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Die allermeisten Leute sterben heutzutage ja im Krankenhaus oder Pflegeheim. Nur die wenigsten sterben zu Hause. So spielt sich der Bestatteralltag oft zwischen weißen Krankenhauskacheln und in den betonierten Kellern von Altenheimen ab. Kommt man aber mal zu den Familien ins Haus, dann kann man oft einiges erleben und berichten.
Frau Klemperer kommt und hat Sterbepapiere in der Hand – man muss dann nicht fragen, was sie will, das sehen wir sofort. Ihr Bruder ist verstorben, gestern Abend, in seiner Wohnung. Soweit nichts Ungewöhnliches, doch ich merke gleich von Anfang an, dass da noch irgendetwas ist, aber sie rückt mit der Sprache nicht heraus.
Eine Feuerbestattung soll es werden, keine Trauerfeier, direkt zum Einäschern.
Später dann, wenn die Urne beigesetzt wird, soll ein Pfarrer kommen, es werden eh nur zwei oder drei Leute am Grab sein.
»Mein Bruder hat ganz alleine gelebt.«
Ja und? Nun komm endlich raus mit der Sprache, ich merke doch, dass da noch was ist.
»Seine Lebensumstände waren, sagen wir es mal so, etwas ungewöhnlich.«
Hopp!
»Haben Sie so eine Leichenbahre aus Stoff?«
Ich glaube zu wissen, was sie meint, und nicke nur.
»Das wird nämlich so eine Sache mit dem, wenn Sie den nachher aus der Wohnung holen.«
Mir bleibt nichts anderes übrig, als sie weiterhin erwartungsvoll anzuschauen.
Ja, der Bruder habe im Gartengeschoss gewohnt, was ja für gewöhnlich nichts anderes heißt, als dass die Wohnung im Keller liegt, aber Fenster hat, die Tageslicht hereinlassen. Aber wir sollen bitte auf so einiges gefasst sein, der Bruder sei eine Art Sammler gewesen. Am besten sei es, wenn wir genau um 8 Uhr hinfahren, weil dann auch der Verwalter kommt. Frau Klemperer will später wiederkommen und noch das Stammbuch bringen.
Unsere Männer fahren los, es sind so knapp zehn Kilometer bis zur angegebenen Adresse. Sie haben die Scherentrage, eine Falttrage und einen Tragesack dabei. Normalerweise sollte es nur eine knappe Stunde dauern, bis sie wieder zurück sind, doch nach 45 Minuten rufen sie an und fordern Unterstützung an. »Wir brauchen hier noch zwei Mann.«
Manni, der Fahrer, und ich fahren los; wir gehen davon aus, dass der Verstorbene ziemlich korpulent ist. Doch als wir dort ankommen, erwartet uns etwas ganz anderes. Schon an der Haustüre begrüßt uns ein unfreundlicher Kerl mit den Worten: »Das wird aber auch Zeit! Glauben Sie, ich habe hier ewig Zeit, oder was?«
Wir nicken ihm nur zu und gehen an ihm vorbei. Vier, fünf Stufen sind es, die nach unten führen. Unten gibt es zunächst einmal eine ganze Batterie von Stromzählern an der Wand, links ist eine Wohnungstür, rechts steht eine offen. Wieder ist der Verwalter da, er sprüht uns mit einer Sprayflasche zwischen den Füßen herum und schiebt uns in Richtung Wohnungstür.
Wenn ich schreibe, dass die offen steht, dann ist das nur die halbe Wahrheit, denn sie steht nur halb offen und lässt sich auch keinen Millimeter weiter öffnen. Der Flur hinter der Tür ist mit Stapeln von Zeitungen und Zeitschriften ausgefüllt, die bis unter die Decke reichen. Man kann nur einen guten Meter weit in den Flur vordringen, dann muss man nach rechts in die Küche abbiegen. Der Flur ist regelrecht mit Zeitungsstapeln zugemauert.
