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Die folgende Geschichte erzähle ich immer denjenigen, die meinen, unser Beruf sei vielleicht langweilig, und wir hätten es im Grunde den ganzen Tag nur mit toten alten Leuten zu tun. Die Toten beschäftigen uns dabei in Wirklichkeit nur eine recht kurze Zeit, am meisten haben wir mit den Hinterbliebenen zu tun, und da wir Sterbefälle nicht nur nach Schema F abwickeln, sondern stets auch ein offenes Ohr haben, erleben wir so manches Schicksal mit.
Beat. Zunächst glaube ich an einen Schreibfehler, doch dann fällt mir ein, dass die Eidgenossen ja die Angewohnheit haben, ihren männlichen Nachkommen etwas andere Namen zu geben als wir.
»War Ihr Mann Schweizer?«, frage ich deshalb die junge Frau, die da vor mir sitzt. Ich will sie nicht so anstarren, aber es fällt mir schwer, den Blick von ihr zu wenden. So eine schöne Frau habe ich selten gesehen. Blond ist ja sonst nicht so meine Farbe, aber sie ist eine von den Blonden, die keine andere Haarfarbe haben dürften. Ein schmales, scharf geschnittenes Gesicht, hohe Wangenknochen und schmale, aber ausdrucksvolle Lippen, zwei kleine Grübchen auf den Wangen und Augen so blau wie das Mittelmeer an einem schönen Sonnentag.
»Nein«, sagt sie, und ihre Stimme klingt einfach phantastisch. »Er ist Deutscher, ich glaube, der Opa war Schweizer.«
Die junge Frau heißt Daniela, ist gerade einmal 29 Jahre alt und angestellte Apothekerin. Ihr Mann Beat ist gestern Abend gestorben, er hat sich nach dem Abendessen in seinen neuen Audi gesetzt, wollte es, wie er sagte »mal richtig krachen lassen«, womit er meinte, dass er versuchen wollte, eine verkehrsarme Stelle auf der Autobahn zu erwischen, um herauszufinden, wie schnell sein Auto fährt.
Das mit dem Krachenlassen hat geklappt.
Als unsere Männer an den Unfallort kamen, war es schon nach 22 Uhr. Die Feuerwehr hat Teile des Daches vom Audi abschneiden müssen und mit Hydraulikstempeln die Karosserie auseinandergedrückt. Das viele Blut an Airbag, Armaturen und Sitz zeigt, dass Schlimmes zu erwarten stand.
Die Retter und der Notarzt müssen vor Ort noch fast eine Stunde um das Leben des Mannes gekämpft haben. Es sei aber ein absehbarer und aussichtsloser Kampf gewesen, den man zwar hat kämpfen müssen, den man aber nicht gewinnen konnte.
Fix und fertig sind die Rettungskräfte, die Polizisten haben versteinerte Gesichter, nur einer überspielt den Schrecken mit Schnoddrigkeit und weist unseren Fahrern mit einer Taschenlampe den Weg.
Der Audi ist als solcher gar nicht mehr zu erkennen, und nicht weit davon entfernt steht der Rettungswagen, in dem der Verstorbene in unseren Transportsarg umgeladen werden kann.
»Also hundertvierzig hat der draufgehabt, eher mehr, dann ist der links auf die Begrenzungslinie gekommen, muss hier drüben an die Leitplanke gekommen sein, hat dann einen Drall nach rechts gekriegt und ist quer über die drei Spuren da hinten erst vor die Schilderbrücke und dann vor den Pfeiler«, erklärt der Schnoddrige und schreibt sich den Namen unseres Institutes in sein Notizbuch.
Sandy schlägt im wahrsten Sinne des Wortes die Hände über dem Kopf zusammen, und wir stehen da und wissen, dass viel Arbeit auf uns zukommt. »Hoffentlich will den keiner mehr sehen«, sagt sie, und ich stimme ihr zu. »Machen wir ihn erst mal sauber«, sage ich, und wir beginnen, den Leichnam zu waschen, erst dann kann man sehen, wie schlimm es wirklich ist.
Es ist wirklich schlimm.
»Hören wir mal, was morgen die Angehörigen sagen, und dann sehen wir weiter«, sage ich, und wir bedecken den Toten mit einem weißen Tuch und schieben ihn in die Kühlkammer.
Die Angehörigen? Es gibt nur Daniela und einen Vater, und ich bin froh, dass sie uns den Auftrag erteilt. Die Pietät Eichenlaub, dieses wenig geliebte Großunternehmen mit seinen vielen Filialen, zieht nämlich seit einigen Monaten durch die Altenheime und Kirchengemeinden und macht sogenannte Vorsorgeberatungen. Das sind reine Reklameveranstaltungen, und die haben eben nicht nur zum Ziel, möglichst viele Bestattungsvorsorgeverträge abzuschließen, sondern auch aktuell Sterbefälle zu bekommen. Wir merken das ein bisschen, und so ist es jetzt schon zweimal vorgekommen, dass wir zwar einen Verstorbenen vom Unfallort abgeholt haben, dann aber am nächsten Tag die Angehörigen zur Pietät Eichenlaub gelaufen sind, weil die derzeit auch mit einem »Komplettpreis von nur Euro 599,-« werben.
Es hat zwar noch keiner so eine billige Bestattung dort bekommen, aber zunächst glauben die Leute das ja.
Aber Daniela bleibt bei uns, das ist gut so, und umso mehr will ich mich bemühen, alles besonders gut zu machen, damit sie zufrieden ist.
»Wir haben gerade erst unser Haus bezogen, und für das kommende Jahr hatten wir das erste Kind geplant. Bis dahin wären wir aus dem Gröbsten raus gewesen. Und jetzt das!«
Sie weint und tut das auf die vornehme Art, mehr so in sich hinein, fast schon verschämt.
»Weinen Sie ruhig, das tut gut«, sage ich und gehe einfach mal nach nebenan, lasse ihr die Zeit, lasse sie ein bisschen alleine.
Nach kurzer Zeit komme ich wieder, schaue sie nur an, und sie putzt sich nochmals die Nase. »Ich kann das alles gar nicht glauben, der ist nicht tot, der kann doch gar nicht tot sein, der kann mich doch jetzt nicht alleine lassen …«
Beats Vater war am Morgen mit einem Polizeibeamten da gewesen, und Sandy hatte den Verstorbenen notdürftig hergerichtet. Der Vater hatte nur stumm genickt und war sogleich wieder verschwunden, der Polizist gab uns den Namen des zuständigen Staatsanwaltes. Der aber wollte den Fall schnell vom Tisch haben; es ist nur ein Unfall, der Mann kann bestattet werden.
Seitdem arbeitet Sandy an dem jungen Mann, und das ist auch gut so, denn unvermittelt richtet sich Daniela auf und sagt: »Ich muss ihn sehen!«
Ich weiß, was in ihr vorgeht, sie kann es einfach nicht glauben, sieht die Welt derzeit wie durch Watte und kommt sich vor, als spiele sie eine Rolle in einem Film, ohne das Drehbuch zu kennen.
So ist das nämlich oft, wenn jemand stirbt. Bestatter, Polizei, Friedhöfe, alle nehmen einem alles aus der Hand, es läuft nach einem festgelegten Schema ab, von dessen Stationen man keine Ahnung hat, es läuft sozusagen an einem vorbei, und man hat nicht die geringste Chance, daran teilzuhaben. Einmal darf man vielleicht kurz in der Zelle auf dem Friedhof einen Blick auf einen Leichnam werfen, der einmal ein Geliebter, ein Mann, ein Vater oder ein guter Freund war. Der Bestatter wird sein Bestes gegeben haben, der Tote sieht anständig aus, aber er sieht nicht aus wie der Mensch, den man gekannt hat, fremd, anders, unecht irgendwie; und das bestärkt einen dann noch darin, dass das alles gar nicht wahr sein kann. Es fehlt auch die Zeit, alles muss schnell gehen, man kommt gar nicht zur Ruhe, bekommt gar nicht die Gelegenheit, ganz langsam loslassen zu können, Abschied zu nehmen und seinen Frieden mit der beschissenen Situation zu machen.
