38237.fb2 Gestatten, Bestatter! - Bei Uns Liegen Sie Richtig - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 24

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Stoffel und die Autonummern

Einer meiner Cousins hat einen Sohn, der das Down-Syndrom hat, früher sagte man, diese Menschen seien mongoloid. Ich liebe diesen jungen Mann, der – wenngleich nach Jahren schon erwachsen – immer einen total abgegriffenen Teddybären mit sich herumschleppt und zu jedermann lieb und freundlich ist. Ihm fehlt die Fähigkeit zu abstrahieren, und so kommt es, dass manchmal kleine Ereignisse des Tages für ihn zu einer Katastrophe werden können, etwa wenn sein Löffel beim Essen auf der falschen Seite des Tellers liegt. Aber, man mag es glauben oder nicht, das sind auch schon seine größten Sorgen. Ansonsten hat er keine, macht sich keine, und sein Vater sagte mir einmal: »Manchmal beneide ich ihn, der steht jeden Morgen frohgelaunt auf, und ihm scheint die Sonne aus dem Arsch.«

Den Stoffel kennt in unserem Stadtteil jeder. Stoffel heißt eigentlich Herbert und ist behindert. Wie man diese Behinderung nennt, weiß ich nicht, aber offensichtlich ist er mit etwa 14 Jahren im körperlichen Wachstum stehengeblieben und nur noch gealtert. Seine geistige Entwicklung entspricht wohl der eines Vier- oder Fünfjährigen. Ich kenne Stoffel seit mindestens zwanzig Jahren, er muss jetzt ungefähr 40 sein, vielleicht auch etwas älter, so genau kann man das nicht einschätzen. Stoffel ist also geistig behindert, kann etwas sprechen, kurze Sätze, aber keine längeren Unterhaltungen führen.

Am allerliebsten schreibt er Autonummern auf und hat zu diesem Zweck immer ein Notizbuch und einen Bleistift dabei. An einer Schnur um seinen Hals hängt ein Anspitzer, und ab und zu spricht er wildfremde Leute an: »Onkel, kannst du mal schreiben?« Dann deutet er auf das Kennzeichen eines Autos und freut sich ein Loch in den Bauch, wenn man ihm das Kennzeichen in sein Buch schreibt. Er selbst schreibt natürlich auch, doch das ist nur Gekritzel. Man tut aber gut daran, seine Schreibkünste immer zu loben, wenn er sie einem zeigt, denn sonst ist Stoffel traurig, und das will ja keiner.

Ich muss zugeben, an Stoffel habe ich einen kleinen Narren gefressen. Vor Monaten gab es nämlich einen hässlichen Zwischenfall mit und um Stoffel, der ihn und seine Mutter beinahe umgebracht hätte.

Die in unserer Gemeinde recht bekannte Frau Birnbaumer-Nüsselschweif, die mir schon mehrfach unangenehm aufgefallen ist, ging an einem Oktobertag auf den Friedhof, um ein Grab für Allerheiligen vorzubereiten. Dabei sei ihr der Stoffel gefolgt und habe ihr über den ganzen Friedhof nachgestellt. Das kann ich durchaus nachvollziehen, denn so was macht Stoffel hin und wieder. Wenn ihm jemand gut gefällt, läuft er demjenigen auch gerne mal bis zur Haustür nach und freut sich einfach, einen netten Menschen getroffen zu haben. Mehr als ein paar nette Worte oder eben eine Autonummer will er ja gar nicht von einem. Mit mir hat er das auch schon gemacht, und als ich ihm einen Schokoriegel schenkte, hat er sogar eine Seite mit Autonummern aus seinem Buch herausgerissen und sie mir voller Stolz als Gegengeschenk überreicht.