Die Küche ist ein Alptraum! Plastikflaschen, Glasflaschen, Hunderte … Überall Plastiktüten mit Müll, jede Menge Geschirr und Töpfe mit vergammelnden Essensresten, und überall krabbelt es. Man weiß nicht, wo man seine Füße hinsetzen soll. Manni kramt zwei Paar Überzieher für die Schuhe aus der Jackentasche, wir ziehen sie über. Außerdem ziehen wir Gummihandschuhe an. Von der Decke baumelt an einem Draht eine Glühbirne, der Rollladen ist heruntergelassen.
»Was da so knistert, das ist das Ungeziefer«, sagt der Verwalter, der einfach mitgelaufen ist, und sprüht weiter. Links geht es in ein weiteres Zimmer, und ich höre von dort die Stimmen meiner Männer, also müssen wir da entlang. Der Gestank ist unbeschreiblich, moderig, faulig, angebrannt, man kann kaum atmen.
Im Nebenzimmer stehen bis unter die Decke gestapelt auf der einen Seite Bananenkartons und auf der anderen Seite alle Arten von elektrischen Haushaltsgeräten, vom Bügeleisen bis zum Toaster, das wenigste davon gebrauchsfähig, wie man auf den ersten Blick sieht. Zwischen dem Gerümpel bleibt ein Gang von kaum 20 Zentimeter Breite, und man muss sich schon quer hindurchschieben, um in den nächsten Raum zu gelangen. Besonders dick kann der Verstorbene nicht gewesen sein.
Das nächste Zimmer erreicht man wieder über den Flur. Wir befinden uns also hinter der vorher beschriebenen Wand aus deckenhoch gestapelten Zeitschriften. Auf dieser Seite sind Bretter eingezogen und darauf zahlreiche Plastiktüten bis unter die Zimmerdecke gestopft. Man muss den Kopf einziehen, sich quer weiterschieben und wie in einem Labyrinth mehrfach um irgendwelche Türme aus Kartons, Kästen oder Zeitschriften herumlaufen. Da kommt man wirklich mit keiner normalen Trage durch. In diesem Zimmer, es liegt am Ende des Gangs, sind meine beiden Fahrer, und dort liegt auch der Verstorbene. Es ist nicht sonderlich viel von ihm zu erkennen. Man kann nicht einmal richtig bestimmen, ob das da auf seinem Kopf eine Mütze ist oder ob es seine Haare sind. Ein kleiner Mann, der auf einem Schlafsack am Boden liegt, die Augen totenstarr geöffnet, um ihn herum einige Paare Gummihandschuhe, auf seiner Brust einige aufgeklebte Einwegelektroden, die üblichen Anzeichen dafür, dass ein Notarzt da war. Es riecht, als läge er schon wochenlang in der Wohnung, aber er ist tatsächlich erst gestern verstorben. Ein paar goldmessingfarben glänzende Käfer huschen über den in Fäden liegenden Teppich.
Meine Männer arbeiten mit Stirnlampen, wie Bergleute, das Licht im Zimmer kommt von einer 25-Watt-Birne, wird aber durch von der Decke baumelnde Gegenstände abgeschirmt. An das Fenster kommt man gar nicht heran. Unsere Aufgabe ist es, den Mann da herauszuholen – aber wie? Es würde mindestens zwei Tage dauern, bis eine Entrümpelungsfirma wenigstens so viel von dem angesammelten Zeug weggeräumt hätte, dass wir halbwegs geradeaus mit der Trage herein- und mit dem Verstorbenen darauf wieder hinauskönnen.
Manni meint: »Was ist denn mit dem Fenster?«
»Auch viel Arbeit, bis wir da einen Weg freigeschaufelt haben«, sagt einer der beiden anderen Fahrer.