»Kommen Sie!«, sage ich, biete ihr meinen Arm an und führe sie zum Aufzug. Wir fahren hinunter. Ich habe extra nicht unten angerufen, habe den Verstorbenen nicht in eine Aufbahrungszelle legen lassen, ich möchte, dass Daniela mit dem Tod konfrontiert wird. Dann kann der Schrecken sich lösen und dann können wir Schritt für Schritt all das ermöglichen, was nötig ist, um ihr den Abschied wenigstens ein bisschen zu erleichtern, ja um diesen Abschied überhaupt erst zu ermöglichen.
Unten angekommen, stehen wir im großen Sarglager, ich führe die junge Frau zu den Särgen, zeige ihr mal, was es da so gibt, nicht im Detail, mir geht es nur darum, dass sie versteht, dass wir in der Realität sind. Dann geht es an den Regalen mit den Decken und Hemden vorbei in Richtung der Kühlkammern. Manni schließt die Türen, als er uns kommen sieht, und stößt einen leisen Pfiff aus. So ist Sandy vorgewarnt, und als wir um die Ecke biegen, hake ich Daniela unter und führe sie in den gekachelten Raum mit den Edelstahlmöbeln, in dem Sandy gerade noch an Beat gearbeitet hat. Nackt, nur mit einem grünen Tuch bis unters Kinn bedeckt, liegt er da. Die Augen sind geschlossen, und von den schweren Gesichtsverletzungen ist nichts mehr zu sehen. Nein, er liegt nicht da, wie man es von den Leichen aus dem Krimi kennt. Das sind lebende Menschen, die nur so tun, als ob sie tot seien. Ein richtiger Toter sieht anders aus, da sieht man, dass da kein Leben mehr in ihm ist.
Daniela bleibt kurz stehen, sagt: »Beat!«, dann schlägt sie die Hände vor das Gesicht, und ich habe das Gefühl, als ob ihre Knie nachgeben. Manni ist sofort zur Stelle, wir stützen sie, aber es hat nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert, dann steht sie wieder fest, geht einen Schritt vor, schaut, geht noch einen Schritt vor und streckt ihre Hand aus, so als ob sie ihren Mann berühren wolle, doch es fehlt ein Zentimeter.
Mit diesem Zentimeter Abstand lässt sie ihre Hand über sein ganzes Gesicht gleiten, dann zieht sie sie zurück, schaut Sandy an und meint: »Ist das nicht ein hübscher Mann? Was meinen Sie?«
Sandy nickt: »Ja, ein klasse Typ.«
Unvermittelt dreht Daniela sich um, und wir gehen wieder, fahren nach oben und sitzen wenig später wieder im Beratungsraum.
»Wie geht es weiter?«, will sie wissen, und ich sage ihr, dass es genau so weitergeht, wie sie es sich wünscht.
»Ich habe doch keine Ahnung«, sagt sie, »ich war als Kind einmal auf der Beerdigung meiner Oma und weiß doch gar nicht, was man da so alles macht.«
Ich schlage ihr vor, dass wir einfach mal einen Sarg aussuchen und dann gemeinsam überlegen, wie der grobe zeitliche Ablauf sein soll. Gerne möchte ich nämlich, dass Daniela nach Hause geht und in aller Ruhe überlegen kann, morgen werden wir dann gemeinsam ein Abschiednehmen erarbeiten.
Sie entscheidet sich spontan für einen großen Sarg in schwarzem Klavierlack. Der sei genauso glänzend und schwarz wie der Audi.
Ein Totenhemd will sie auf keinen Fall. Ich sage: »Dann suchen Sie für ihn aus, was Sie für richtig halten. Bringen Sie morgen einfach alles mit.«
»Soll ich das in einen Koffer tun?«, fragt sie, und ich nicke: »Ja, nehmen Sie einen kleinen Koffer und packen Sie den für Beat, tun Sie da alles rein, was er mitnehmen soll.«
Kurz huscht ein Strahlen über ihr Gesicht, und die schönen blauen Augen leuchten für eine Sekunde auf. Ich habe den richtigen Nerv getroffen.
Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. So ist es gut, wir werden den plötzlichen, erzwungenen Abschied in einen langen Abschied verwandeln, in dem wir Daniela ihren Beat auf die letzte große Reise schicken lassen.
Es ist noch viel zu früh, da klingelt es schon, und ich schlüpfe nur in eine schwarze Jogginghose, streife mir ein T-Shirt über und gehe nach unten. Wenn das wieder nur irgendein indischer Pizzazettelverteiler ist, der unseren Briefkasten nicht gefunden hat, bin ich fest entschlossen, Indien durch eine sofortige Handlung davor zu bewahren, China in zwölf Jahren als bevölkerungstärkstes Land zu überholen.
Aber da steht kein schmächtiger Schwarzhaariger, sondern eine zierliche Blonde, Daniela ist gekommen.
Ihr Mantel ist vom Regen ganz durchweicht, ihre Haare sind klitschnass, und in der Hand hält sie einen kleinen, etwas verschossenen Lederkoffer.
»Ich wollte die Sachen für Beat bringen.«
»Kommen Sie herein, Sie sind ja ganz nass«, sage ich und bugsiere Daniela in mein Büro. Dort nehme ich ihr den Mantel ab und hänge ihn nebenan auf den Kleiderständer, den ich vor die Heizung schiebe.
Aus einem Regal greife ich ein Handtuch und bringe es Daniela: »Trocknen Sie sich erst mal die Haare, Sie werden sonst noch krank.«
Dann gehe ich Kaffee machen.
Als ich wieder ins Büro komme, hat sich Daniela aus dem Handtuch eine Art Turban gebunden. Meine Frau macht das auch so, ich werde nie begreifen, wie das hält. Vielleicht stecken sich die Frauen das Handtuch mit Nadeln am Kopf fest, viel kaputtgehen kann da ja nicht, Handtücher sind ja robust.
So sitzen wir da und keiner sagt etwas. Bevor die Stille aber unerträglich wird, sage ich: »Na?«
Daniela zuckt kurz zusammen, sie war mit ihren Gedanken offenbar ganz woanders, obwohl sie mich die ganze Zeit angesehen hat. Ich bilde mir auf so was aber schon lange nichts mehr ein, so viel gebe ich nicht mehr her, als dass sich Frauen mit Blicken an mir festsaugen.
Sie nimmt den Koffer, der neben ihr auf dem Boden gestanden hat, und fragt: »Wollen Sie da mal einen Blick hineinwerfen? Ich weiß nicht, ob ich alles habe. Mir ist so, als hätte ich irgendwas vergessen.«
Ich nehme den Koffer, den die junge Frau für ihren Mann gepackt hat. Diese Sachen sollen ihn also auf der letzten Reise begleiten.
Ich öffne ihn aber nicht, habe ihn auf meinen Knien stehen und überlege, wie es weitergehen soll. Soll ich nun nachschauen, die Sachen kommentieren, oder was soll ich tun?
Besser ist es, beschließe ich, wenn wir das gemeinsam zu Beat bringen, aber ich möchte, dass Daniela zuerst Kaffee trinkt und wenigstens ein paar Kekse isst. Sie macht mir nämlich nicht den Eindruck, als habe sie schon gefrühstückt.