Dass Stoffel so ist, weiß hier jeder, und auch die Birnbaumer-Nüsselschweif muss es gewusst haben. Stoffel sitzt oft ganze Nachmittage mit den kleinen Kindern im Sandkasten auf dem großen Spielplatz und backt Kuchen aus Sand. An anderen Tagen fragt er auch schon mal Passanten nach einer Zigarette. Stoffel raucht nicht, weiß vermutlich gar nicht, wie das geht, aber es macht ihm Freude, mit der Zigarette im Mund herumzulaufen, und er ist dann immer ganz stolz.

Ganz besonders mag Stoffel alte Frauen, die er durchweg Omama nennt und denen er einfach die Einkaufstaschen abnimmt und nach Hause trägt. Selbstverständlich erwartet er dafür auch eine Bezahlung: ein Bonbon, ein Kaugummi oder auch einen alten Knopf – egal. Hauptsache, er bekommt seine Bezahlung. »Viel Arbeit«, sagt er dann und beeilt sich, damit er schnell wieder zur Hauptstraße kommt, um ja keine neue Autonummer zu verpassen.

Aber wie gesagt, manchmal läuft er auch Leuten, die er interessant findet, einfach hinterher, bohrt dabei ungeniert in der Nase und freut sich. Genau das muss er mit der Birnbaumer-Nüsselschweif an jenem Oktobertag gemacht haben.

Jedoch wäre das allein als Grundlage der dauernden Entrüstung der Birnbaumer-Nüsselschweif wohl nicht ausreichend gewesen, weshalb sie wenig später bei der Polizei behauptete, der Stoffel habe sich vor ihr entblößt. Daraufhin griff eine Streife den Stoffel auf und brachte ihn auf die Wache, von wo aus man seine Mutter verständigte. Frau Weiß, Stoffels Mutter, kam auch sofort und hörte sich an, was die Beamten und die ebenfalls anwesende Birnbaumer-Nüsselschweif zu berichten hatten.

Stoffel begriff gar nicht, was los war. Er hatte nur ganz rote Ohren vor Freude, weil er in einem Polizeiauto mitfahren durfte. »Lalülala«, sang er leise vor sich hin. Frau Weiß sah die Beamten skeptisch an.

»Sagen Sie, Herr Wachtmeister, haben Sie vielleicht Herberts Hose zugemacht?«

Der Beamte schaute verdutzt, schüttelte langsam den Kopf und sagte: »Nein, wieso? Die war doch gar nicht auf.«

»Na, sehen Sie, dann hat sich Stoffel auch nicht entblößt. Der kann sich die Hose nämlich gar nicht selbst zumachen.«

Dann drehte sich Frau Weiß zur Beschwerdeführerin um und fragte: »Oder haben Sie, Frau Birnbaumer-Nüsselschweif, meinem Sohn seine Hose wieder ordentlich mit der Sicherheitsnadel zugemacht, nachdem er sich vor Ihnen angeblich entblößt haben soll?«

»Ich werde diesen Exhibitionisten doch nicht noch anfassen«, entrüstete sich die Missbrauchte.

Die Beamten ließen die ganze Sache einfach auf sich beruhen. Stoffel durfte mit seiner Mutter nach Hause, und die Birnbaumer-Nüsselschweif tat, als sei die Sache damit für sie erledigt, unterließ es aber nicht, die Geschichte im Stadtteil breitzutreten.

In den ersten Tagen sprach man überall davon, die Mehrzahl der Leute glaubte die Geschichte jedoch nicht. Aber einige wenige meinten, man wisse »bei so einem« ja nie … Nein, weiß man wirklich nicht. Auch geistig Behinderte haben sexuelle Bedürfnisse, und möglich ist alles, aber in diesem Fall war die Sicherheitsnadel ein unüberwindbares Hindernis und Stoffels Freispruch.

Für Frau Weiß war die folgende Zeit aber die Hölle. Die Birnbaumer-Nüsselschweif sprach ungefragt die Mütter kleiner Kinder an und warnte sie vor dem Sexverbrecher; außerdem ermittelte sie auf eigene Faust, indem sie auf dem Friedhof andere Frauen befragte, ob nicht auch diese von Stoffel beinahe vergewaltigt worden wären.