Von irgendwo vorne am Eingang dringen Stimmen zu uns durch. Sie werden lauter, irgendwer kommt, und dann hören wir: »Endlich kommt der weg, das wird aber auch Zeit, die sollen sich mal beeilen, so ein Gestank, mein Gott, was für eine Sauerei, da kommt ja kein Mensch durch!« Es ist eine Frauenstimme, aber wir bekommen die Frau nicht zu sehen – anscheinend schiebt der Verwalter sie wieder hinaus, denn die Stimme entfernt sich wieder.
Ich muss eine Entscheidung treffen, der Mann muss aus der Wohnung. Und das Ganze muss schnell gehen, denn es ist niemandem von uns zuzumuten, noch viel länger in diesem Gestank und Gekrabbel zu bleiben.
»Sacktrage!«, lautet mein Kommando. »Wo wir reinkommen, können wir ihn auch rausbekommen.«
Die Männer nicken, und Manni holt die Sacktrage. Grauer, abwaschbarer, plastifizierter Stoff, ein langer Reißverschluss, mehrere Gurte zum Zuschnallen und ringsherum Griffschlaufen zum Tragen. Da hinein betten wir den Verstorbenen, Manni legt einen Rachenverschluss. Das ist ein Spray, das tief in den Hals gesprüht wird und sich dort ausdehnt. Wir werden den Mann möglicherweise im Transportsack auch kopfüber stellen müssen und wollen unangenehme Überschwemmungen im Leichensack vermeiden.
Dann ziehen wir den Reißverschluss zu, und los geht’s. Es sind wirklich vier Mann notwendig – nicht etwa weil der Verstorbene so schwer wäre, sondern einfach weil es viel zu eng ist in der Wohnung.
An manchen Stellen sind nur wenige Quadratzentimeter Boden zu sehen, man kann nur die Füße voreinandersetzen, sich seitwärts zwischen den Stapeln hindurchschieben. Der Mann hat zu Lebzeiten so viele Türme aus Gerümpel aufgebaut, dass wir die Sacktrage 15- bis 20-mal senkrecht stellen müssen.
Zwei Mann halten sie hoch, die anderen beiden müssen sich an der Sacktrage vorbeizwängen und sie dann um die Ecke ziehen, was dadurch erschwert wird, dass man nicht nebeneinanderstehen kann.
Gut eine halbe Stunde ziehen, zerren und stemmen wir, manchmal stecken wir regelrecht fest, müssen wieder drei, vier Meter zurück, damit noch ein Mann an der Sacktrage vorbeikann, und durch die rege Tätigkeit in der Wohnung wird allerlei Ungeziefer zu erhöhter Aktivität angeregt. Es krabbelt wirklich überall, an den Wänden, auf dem Boden, ja sogar an der Decke.
Klirrend stürzen Flaschen zu Boden, als wir in der Küche um die Ecke biegen, doch kurz darauf haben wir es geschafft, sind nassgeschwitzt und haben den Verstorbenen endlich im Treppenhaus. Dort empfängt uns Stimmengewirr, die ganzen Hausbewohner scheinen sich versammelt zu haben. Ich bitte die Leute, eine Treppe weiter hochzugehen, damit wir Platz haben. Sie machen das auch, und ich merke, dass man uns Sympathie entgegenbringt – man ist froh, dass wir den Mann abholen, dass der Spuk im Kellergeschoss bald ein Ende hat. Traurig.
Der Rest ist schnell erledigt. Den Verstorbenen in den Bestattungswagen zu legen, die Klappe zu schließen, das dauert nur wenige Minuten. Ein Hausbewohner kommt und bringt ein Tablett mit vollen Schnapsgläsern: »Den werden Sie jetzt brauchen.« Da hat er recht!
Zu Hause ist erst einmal Duschen angesagt. Die Kleider fliegen komplett in den Wäschesack, doch ich habe das Gefühl, als röche ich trotzdem immer noch nach fauligem, muffigem Müll.
Herr Huber macht sich in unserem Versorgungsbereich direkt daran, den Verstorbenen zu waschen und ansehnlich zu machen. Er wird zwar nicht aufgebahrt, aber der Mann ist so schmutzig, das kann man nicht so lassen.