Wenig später sitzen wir vor dampfendem Kaffee, und Daniela kaut brav an einer Puddingschnecke. Die ist zwar von gestern, aber das merkt sie nicht, wiewohl Antonia nachher sicher merken wird, dass da eine Kalorienbombe aus ihrem Arsenal fehlt. Ich hätte Daniela auch trockenes Heu geben können, sie weiß gar nicht, was sie da isst, sie funktioniert wie ein Roboter.
Unvermittelt sagt sie: »Räto hat angerufen.«
»Wer oder was ist ein Räto?«, frage ich, und sie lächelt kurz. »Räto ist mein Schwiegervater.«
»Und zu dem haben Sie kein gutes Verhältnis?«
»Überhaupt keins.«
»Das ist wenig.«
»Pfft, der kann mir gestohlen bleiben.«
»Warum sind Sie sich nicht grün?«
»Ach, das ist eine lange Geschichte«, sagt Daniela, nimmt einen Schluck Kaffee und erzählt dann: »Beat hatte noch einen Bruder, der ist zwei Jahre nach ihm geboren worden und war von Geburt an schwerstbehindert. Er wurde mit offenem Kopf geboren. Wie das aber so ist, bekam er die ganze Aufmerksamkeit der Eltern, die sich praktisch rund um die Uhr um ihn kümmern mussten. Man hatte ihnen gesagt, er würde wohl kaum älter als fünf Jahre werden, so schwer war die Behinderung. Da waren eigentlich alle Organe irgendwie in Mitleidenschaft gezogen. Aber die Eltern schafften es, den behinderten Bruder so gut zu pflegen, dass er nicht starb. Vor drei Jahren, da war der Bruder 25 Jahre alt, versagten die Nieren dann ihren Dienst. Beats Vater hat von Beat verlangt, dass er seinem Bruder eine Niere spendet. Beat wollte zunächst nicht, aber der Alte gab keine Ruhe, und der Druck auf Beat wurde immer größer. Schließlich hat er sich doch bereit erklärt. Beat wollte das nicht, weil der Bruder trotz der Nierenspende nicht mehr sehr lange überlebt hätte. Bauchspeicheldrüse, Magen, Leber, alles versagte allmählich seinen Dienst. Die ganzen Organe waren überhaupt nicht richtig ausgebildet, es ist ein Wunder, dass der Bruder überhaupt so lange gelebt hat. Beat musste dann vor einer Ethikkommission seinen Entschluss zur Organspende begründen. Ja, und die Damen und Herren haben der Lebendspende nicht zugestimmt. Die Bereitschaft dazu sei unter Druck zustande gekommen, und der Spender sei nicht frei von Zweifeln. Beats Vater gab ihm natürlich die Schuld daran, und über den Streit ist der Bruder dann verstorben. Auch daran trug natürlich Beat die Schuld, ist ja klar. Sie können sich vorstellen, dass der Vater von da an mit Beat nichts mehr zu tun haben wollte. Ganz aus war es, als dann kurz darauf auch noch Beats Mutter verstarb. Ein Schicksalsschlag nach dem anderen.«
Das ist heftig. Ich weiß zu wenig von Beats Vater Räto, um mir ein Urteil erlauben zu können, jedenfalls könnte ich gut verstehen, wenn er verbittert wäre. Für ihn muss die Möglichkeit einer Nierentransplantation so etwas wie ein Strohhalm gewesen sein, nach dem ja sprichwörtlich der Ertrinkende greift. Und wer am Ertrinken ist, wer in einer Notlage, in einer verzweifelten Situation ist, dessen Sinne sind oft getrübt, und der erwartet manchmal von seinen Mitmenschen mehr, als diese leisten können.
»Jedenfalls habe ich von Räto nichts zu erwarten.« Mit diesem Satz reißt mich Daniela aus meinen Gedanken, und sie sagt weiter: »Am Telefon hat er gesagt, dass er die Kosten für die Beerdigung bezahlt, aber dass er nicht kommen wird.«
»Gibt es sonst noch jemanden?«, frage ich, und Daniela schüttelt mit dem Kopf: »Nein, niemanden.«
»Keine Freunde oder Bekannte?«
»Doch natürlich, aber wir sind noch nicht so lange in der Gegend und kennen noch nicht so viele. Sie wissen vielleicht, wie das ist, wenn man heiratet, da gehen so manche Freundschaften den Bach runter.«
»Wenn die Trauerfeier ist, was denken Sie, wie viele Leute kommen werden?«
»Keine Ahnung, vielleicht zehn oder zwölf.«
Mir fällt der Koffer wieder ein, und ich klopfe auf ihn und schaue Daniela fragend an.
»Ja, wir bringen Beat jetzt seine Sachen.«
Ein paar Momente später stehe ich im Gang nebenan; Daniela ist im Damenwaschraum verschwunden, sie will sich die Haare etwas richten und das Geheimnisvolle tun, was Frauen eben in Damenwaschräumen so zu tun pflegen. Es dauert ein wenig, und ich gehe schon mal links den Gang runter zu den Aufbahrungszellen, lasse aber die große Doppeltür offen und stelle den Koffer dorthin, damit Daniela sehen kann, wohin ich gegangen bin.
Seit gestern hat sich ein bisschen was getan. So nackt unter einem grünen Tuch wollten wir der jungen Witwe ihren verstorbenen Mann nicht nochmals präsentieren. Eine Garnitur weiße Unterwäsche haben wir ihm angezogen und ihn in den schwarzglänzenden Sarg gebettet. Mit Kissen und Decke sieht das jetzt schon ganz anders aus als gestern unten im gekachelten Raum.
Aber so wollte ich es haben. Die Frau soll sehen, wie ihr Mann schrittweise auf den letzten Weg vorbereitet wird.
Wenn dann alles fertig und perfekt ist, dann wird sie – so hoffe ich – loslassen können.
Kein Mensch kann ihr die Trauer nehmen, das will auch keiner. Und erst recht will ihr niemand ihre Erinnerungen nehmen. Wir können auch die Leere in ihrem Herzen nicht füllen, und ich kann den leeren Platz an ihrer Seite nicht besetzen. Damit wird sie leben müssen. Was wir aber tun können, ist, dass wir dieses »Mal-eben-kurz-Weggehen-und-nie-Wiederkommen« beseitigen. Jemanden nach einer Krankheit im Krankenhaus sterben zu sehen, oder zu wissen, dass er dort gestorben ist, das ist eine Sache. Viel schrecklicher aber ist es, wenn jemand mal eben nur weggeht und dann nie wiederkommt.
Aber er ist ja da. Beat liegt hier vor mir, und nun werde ich Daniela an die Hand nehmen müssen, damit sie den Prozess des Abschiednehmens mit mir durchlaufen kann. Diesen Schrecken in ihrem Herzen will ich löschen und durch Ersatzhandlungen auffüllen. Handlungen, die vielleicht auf einen Außenstehenden merkwürdig wirken können, die Daniela aber immer in Erinnerung bleiben werden und die so mithelfen, diese Leere wegzufegen.
Ich höre die Tür und drehe mich um, Daniela kommt und hat den Koffer dabei.
Ihr Schritt ist fester als gestern, und sie nähert sich dem Sarg dieses Mal, ohne zu zögern.
Dann bleibt sie stehen, und ich nehme die Sache in die Hand, ergreife den Koffer und lege ihn am Fußende auf die Decke. Das tue ich bewusst, Daniela soll sehen, dass man da keine Berührungsängste haben muss.
»Kommen Sie, packen Sie mal aus!«, sage ich.
