligen Franziskus.

Frau Olugulade und ihr Kleiner taten dann noch etwas Unerwartetes. Sie zogen von hier weg. Wortreich, doch ohne dass ich wirklich daraus schlau wurde, erklärte sie mir, dass sie eine tolle Wohnung in einem zwölf Kilometer entfernten Ort gefunden habe und nun unbedingt dorthin ziehen müsse.

Man muss wissen, dass wir ja nicht die Einzigen waren, die sich um die Familie sorgten und kümmerten. Irgendjemand hatte dort etwas Passendes für die Frau und ihre Kinder gefunden und bot ihr sogar eine Arbeitsstelle an. Damit lief alles etwas anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass das Ganze zum Nachteil für Frau Olugulade war. Es wäre ihr ja kein bisschen mehr geholfen gewesen, wenn es nun ausgerechnet nur nach meiner Nase gegangen wäre, und wer sagt, dass ausgerechnet das, was ich mir überlegt hatte, auch das Beste war?

Daniel blieb allerdings noch bei uns, insgesamt sollten es fast anderthalb Jahre werden, bis er endlich zu seiner Mutter ziehen konnte.

Er weinte fürchterlich, als er mithalf, seine ganzen Sachen in unseren Wagen zu packen; zu sehr hatte er sich an uns alle gewöhnt. Eine Stunde später war alles vorbei, ich hatte Daniel bei seiner Mutter abgeliefert, die mir aus Dankbarkeit eine selbstgenähte Decke schenkte.

Die Decke halten wir noch heute in Ehren, von Daniel und seiner Mutter habe ich nie wieder etwas gehört …