Später am Tag kommt Frau Klemperer, man sieht es ihr an, dass es ihr peinlich ist, wie wir ihren Bruder vorgefunden haben.
Vor zwölf Jahren hat ihn seine Frau verlassen, was der Mann nicht verkraftet hat. Wenige Monate später kam er in die Psychiatrie, blieb dort ein halbes Jahr und bekam dann von der Stadtverwaltung eine kleine Wohnung zugewiesen. Frau Klemperer erzählt, ihr Bruder habe sich von der Regierung verfolgt gefühlt und sei fest davon überzeugt gewesen, dass er alles Mögliche sammeln müsse, um sich für eine Belagerung zu wappnen. Schon die erste Wohnung habe er verwahrlosen lassen und mit Sammelgut vollgestellt.
Damals wurde er wieder in die Psychiatrie eingewiesen, doch das war dann auch das letzte Mal. Eine zweite Wohnung folgte, die verlor er auch wieder und bekam dann die jetzige Wohnung zugewiesen, die der städtischen Wohnungsgenossenschaft gehört. »Da konnte man ihn nicht so einfach rausschmeißen, und in die Psychiatrie kam er ja auch nicht mehr. Die haben gesagt, solange er niemandem was tut, kann man da nichts machen.«
Alle paar Monate habe der Hausverwalter das Gesundheitsamt gerufen und in Abständen von etwa zwei Jahren sei die Wohnung zwangsweise komplett entrümpelt und von einer Hygienefirma »entwest« worden.
»Das, was Sie da heute vorgefunden haben, das ist von den letzten 18 Monaten. Der war den ganzen Tag unterwegs und hat gesammelt. Das Zeug hat er dann irgendwo in der Stadt in Büschen und Unterführungen versteckt und abends im Schutz der Dunkelheit in seine Wohnung geschafft.«
Kontakt habe sie kaum noch zu ihrem Bruder gehabt. Der hatte kein Telefon, meldete sich auch nie, und ihr war es irgendwann so peinlich, dass sie sich bewusst nicht mehr gekümmert hat. »Dem war auch nicht zu helfen.«
Das Schlimme allerdings ist, dass Frau Klemperer kein Scheidungsurteil von ihrem Bruder hat. Das benötigen wir aber zur Beurkundung des Sterbefalls beim Standesamt. »Das muss irgendwo in dem ganzen Zeug sein, das er gesammelt hat. Du meine Güte, was kommt da denn jetzt auf mich zu?«, jammert Frau Klemperer.
Ich beruhige sie und gebe ihr die Telefonnummer eines Bekannten, der eine Spezialfirma für Haushaltsauflösungen und Entrümpelungen hat. Der ist sehr zuverlässig, und normalerweise kommt das die Auftraggeber auch recht günstig, weil verwertbare Gegenstände angerechnet werden. In diesem Fall dürfte das anders aussehen, denn Verwertbares wird es nicht geben.
»Das macht nichts«, sagt Frau Klemperer. »Geld habe ich genug, Hauptsache, ich muss da nicht selbst alles nach Dokumenten durchsuchen.«
Noch am gleichen Tag bringen wir den Mann zum Krematorium, besorgen eine vorläufige Genehmigung, und für uns ist damit alles erledigt. Es gibt keine Anzeige in der Zeitung, keine Trauerfeier, nichts.
Was bleibt, ist ein Haufen Müll. Die Entrümpelungsfirma hat vier Tage benötigt, um alles zu entsorgen, Dokumente wurden nicht gefunden. Danach kamen die Entweser, vernichteten alles Ungeziefer, sprühten Gift in die letzten Ritzen und entfernten alles aus der Wohnung bis auf den blanken Putz. Der Geruch soll angeblich geblieben sein. So wenig bleibt manchmal von einem ganzen Menschenleben …