Sie lässt die beiden Schnappschlösser des Koffers aufspringen und klappt den Deckel hoch. Zuoberst liegt eine Hose, ich sehe noch Socken und ein Hemd.
»Ist ja gut, dass wir Unterwäsche dahatten«, sage ich, und Daniela ist etwas erschrocken: »Ach Mensch, stimmt ja, Unterwäsche! Daran habe ich gar nicht gedacht.«
»Er hat ja welche«, erwidere ich und beschließe genau in diesem Moment, Beat jetzt anzuziehen.
Ich stelle den Koffer auf den Boden, nehme die Decke weg und ziehe ihm die Socken an. Das kann man ganz gut alleine machen. Aus den Augenwinkeln beobachte ich Daniela. Nein, sie ist nicht abgestoßen, sie schaut eher neugierig. Dann bückt sie sich, nimmt die Hose aus dem Koffer und reicht sie mir. Sie macht also mit, ein bisschen wenigstens, das ist ja schon mal was.
Ich fange an, die Hose über die Beine zu streifen, auch das geht ganz gut alleine. Man muss an den Knien etwas ruckeln, doch dann kommt der Po, und da ist es immer gut, wenn jemand hilft.
Also schaue ich kurz in Danielas Richtung, und die bemerkt meinen Blick sofort.
»’tschuldigung«, sagt sie, und schon ist sie zur Stelle und hilft mir, den Hosenbund über die Hüften zu ziehen.
Für mich ist das nichts Besonderes, ich weiß, wie sich Leichen anfühlen. Aber wie wird Daniela darauf reagieren? Bis jetzt hat sie nur am Stoff gezogen, jetzt aber müssen wir ihm das Hemd anziehen, und dazu muss man den Verstorbenen anfassen.
Sie soll das aber tun, sie soll im wahrsten Sinne des Wortes begreifen, dass Beat tot ist.
Um einem Verstorbenen ein Hemd anzuziehen, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Um es jetzt so einfach wie möglich zu halten und Daniela zu ersparen, dass wir Beat komplett aufrichten und ihm die Arme nach hinten biegen müssen, entscheide ich mich dafür, das Hemd hinten aufzuschneiden.
»Ich schneide das Hemd jetzt hinten auf, dann können wir es ihm besser anziehen«, erkläre ich, und Daniela nickt mit großen Augen und meint nur: »Das ist in Ordnung, es ist ja nur zum Liegen.«
Ich knöpfe das Hemd vorne also zu, nur die oberen drei Knöpfe lasse ich offen. Dann schneide ich das Hemd hinten der Länge nach bis unter den Kragen auf. Jetzt kann das Hemd von vorne übergestreift werden. »Stecken Sie ihre Hand durch einen Hemdärmel und dann greifen Sie einfach Beats Hand und ziehen den Arm durch den Ärmel.«
Daniela nickt, und wir tun synchron dasselbe, sie links, ich rechts; und immer beobachte ich sie aus den Augenwinkeln, ich will ihr ja auch nicht zu viel zumuten. Doch sie ist tapfer, zögert nicht einmal in dem Moment, als sie Beats kalte Hand berührt.
Drei Sekunden später sind die Arme durch die Hemdärmel gezogen.
Ich erkläre, wie es weitergeht: »Sie nehmen jetzt beide Hände und heben die Arme von Beat ganz hoch, dadurch bekomme ich hier oben am Kragen genug Spielraum, damit ich ihn über den Kopf ziehen kann.«
Sie hebt, ich ziehe, und ganz kurz darauf hat Beat sein Hemd an. Die Seitenteile stopfe ich an den Seiten etwas fest, Daniela knöpft noch zwei Knöpfe zu und zieht das Hemd glatt. Das hatte ich ihr nicht gesagt, das tut sie aus eigenem Antrieb; gut so.
Wir stecken das Hemd noch in die Hose, zupfen noch mal hier und noch mal da, dann lege ich die Decke wieder über den Verstorbenen.
»Sollen wir seine Hände falten?«, frage ich, und Daniela überlegt kurz, dann schüttelt sie den Kopf: »Nö, Beat war nicht fromm.«
Ich lege seine Arme auf die Decke, lege die Hände nur ineinander, und dann stehen wir da und schauen ihn an.
Daniela macht einen sehr zufriedenen Eindruck.
»Wollen wir jetzt die restlichen Sachen aus dem Koffer holen?«, frage ich und bin erstaunt, als sie den Kopf schüttelt.
»Nein«, sagt sie, »kann ich das heute Nachmittag machen?«
Sie hat die Regie übernommen, das ist genau das, was ich erreichen wollte!
Ich ziehe mich auf den Gang zurück und lasse sie mit ihrem Mann allein. Sie steht nur da, schaut ihn an, und sie hat begriffen, dass er tot ist. Sie hat ihm seine Sachen gerichtet, so wie eine Frau es tut, wenn ihr Mann auf eine Reise geht.
Es wird seine letzte Reise sein, und ich glaube, dass Daniela das jetzt klargeworden ist.
Räto, Danielas Schwiegervater, sitzt mir gegenüber. Er möchte wissen, was geplant ist, denn er sieht es als Selbstverständlichkeit an, dass er die Beerdigungskosten für seinen Sohn bezahlt.
Ich sage ihm, dass Daniela und ich noch gar nicht näher über den Ablauf gesprochen haben. Das hat auch keine Eile, denn inzwischen hat mir Daniela zu verstehen gegeben, dass es eine Feuerbestattung werden soll. Sie möchte keine Witwe sein, die über zwanzig Jahre einige Quadratmeter Friedhof pflegen muss. Ein kleines Grab für eine Urne tut es auch, hat sie gesagt.
Räto hebt nur die Schultern und lässt sie seufzend wieder sinken: »Soll mir recht sein. Ich gehe da sowieso nicht hin.«
»Nein?«
»Nein, Daniela ist schuld, dass Beat die Organspende verweigert hat. Die mit ihren medizinischen Kenntnissen, das muss von der gekommen sein. Ich hätte mir ja sogar ein Herz herausgerissen, um meinem Sohn zu helfen, aber ich komme ja für Organspenden nicht in Frage, ich hatte vor ein paar Jahren was an der Prostata. Krebs, ist aber nichts mehr nachgekommen. Bei meiner Frau haben die Werte nicht gestimmt, und so blieb nur Beat als möglicher Spender übrig. Weil er nicht gespendet hat, ist mein Sohn gestorben.«
Ich kann dem Mann noch nicht genau sagen, was die Beisetzung kosten wird. Ich weiß noch zu wenig über den Ablauf, das werde ich später erst mit Daniela besprechen. Aber das ist ihm egal: »Ich unterschreibe Ihnen einen Lastschriftauftrag, und Sie buchen einfach die Summe von meinem Konto ab.«
Ich schaue etwas erstaunt, und er versteht das falsch: »Da ist genug Geld drauf!« Er zieht einen Kontoauszug aus der Tasche, streicht ihn glatt und zeigt ihn mir. Es ist eine erstaunlich hohe Summe.
Doch ich sage: »Ich glaube Ihnen, dass Sie über ausreichende Mittel verfügen, aber so eine Blanko-Abbuchung ist eher unüblich. Ich gebe Ihnen unsere Bankverbindung und die Auftragsnummer, und Sie können mir eine Anzahlung überweisen, später bekommen Sie dann die Schlussrechnung.«
Er nickt und steckt den Kontoauszug wieder ein.
Dann unterzeichnet er mir die Kostenübernahmeerklärung und eine Vollmacht.
Ob er seinen Sohn noch einmal sehen will, frage ich, und er schüttelt energisch den Kopf.