So trug sie dazu bei, dass sich trotz anfänglicher Zweifel in der Bevölkerung der Gedanke breitmachte, dieser Stoffel sei vielleicht doch nicht so harmlos, wie man immer geglaubt hatte. Wenn Stoffel mal aufs Klo musste, ging er zu seiner Mutter. Frau Weiß war nämlich Klo- und Putzfrau. An den Markttagen hielt sie das Toilettengebäude am Marktplatz sauber und saß dort geduldig an einem Tischchen mit einem Teller, auf den die Leute ein paar Münzen warfen, wenn sie austreten waren. An den übrigen Tagen hatte Frau Weiß an die zwanzig Putzstellen. So konnte sie nach dem frühen Tod ihres Mannes sich, den Stoffel und Stoffels Bruder Herrmann durchbringen und Letzterem sogar ein Studium finanzieren. Alles in allem hatte man Respekt vor dieser einfachen, vielleicht etwas gewöhnlichen, aber doch sehr fleißigen Frau.

Der strategisch günstige Platz der Markttoilette gab Frau Weiß die Gelegenheit, die Menschen langsam wieder davon zu überzeugen, dass ihr Stoffel ein ganz lieber Junge ist. Das gelang ihr auch ganz gut, jedoch blieb ihr der durchschlagende Erfolg verwehrt. Das änderte sich, als eines Tages Frau Schipanski aufs öffentliche Klo musste. Die Schipanski ist die größte Klatschtante im ganzen Ort und konnte es sich natürlich nicht verkneifen, Frau Weiß auf ihren »pornografisch veranlagten« Sohn anzusprechen. Doch Frau Weiß nutzte die Chance und fütterte die Schipanski mit einer ganz entscheidenden Information. Sie behauptete nämlich, der Stoffel habe gar keinen Schniedelwutz; das sei bei seiner Behinderung so, und deshalb könne die Behauptung der Birnbaumer-Nüsselschweif auch nicht wahr sein.

Ob Stoffel nun einen Schniedelwutz hat oder nicht, ist im Grunde vollkommen ohne Belang. Es muss auch stark angezweifelt werden, dass ihm dieses wichtige Teil fehlt, aber bei der Schipanski verfehlte diese – natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit zugetragene – Information ihre Wirkung nicht. Sie schwor beim Grab ihrer Mutter und den sieben Geißlein, dass sie niemals ein Sterbenswörtchen darüber verlieren werde, und verließ aufgeregt die Markttoilette; kaum eine Stunde später machte die Geschichte in der ganzen Ortschaft ihre Runde.

Es heißt, am nächsten Sonntag habe die Birnbaumer-Nüsselschweif eine ganze Kirchenbank für sich allein gehabt, weil sie von allen geschnitten wurde. Stoffel jedenfalls war rehabilitiert, und die Geschichte konnte allmählich in Vergessenheit geraten.

Jetzt sitzt mir Stoffel im Bestattungsinstitut gegenüber und schaut mich mit großen Orang-Utan-Augen an. Er ist traurig, seine Mama ist tot. Neben ihm sitzt sein Bruder Herrmann, ein großgewachsener, gutaussehender Mann. Ich wusste, dass es eines Tages passieren würde, denn Frau Weiß war vor Jahren schon bei uns, um eine Bestattungsvorsorge abzuschließen.

Normalerweise suchen sich die Menschen dann alles aus, ich rechne zusammen, und es wird ein Sparbuch über den nötigen Betrag angelegt. Frau Weiß hat mir allerdings nur Vollmachten und einen Auftrag unterschrieben, den Rest hat sie in zwei großen braunen Umschlägen festgelegt. Dazu hatte sie mir eingeschärft, unter welchen Bedingungen ich welchen Umschlag öffnen soll. Der jeweils andere soll dann unverzüglich und ungeöffnet vernichtet werden. Nun denn, es ist zwar außergewöhnlich, aber es kommt immer wieder mal vor, dass ältere Menschen ganz detaillierte Anweisungen geben.

