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Der Bestatterberuf erfordert nicht nur Einfühlungsvermögen und kaufmännisches Geschick, sondern auch Kraft. Die Menschen werden immer größer und schwerer, und so wiegt heute ein durchschnittlicher, beladener Sarg zwischen 80 und 110 Kilo. Hat man aber einen Mann zu transportieren, der alleine schon 140 Kilo auf die Waage brachte, so kann man sich leicht vorstellen, dass das ein Kraftakt ist. Manchmal wird einem dieser Kraftakt aber auch noch unnötig erschwert, und das Sargtragen wird zur Anstrengung, selbst wenn nur eine schmale alte Dame darin liegt.
Ich glaube, es gibt kaum einen Dialekt, in dem nicht schon das gleichnamige Theaterstück auf irgendeiner Volksbühne aufgeführt worden ist, den meisten wird es mit Heidi Kabel und Henry Vahl in den Hauptrollen besonders in Erinnerung sein. An dieses Theaterstück fühlte ich mich heute Nacht erinnert, als wir einen Verstorbenen aus einem Mietshaus abgeholt haben. Nun ist es sowieso oft schon nicht so ganz einfach, eine Trage mit einem Verstorbenen durch ein enges Treppenhaus zu bugsieren. In diesem speziellen Treppenhaus, von dem hier die Rede ist, wurde das zunächst mal dadurch erschwert, dass auf den Treppenabsätzen ganze botanische Gärten angelegt waren und an den Wänden überall Bilder hingen. Da heißt es doppelt aufpassen und dicke Arme haben, denn es geht oft um Zentimeter, und wenn die fehlen, muss man sich umso mehr plagen und die Trage oft weit über Kopf stemmen, dann wieder ganz tief herablassen, um sie dann wieder hochzustemmen. Das gibt kräftige Arme, geht aber auch ziemlich auf den Rücken. Je mehr Krempel in einem Treppenhaus herumsteht, umso schwieriger wird die Arbeit für uns.
Heute Nacht war es das vierte Obergeschoss, mit der Eingangstreppe also neun Treppen. Auf jeder Etage gab es zwei Wohnungstüren, und in wirklich jeder Wohnungstür standen Leute, entweder einzeln, im Doppelpack oder sogar ganze Familien. Alle steckten neugierig ihre Köpfe vor. Das ist nicht normal, denn üblicherweise bekommt in so einem Haus jeder alles mit, und die wissen ganz genau, dass der Bestatter da ist, und jeder bleibt angesichts unseres Auftauchens in seiner Wohnung. Hier war das anders. Vor allem gab es eine Frau, die sogar nachts einen geblümten Haushaltskittel trug, die uns schon unten an der Tür in Empfang nahm. Zunächst dachte ich, das sei eine Verwandte, erst später stellte sich heraus, dass sie die Hausmeisterin war. Die wich auch nicht von unserer Seite, lediglich beim Umbetten der Verstorbenen blieb sie, wie alle anderen auch, außen vor.
Dann aber übernahm sie das Gesamtkommando. Wild mit den Armen fuchtelnd, bahnte sie uns den Weg, wies ständig darauf hin, dass wir ja das neugestrichene Treppengeländer nicht verkratzen und bloß keine Bilder von der Wand reißen oder Blumen umwerfen sollten. Auf jeder Etage blieb sie kurz stehen, wir mit der schweren Trage hinter ihr, damit sie den jeweiligen Nachbarn eben mal erzählen konnte, dass Frau Sowieso gestorben sei und wie die doch zuletzt gelitten hat und dass wir die Bestatter sind und dass die jetzt bei uns auf der Trage liegt und dass wir sie jetzt wegbringen. Nachdem sie das das dritte Mal erzählt hatte, stieg in mir der unbändige Wunsch auf, der Frau einfach einen kleinen Tritt zu geben, Platz hätten wir im Wagen noch gehabt!
Schon viermal hatte ich ihr gesagt: »Das ist schwer hier, halten Sie uns bitte nicht auf!«
Und jedes Mal hatte sie genickt und irgendwas wie »Bahn frei!« gerufen, blieb dann aber doch wieder an der nächsten Tür stehen.
Als wir endlich unten waren, war sie offenbar so froh, dass wir nichts kaputt gemacht hatten, dass sie mir und dem Fahrer ein Trinkgeld geben wollte, jedem einen Euro. So was kommt manchmal vor, aber Münzen sind da eher selten. Jetzt haben wir beim Abtransport einer Leiche naturgemäß beide Hände voll, und ich hätte gar nicht gewusst, wie ich ihre Münze annehmen sollte. Gerade fuchtelte sie dem Fahrer mit dem Euro vor dem Gesicht herum, da fällt mir auf, was der für eine dicke Unterlippe hat. Wenn der die jetzt ein wenig vorstülpt, denke ich, könnte man den Euro … Ich muss mir wirklich Mühe geben, nicht zu lachen und Würde zu bewahren.
Endlich sind wir am Auto und können die Trage hineinschieben, und endlich kann die Hausmeisterin dem Fahrer seinen Euro geben, dann kommt sie zu mir, drückt mir auch einen Euro in die Hand, hält kurz inne und fragt: »Sind Sie der Chef?« Ich nicke, und zack ist der Euro wieder verschwunden: »Dem Chef gibt man ja kein Trinkgeld …«
Ach Mann, ich hätte so viel vorgehabt mit dem Geld!