So gehen wir also gemeinsam in die Halle, und ich merke an seinem Schritt, dass er noch etwas auf dem Herzen hat.
Fast schon lenkt er seinen Schritt in Richtung der Aufbahrungszellen, dann geht aber ein Ruck durch seine Figur, und er geht zum Ausgang und verabschiedet sich.
Eine Stunde später kommt Daniela, sie scheint mir fast etwas zu gut gelaunt zu sein, jedenfalls lächelt sie mehrmals kurz und spricht auch mehr als bei den vorherigen Besuchen. Sie hat eine kleine Plastiktüte dabei, das seien Sachen, die sie noch vergessen habe und die Beat unbedingt noch mitnehmen müsse.
Bevor wir aber zu ihm gehen können, möchte ich die Bestattung unter Dach und Fach bringen und den weiteren Ablauf besprechen.
Es bleibt dabei: In drei Tagen gibt es eine Trauerfeier in unserem Haus, danach kommt der Sarg zum Krematorium, und in etwa einer Woche setzen wir die Urne in einem Urneneinzelgrab bei.
Wir sprechen über alle Details, und ich bohre und frage immer wieder nach, ich will das jetzt erledigt haben. Denn Frau Büser sitzt mir im Nacken, ohne genauere Termine kann sie nicht planen, und es kommt zu einem Erledigungsstau in diesem Fall. Wenn alles besprochen ist, kann hinter den Kulissen die Organisationsmaschinerie anlaufen. So eine Bestattung ist wie eine kleine Show, vorne passiert das, was die Angehörigen sehen, und damit das perfekt ablaufen kann, geschieht hinter den Kulissen so einiges, und das ist oft mit einem Aufwand verbunden, den die Angehörigen nicht mal ahnen.
Eben habe ich die Endsumme ausgerechnet und hat Daniela den Auftrag unterschrieben, da knistert sie mit ihrer Tüte, und ich merke, dass sie zu ihrem Mann will.
Kaum haben wir den Abschiedsraum betreten, beachtet mich Daniela gar nicht mehr. Es ist so, als besuche sie jemanden im Krankenhaus, den sie schon sehr oft besucht hat. Sie redet mit Beat, setzt sich auf einen der Sessel und packt die Sachen aus der Tüte aus.
Ich bin überflüssig und gehe. Wieder lasse ich die Tür am Gang auf, damit sich Daniela bei den vielen Türen in unserem Haus nicht verläuft.
Frau Büser ist froh, dass sie endlich mehr Informationen hat, kann sie doch nun endlich anfangen, Termine zu machen und alles in die Wege zu leiten. In drei Tagen soll die Trauerfeier stattfinden, bis dahin muss alles unter Dach und Fach sein. Auch das ist eine Kunst, die der Bestatter beherrschen muss. Man darf ja nicht vergessen, dass Beerdigungen oft die größten Familienfeiern überhaupt sind. Allenfalls noch die Hochzeit oder große runde Geburtstage finden die gleiche Beachtung. In manchen Familien sieht man sich überhaupt nur noch auf Beerdigungen.
Ja, und dann denke man doch einmal daran, wie lange im Voraus man andere große Familienfeste plant und wie viel Zeit man auf die Organisation verwendet.
Ein Bestatter organisiert eine zwar traurige, aber doch große Familienfeier für manchmal hundert oder mehr Personen binnen weniger Stunden, denn es kommt ja auch vor, dass nur knapp achtundvierzig Stunden zwischen Eintritt des Todes und der Beerdigung liegen. Damit das aber immer auch reibungslos funktionieren kann, müssen alle Beteiligten oft auf standardisierte Versatzstücke zurückgreifen. Es sind oft die immer wieder gleichen Elemente, die nur neu gruppiert werden, die den Eindruck erwecken, Beerdigungen würden nach Schema F abgewickelt. Der Bestatter kann nicht für jeden Angehörigen das Rad neu erfinden.
Wer mehr haben will, wer es anders haben will, ja, der muss sich auch darüber im Klaren sein, dass dann hinter den Kulissen sozusagen eine ganze Eventagentur zum Einsatz kommt, die Evenagentur des Todes und des Trauerns.
Bei Daniela und Beat habe ich so meine Vorstellungen, wie wir die Trauerfeier gestalten, und ich bin fest davon überzeugt, dass wir es schaffen werden, der jungen Frau einen eindrucksvollen Abschied zu ermöglichen. Ich habe mit ihr besprochen, dass wir die Trauergäste bitten werden, in Reisemänteln oder Ähnlichem zu kommen, jedenfalls nicht in Schwarz. Dann werden wir die Leute auffordern, aufzustehen und nach vorne zu kommen, um »tschüss« zu sagen. Wenn dann alle vorne stehen und sich verabschiedet haben, wollen wir den Sarg zu den Klängen einer passenden Musik hinausfahren, und alle sollen Beat hinterherwinken.
So habe ich es mit Daniela besprochen, und so wird es sicherlich ein richtiger Abschied werden.
Wir werden das gut und richtig machen.
Doch es kommt anders. Während ich im Kopf schon Details der Trauerfeier plane, piepst der Alarm durch unser Haus. Jemand hat in einer der Aufbahrungszellen den Notknopf gedrückt.
In der Halle stoße ich fast mit Frau Büser und Sandy zusammen, und so schnell waren wir selten bei den Abschiedsräumen. Dort treffen wir auf eine heulende Antonia, die in Beats Aufbahrungszelle deutet.
Ich schiebe meine Angestellte beiseite, schaue hinein und mir bleibt beinahe das Herz stehen: Blut, alles ist voller Blut.
Daniela hat sich die Handgelenke aufgeschnitten und liegt leblos am Boden.
Antonia ruft: »Ich glaub, die ist tot!«
Der Notarzt ist erstaunlich schnell da, und dennoch kommt es uns vor, als habe er Stunden gebraucht. Sandy hat Mullbinden um Danielas Handgelenke gebunden, während Antonia draußen auf dem Gang jammert: »Die ist bestimmt tot, die ist bestimmt tot!« Dann bringt Frau Büser sie weg.
Ganz kurz nach dem Notarzt kommt auch ein Rettungswagen, und zu viert arbeiten die Retter im Gang vor den Aufbahrungsräumen an Daniela. Sie haben sie dorthin getragen, die Örtlichkeit mit dem aufgebahrten Beat war ihnen dann doch zu viel.
»Gerade noch rechtzeitig«, hat mir der Arzt zugenickt, und mir fällt ein Stein vom Herzen.
»Wird sie durchkommen?«, will ich wissen, und der Arzt gibt sich hoffnungsvoll: »Ja, ich denke schon, sie hat zwar viel Blut verloren, aber das wird schon. Sie muss jetzt schleunigst ins Krankenhaus.«
Draußen auf der Straße sind dutzendweise Rentner und Hausfrauen zusammengelaufen. Es kommt selten vor, dass in unserer Straße ein Krankenwagen und ein Notarztwagen stehen, und dann noch ausgerechnet vor unserem Haus.
Es sieht gefährlich aus, wie Daniela da abtransportiert wird. Festgeschnallt auf einer Fahrtrage, einer der Retter hält eine Infusionsflasche hoch, und alle beeilen sich sehr.
»Was ist denn da passiert?«, ruft mir eine Nachbarin neugierig zu.
Eine andere fragt noch etwas blöder: »Ist bei Ihnen was passiert?«
Doch den Vogel schießt ein älterer Mann ab, der da fragt: »Na, ist einer Eurer Patienten doch nicht ganz tot gewesen?«
Er lacht meckernd, schaut sich beifallheischend um, und der eine oder andere grinst breit.