Meine Aufgabe soll es nun sein, herauszufinden, wie es mit Stoffel weitergeht. »Wenn mein Sohn Herrmann seinen Bruder zu sich nimmt, öffnen Sie bitte Umschlag Nummer 1. Sollte er das aber nicht tun, vernichten Sie diesen Umschlag und öffnen Sie Umschlag Nummer 2«, hatte Frau Weiß gesagt und mir die beiden Umschläge über den Tisch geschoben.

Auftragsgemäß frage ich Herrmann: »Was wird denn nun aus Ihrem Bruder?«

Herrmann zuckt mit den Achseln. »Keine Ahnung, aber ich denke, es wird das Beste für ihn sein, wenn er in ein schönes Pflegeheim kommt.«

Um ganz sicherzugehen, frage ich nach: »Und Sie haben nicht darüber nachgedacht, Herbert zu sich zu nehmen?«

Herrmann schüttelt den Kopf. »Das kann ich gar nicht, wir haben überhaupt keinen Platz, und finanziell geht es uns auch nicht so gut.«

Ich nehme den Brieföffner und will gerade den Umschlag Nummer 2 öffnen, da dreht sich Stoffel zu seinem Bruder um und sagt: »Herrmann, Stoffel hat Herrmann lieb, ganz lieb«, lehnt seinen Kopf an die Schulter seines Bruders und lächelt ihn an.

Herrmann schaut auf Stoffel, reibt sich die schweißnassen Hände und sagt mit leiser Stimme: »Ach, wenn ich ihn so anschaue … Ich mein, der hat noch nie jemandem was getan … Vielleicht ist es doch besser, wenn ich ihn mitnehme. Der wird doch todunglücklich, wenn er kein vertrautes Gesicht um sich hat.« Ich nicke, und Herrmann überlegt weiter: »Eigentlich sollte unsere Große ja das eine Zimmer bekommen, aber da kann genauso gut mein Bruder einziehen.«

Den Umschlag mit der Nummer 2 schiebe ich also wieder beiseite und nehme den anderen. Zwei Sekunden später liegen die vormals darin enthaltenen Unterlagen vor mir auf dem Tisch. Es handelt sich um zwei Policen. Frau Weiß hat zwei Lebensversicherungen abgeschlossen. Eine über 80000 Euro und die andere – selbst ich muss schlucken – über 370000 Euro. Begünstigter ist in beiden Fällen Herrmann. Außerdem befindet sich ein kleinerer Umschlag dabei, auf dem handschriftlich Herrmann steht.

Ich überreiche Herrmann den Umschlag, und er öffnet ihn. Eine ganze Weile liest er die Zeilen seiner Mutter, dann steckt er den Brief in die Innentasche seines Jacketts, streichelt Stoffel über den Kopf und sagt: »Es ist unglaublich. Meine Mutter hat Tag und Nacht gearbeitet, und ich dachte immer, sie käme mit Stoffel gerade so über die Runden und habe ihr sogar hin und wieder etwas zugesteckt. Jetzt stellt sich heraus, dass sie für Stoffel und mich sogar vorgesorgt hat …«

Drei Tage später bringen wir den Sarg mit Frau Weiß zum Krematorium. Am Fußende, ganz unten am Sargboden, liegt ein brauner Umschlag und wird mit eingeäschert. Herrmann hat für seine Familie und Stoffel ein Haus gekauft, und man sieht Stoffel heute noch, wie er seine geliebten Autonummern aufschreibt. Wenn ich ihm begegne, muss ich immer an den Umschlag Nummer 2 denken. Es hätte mich schon interessiert, was seine Mutter für den Fall, dass Herrmann seinen Bruder nicht zu sich nimmt, vorgesehen hatte.