Uns ist nicht nach Lachen zumute.
Wir sind alle fassungslos.
Mit dieser Entwicklung hatte niemand gerechnet, konnte niemand rechnen. Die Signale der vorherigen Tage waren doch eindeutig, und es gab keinerlei Anzeichen, dass sie suizidgefährdet sein könnte. Für mich war sie auf dem besten Weg, die Abschiednahme in einer sehr persönlichen Weise zu vollziehen. Ich hatte mir alles so sorgfältig überlegt und war der festen Überzeugung, genau das Richtige zu tun.
Jetzt mache ich mir Vorwürfe.
»Chef, Sie brauchen sich doch wirklich keine Vorwürfe machen, wer hätte das denn ahnen können?«, versucht Frau Büser mich zu beruhigen.
Aber vielleicht hätte ich Daniela nicht alleine lassen sollen. Doch das tun wir immer, ich empfinde es als unhöflich, bei den Angehörigen wie ein Aufpasser stehen zu bleiben. Vielmehr ist es so, dass sie erst dann richtig Abschied nehmen können, wenn keiner dabeisteht.
Sicher, wir hatten es schon hin und wieder, dass jemand den Anblick dann doch nicht ertragen konnte oder sich in eine so starke emotionale Ausnahmesituation hineinsteigerte, dass wir eingreifen mussten. Wir erinnern uns alle noch an eine Frau, die sich aus lauter Verzweiflung zu ihrem toten Mann in den Sarg gelegt hatte, und wir vergessen auch den Mann nicht, der sich weigerte, die Aufbahrungszelle wieder zu verlassen.
Für solche Fälle haben wir ja die Aufbahrungsräume mit kleinen, unauffälligen Kameras, Gegensprechanlagen und einem Alarmknopf ausgestattet.
»Wenn irgendwas ist, drücken Sie einfach hier auf diesen Knopf«, sagen wir immer und zeigen den Leuten dann die grüne Taste der Gegensprechanlage. »Im Notfall betätigen Sie einfach die rote Taste hier.«
Es kommt selten vor, dass das passiert, aber als Antonia Daniela leblos vorgefunden hat, war es mal wieder so weit.
Zwei Stunden später rufe ich im Krankenhaus an, man will mir aber keine Auskunft geben. Dabei will ich doch nur wissen, wie es Daniela geht.
Ich lasse Sandy noch mal dort anrufen, und Sandy sagt einfach, sie sei die Schwester von Daniela, und bekommt erstaunlicherweise sofort Auskunft: Daniela sei noch nicht wieder zu sich gekommen, aber ihr Zustand sei stabil.
Wenigstens etwas, wir sind alle ein bisschen beruhigt, aber ich mache mir natürlich immer noch Vorwürfe.
Den ganzen Tag über kann ich mich nicht richtig konzentrieren und bin mit den Gedanken bei Daniela. Die junge Frau tut mir so leid. Ich habe ja von Berufs wegen mit dem Tod und mit der Trauer zu tun, da bleibt es natürlich auch nicht aus, dass man über das eigene Ableben nachdenkt. Damit komme ich ganz gut klar, aber wenn ich darüber nachdenke, dass meine Frau sterben könnte oder gar eines der Kinder – nein, daran mag auch ich nicht denken.
Daniela ist erst Ende zwanzig und schon Witwe. Sie und Beat waren in einem Alter, in dem man beginnt, Pläne für die Zukunft zu machen. All diese Pläne sind nun über den Haufen geworfen, nichts davon ist mehr real.
Der Tag geht zu Ende, und im ganzen Haus herrscht eher eine gedrückte Stimmung. Es ist so, wie sich Außenstehende ein Bestattungshaus vorstellen, dabei geht es doch sonst bei uns immer ganz lustig zu.
Am nächsten Tag muss ich mir Gedanken machen, wie es nun weitergeht. Beat liegt mittlerweile in einem anderen Abschiedsraum, denn die Kammer, in der er ursprünglich stand, muss renoviert werden. Das macht Manni mit seinem Schwager Helmut, und auch Carlos Gastro-Poda, der langsamste Handwerker, den ich kenne, will dabei helfen.
Im vorderen Teil muss der Teppichboden raus, er ist hellgrau und nun voller Blut. Es ist erstaunlich, wie viel Blut ein Mensch verlieren kann, ohne zu sterben. Das müsste mal einer meiner kleinen Tochter sagen, die stirbt schon fast, wenn nur ein Tropfen Blut aus einer kleinen Fingerwunde austritt.
Unsere Aufbahrungräume sind im hinteren rechten Teil des Gebäudes neben der Trauerhalle untergebracht. Von der Trauerhalle gibt es zwei Türen, die zum Gang vor den Zellen führen, so können die Angehörigen vor einer Trauerfeier hin und her gehen und Abschied nehmen.
Jeder Aufbahrungsraum ist etwa 2,20 Meter breit und ungefähr doppelt so lang. Die hintere Hälfte hat einen Steinfußboden und kann durch eine herunterfahrbare Trennwand abgeteilt werden. Das muss so sein, denn der hintere Teil kann gekühlt werden, wobei sich immer Kondenswasser niederschlägt. Im vorderen Teil herrschen warme Farben, Teppichboden und bequeme Sitzmöbel vor.
Dort würde ohne die Trennwand alles feucht und klamm, und es wäre dort auch bitterkalt. Natürlich schalten wir die Kühlung vor dem Besuch von Angehörigen ab, zünden Kerzen an und spielen auch manchmal leise Musik über die Lautsprecher ein.
Im hinteren Teil, wo der Sarg steht, können wir wegen der Kälte leider nur künstliche Pflanzen aufstellen, aber die kleinen Lebensbäume sind fast schöner als echte.
Solche Aufbahrungsräume gibt es mittlerweile in vielen Bestattungshäusern, das ist auch notwendig, denn die Abschiednahme auf öffentlichen Friedhöfen kann niemals so intensiv und persönlich sein wie bei uns. Auf einem Friedhof hier in der Nähe ist es sogar so, dass man den Verstorbenen nur durch eine Glasscheibe hindurch anschauen darf. Die Angehörigen nennen die verglasten Zellen abschätzig Aquarium. Und sie haben recht. Viel anders als im zoologischen Schauhaus sieht das nicht aus. Man hat keine Gelegenheit, an den Sarg heranzutreten, den Verstorbenen zu berühren oder ihm ein paar Blümchen oder Abschiedsgeschenke in den Sarg zu legen.
Bei einem Bestatter sieht das dann doch ganz anders aus. Wir versuchen immer herauszufinden, was den Angehörigen guttun würde.
Die einen wollen einen schnellen Abschied, ihr Besuch beim Verstorbenen ist ein schneller Blick, um ihn noch einmal gesehen zu haben, dann ist für sie die Sache erledigt. Andere jedoch wollen mehr, sie möchten Zeit dort verbringen können, sich die Last von der Seele reden, vielleicht noch einmal die kalten Hände streicheln oder dem Verstorbenen einen letzten Kuss geben.
Ja, darf man das denn?
Ja, man darf. Keiner muss, aber jeder kann, wie er mag.
Es ist klar, auf einem öffentlichen Friedhof geht eine individuelle Abschiednahme kaum, da kann man meistens eben nur mal schauen, fertig.
Frau Sauerbrey, an die wir uns hier sehr gut erinnern, kam drei Tage lang täglich und erzählte ihrem Mann wenigstens jeweils zwei Stunden lang irgendwelche Geschichten. Sie trank Kaffee, saß da, schimpfte auch mit ihm, kämmte ihn jeden Tag, und dann am dritten Tag kam sie und sagte, dass sie ihm nun alles mal gesagt habe, was ihr noch auf dem Herzen gelegen hätte: »Nun können Sie den Deckel zumachen!«
Andere Leute kommen und bringen die Enkel mit, manchmal recht kleine Kinder, die dürfen dann ihrem Opa oder ihrer Oma noch einmal ein selbstgemaltes Bild oder ein kleines Briefchen in den Sarg legen, und manchmal hat nach dem Besuch der Angehörigen der Verstorbene auch ein Kuscheltier im Arm oder ein anderes schönes Andenken in den Händen.
Ob der Verstorbene davon etwas hat oder etwas davon mitbekommt, das werden wir selbst alle eines Tages erfahren. Aber eins ist sicher, die Überlebenden, die haben etwas davon. Die gehen von hier mit dem Gefühl weg, etwas getan zu haben, etwas erledigt zu haben, einen Schlusspunkt gesetzt zu haben. Und das ist gut so.
Daniela wollte ich genau auf diesen Weg führen, wollte ihr das plötzliche Wegreißen des geliebten Mannes nehmen und in eine langsame Abschiednahme umwandeln. Mir schien sie genau auf diesem Weg zu sein, und dann versucht sie sich hier das Leben zu nehmen. Unfassbar!
Was soll ich nun tun? Sollen wir die Trauerfeier verschieben? Wird Daniela daran teilnehmen können? Wird Räto, der Schwiegervater, jetzt das Ruder in die Hand nehmen?
Ich kann unmöglich viel länger warten, irgendetwas muss passieren, jemand muss eine Entscheidung fällen.
Die Situation belastet uns alle. In der Kühlkammer liegt Beat und wartet auf seine Verabschiedung, und die beiden einzigen Personen auf dieser Welt, die diese wichtige Arbeit leisten können, stehen dafür nicht zur Verfügung.
Seine Frau Daniela ist im Institut für psychische Gesundheit von Professor Vogelsang, und sein Vater Räto will mit ihm nichts zu tun haben.
Jetzt steht es in den Sternen, wann wir die Trauerfeier für Beat machen können.
Räto ist heute Morgen hier bei uns erschienen und brachte völlig überraschend ein Paar Schuhe für seinen Sohn.
Nur schnell abgeben und schnell wieder verschwinden …
Doch ich lasse ihn nicht gehen, sondern bitte ihn freundlich zu mir ins Büro, lasse mir die Schuhe aushändigen und betrachte sie. Es sind nagelneue und sicherlich nicht billige Herrenschuhe.
»Er muss ja was an den Füßen haben«, sagt Räto, und ich nicke und sage: »Sicher.«
Dann schaue ich Beats Vater in die Augen und schweige einfach. Der Mann ist ja nicht einfach so über Nacht auf die Idee gekommen, seinem toten Sohn ein paar Schuhe zu kaufen. Warum nur Schuhe? Warum kein Anzug? Nein, das ist eine Art Ersatzhandlung, die zeigt, dass er doch ein gewisses Interesse für den Verstorbenen hat.
Mir kommt eine Idee, eine einfache Idee, die es aber wert ist, ausprobiert zu werden: »Kommen Sie, dann schauen wir mal, ob sie ihm passen!«
Ich achte gar nicht darauf, ob Räto etwas sagt oder etwas sagen will, schon bin ich an ihm vorbei und schaue mich auch nicht um, ob er mir folgt. Ich weiß, dass er ganz verdutzt geschaut hat, und ich höre ihn hinter mir schwer atmen, aber ich gehe deshalb nicht langsamer; bloß jetzt den Sog nicht schwächer werden lassen.
Tür auf, Licht an, und während die Trennwand der Kühlung hochfährt und die Kälteanlage etwas klappernd abschaltet, trete ich einfach beiseite, stelle die Schuhe vor Beats Sarg am Fußende auf den Boden und gehe am Sarg vorbei nach hinten, schiebe den Vorhang etwas weg, der die hintere Tür verdeckt, und gehe hinaus. Ich überlege kurz, was ich jetzt machen soll. Vielleicht nehme ich einfach ein Set mit Schminkutensilien und pudere Beat noch einmal. Irgendetwas Unverfängliches, Alltägliches sollte ich tun, damit Räto warten und so bei seinem Sohn sein muss.
So nehme ich die kleine Schminkmappe, öffne die schwere Kühlraumtür, die in der hinteren Aufbahrungsraumwand ist, und bleibe wie angewurzelt stehen: Räto kniet neben dem Sarg seines Sohnes, beide Hände auf der Kante des Sarges, den Kopf auf die Brust herabgesunken, und ich glaube, er weint leise.
Ich gehe zwei Schritte rückwärts, ziehe den Vorhang zu, schließe die schwere Tür und gehe durch den hinteren Gang und eine andere Aufbahrungszelle wieder in die Halle.
Es vergeht eine Viertelstunde, und ich will gerade nach Räto sehen, da kommt er auch schon langsamen Schrittes aus dem Seitentrakt. Ich stehe auf, will den Mann in mein Büro führen und ihm ein heißes Getränk anbieten, es war ziemlich kalt im Aufbahrungsraum.
Doch wie ich Räto entgegengehe, breitet er plötzlich seine Arme aus, ergreift mich, drückt mich an sich und weint mir in den Kragen.
»Danke«, ist alles, was er sagt, dann gewinnt die Contenance Oberhand, und er löst sich von mir, nimmt meine Hand, schüttelt sie mit festem Druck und sagt wieder: »Danke, vielen Dank!«
Eine Stunde lang sitzen wir dann beieinander, und Räto ist gelöst, so wie ich ihn zuvor noch nicht erlebt habe. Der wichtigste Satz, den er sagt, ist: »Ich habe doch nur noch ihn gehabt und jetzt muss ich auch ihn gehen lassen, ohne ihm alles sagen zu können.«
Ich rede mit ihm, und es gelingt mir, ihn dazu zu bringen, zu sagen: »Nun ist Daniela das Einzige, was mir geblieben ist. Ich fahre jetzt sofort zu ihr. Ich glaube, ich habe viel wiedergutzumachen.«
Dass er zu dieser Erkenntnis gekommen ist, darauf brauche ich mir nichts einzubilden. Der Knoten muss irgendwann im Verlaufe des vorherigen Tages geplatzt sein, die Schuhe waren ein Zeichen dafür. Ich habe ihm nur die goldene Brücke gebaut, und jetzt muss er über diese Brücke gehen. Die ersten Schritte hat er jedenfalls gemacht.
Da wir nicht weiterwussten, hat Sandy Beat in der Zwischenzeit einbalsamiert, Räto hatte dazu sein Einverständnis gegeben. Diese Maßnahme wurde dringend wichtiger, denn die Zeit schritt voran, und mit ihr setzen langsam auch Veränderungen am Verstorbenen ein, die dringend aufgehalten werden mussten.
Es wäre sonst auch kaum möglich gewesen, den Termin für die Trauerfeier mit dem Sarg noch länger hinauszuzögern.
Morgen, am Karfreitag, soll sie nun stattfinden. Ein ungewöhnlicher Termin, aber in der privaten Trauerhalle eines Bestatters geht auch das, und großartig kirchlich orientiert ist die Familie auch nicht.
Ganz früh heute Morgen hat Räto seine Schwiegertochter am psychiatrischen Institut abgeholt, und sie sind, so erzählte er mir später, schweigend nebeneinanderher zum Auto gelaufen. Dass es überhaupt so weit kommen konnte, dass Räto und Daniela zusammengekommen sind, das bedurfte allerdings einiger beiderseitiger Überwindung.
Daniela ist nicht irre, sie war auch nicht weggesperrt, und man hatte ihr außer leichten Beruhigungsmitteln auch keine Medikamente verabreicht. Der Aufenthalt im Institut diente der Feststellung, inwieweit sie wieder gefestigt ist, um möglichst ausschließen zu können, dass sie wieder Hand an sich legt.
Gegen elf Uhr sitzen mir beide gegenüber, Daniela schön wie eh und je und Räto sehr gelöst. Wie anders Menschen aussehen, wenn sie lächeln.
Keineswegs macht Daniela einen gestörten Eindruck, sie entschuldigt sich bei uns für die Unannehmlichkeiten, für den Schrecken, den sie uns eingejagt hat, und begründet ihre Handlung so: »Ich wollte ihn einfach nicht alleine gehen lassen. Ihn einfach nur zu verabschieden, das wäre in diesem Moment für mich zu wenig gewesen, ich wollte ihn auf seiner letzten Reise begleiten.«
Vorsichtig erkundige ich mich: »Und dann wollen Sie ihn heute wieder besuchen?«
»Ja unbedingt! Sie brauchen keine Angst zu haben, ich werde nichts dergleichen wieder tun. Die Trauer war da noch so frisch, ich war nicht ganz bei Sinnen. Irgendwie erschien mir das als einziger Ausweg, ich fühlte mich so allein. Räto, verzeih mir, aber vor allem weil ich auch von deiner Seite keine Hilfe zu erwarten hatte, fühlte ich mich besonders allein.«
Räto hebt die Schultern und lässt sie wieder fallen, dann breitet er etwas theatralisch die Arme aus und sagt: »Wir haben ja schon darüber gesprochen, es war halt, wie es war, und jetzt ist es anders. Lass uns das Gewesene vergessen.«
Daniela nickt und erzählt mir, wie ihr Schwiegervater mit einer einzelnen Rose zu ihr gekommen ist. Das sei die Rose der Versöhnung, habe er gesagt, und dann habe er den Finger auf den Mund gelegt, um ihr zu bedeuten, dass sie nichts sagen soll, und hat dann gesagt: »Wir können alle die Uhr nicht mehr zurückdrehen. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir können unser ganzes Leben damit verbringen, dem jeweils anderen die Schuld zu geben. Vermutlich wirst du genau so viele und genau so gute Argumente haben wie ich, aber wäre es nicht klüger, wenn wir jetzt einfach nur noch nach vorne schauen?«
»Und dann bin ich ihm um den Hals gefallen, so habe ich mich gefreut«, strahlt Daniela, und Räto hebt in gespieltem Vorwurf seinen Finger: »Und die Rose hast du abgeknickt.«
Die Zeit ist gekommen, Beat steht wieder im Aufbahrungsraum. Er ist nur für dieses eine Mal nochmals hergerichtet worden und sieht sehr gut aus. Um die Augen herum wirkt er etwas eingefallener, aber das ist nicht dramatisch. Räto und Daniela haben sich an den Händen gefasst wie einst Hänsel und Gretel und folgen mir in den Aufbahrungsraum. An der Tür bleiben beide stehen, schauen sich an, und Daniela legt ihren Kopf an die Schulter ihres Schwiegervaters.
Beide treten vor, und Daniela nimmt die Sachen auf, die sie beim letzten Mal mitgebracht hat. Wir haben sie ordentlich auf einen der Sessel gelegt. So, als ob nichts wäre, plappert sie auf Räto ein und erklärt ihm und vor allem ihrem toten Mann, was sie da alles mitgebracht hat. Ein Buch, sein Lieblingsbuch, eine CD mit seiner liebsten Musik und eine Lok von einer Modelleisenbahn, ein paar Schmetterlinge aus Papier, Fotos, einen Brief, eine Zeitschrift …
Ich gehe.
Eine gute halbe Stunde später schaue ich nach, Räto und Daniela sitzen Hand in Hand im Abschiedsraum, und mir fällt auf, dass der Sargdeckel geschlossen ist. Räto nickt mit dem Kopf in Richtung Sarg: »Hab ihn zugemacht, jetzt kann er auf die letzte Reise gehen.« Daniela nickt und wischt sich ein paar Tränen aus den Augen.
»Jetzt bin ich fertig«, sagt sie, »jetzt weiß ich, dass er alles hat, und kann beruhigt sein.«
Ich sage: »In der Trauerhalle ist auch schon alles gerichtet, morgen liefert ja sowieso keiner was. Alles ist schon fertig.«
»Dürfen wir das sehen?«, will Räto wissen, und ich nicke: »Ja selbstverständlich.«
Dann kommt mir eine Idee, und ich schlage vor, dass wir den Sarg gemeinsam rüberschieben und ohne weitere Worte fassen beide mit an. Langsam schieben wir Beats Sarg die etwa acht bis zehn Meter und dann steht er da, inmitten eines Meeres aus weißen Blüten. Das war der Wunsch von Daniela, und der Gärtner hat das genial umgesetzt. Kaum weiße Blumen, vielmehr große Vasen mit langen, weißblühenden Zweigen irgendeines Baumes. Es sieht einfach toll aus. Für den Sarg hat Daniela ein Herz aus weißen Blüten bestellt, und daran befindet sich eine schmale Schleife mit dem Aufdruck:
»Gute Reise, mein Schatz!«
Räto hilft mir noch, ein paar Gestecke vor den Sarg zu stellen, dann bleiben wir einfach eine kurze Zeit vor dem Sarg stehen. Daniela nickt auf einmal, sagt »So!« und dreht sich um, Räto tut es ihr nach, und wir gehen.
»Wissen Sie«, sagt Daniela, »jetzt weiß ich, dass Beat auf seine Reise gehen muss, manchmal kann man es sich nicht aussuchen, wann und wohin man reist. Ich habe den Fehler gemacht, dass ich gedacht habe, er würde einfach ohne mich weggehen. Aber ich bin inzwischen dahintergekommen, dass er mein Mann geworden ist, in guten wie in schlechten Zeiten. Jetzt ist es vielleicht eine schlechte Zeit, und er kann jetzt nicht mehr mein Mann sein, aber vielleicht treffen wir uns eines Tages irgendwo, irgendwie wieder, das weiß doch keiner. Die Wahrscheinlichkeit, dass man sich im Jenseits wiedersieht, ist zumindest genauso groß wie die, dass man sich nicht wiedersieht, also hoffe ich mal das Beste. Hier und jetzt ist er weg und für mich unerreichbar, das Leben geht aber weiter, und hier in dieser Welt muss ich ohne ihn klarkommen. Es hat keinen Zweck, jetzt erzwingen zu wollen, gemeinsam irgendwohin zu gehen.«
»Vor allem«, sage ich, »beträgt die Wahrscheinlichkeit, Ihrer Theorie nach 50 Prozent, und es wäre Dummheit, hätten Sie Ihr Leben für eine fünfzigprozentige Chance weggeworfen. Wenn es im Jenseits ein Wiedersehen gibt, dann gibt es das in vierzig Jahren auch noch.«
Danielas Schwiegervater klopft mir auf den Rücken, nennt mich einen Pfundskerl und bewundert Daniela, weil sie sich so viele Gedanken gemacht hat. »Morgen geht Beat dann?«, sagt er mehr, als dass er es fragt, und ich nicke.
»Gut, dann gehen wir jetzt nach Hause, damit wir morgen fit sind für den allerletzten Abschied«, sagt er.
Daniela tritt vor, streichelt noch einmal über den Sarg, dreht sich dann abrupt um und geht mit Räto hinaus. Über die Schulter wirft sie nochmals einen Blick auf den Sarg und ruft leise: »Tschüss!«