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Bevor die Morgenröte die Wipfel der Bäume streifte, bevor der Hahn krähte, ein Hund bellte und ein Eselsschrei durch die Dunkelheit drang, bevor Scheich Hamzawis Stimme zum ersten Gebet aufrief und in der Stille widerhallte, öffnete sich die große Holztür langsam und knarrte dabei wie ein eingerostetes, uraltes Wasserrad. Ein langer, hochaufgerichteter Schatten huschte durch die Tür und ging mit ausholenden, gleichmäßigen Schritten voran, gefolgt von einem zweiten Schatten, der geduckt und schwerfällig vorwärts trottete.
Beide Schatten verschwanden in der Dunkelheit und tauchten etwas später oben am Flußufer wieder auf. Zakeyas mageres, bleiches Gesicht hob sich streng gegen das fahle Morgenlicht ab. Sie hatte die Lippen fest zusammengepreßt, als sollte kein Wort mehr darüber kommen. Ihre großen, weit geöffneten Augen waren zornig und herausfordernd auf den Horizont gerichtet. Der Büffel ging mit wiegendem Kopf hinter ihr her, mager und bleich, aber mit seinem unterwürfigen, stumpfen, dem Schicksal ergebenen Blick wirkte er gutmütig.
Das dämmrige Licht schimmerte auf dem Fluß und ließ die kleinen Wellen wie winzige Falten in einem alten, traurigen, reglosen Gesicht aussehen. In der Tiefe schien das Wasser stillzustehen, es floß so unmerklich dahin, wie die Zeit unmerklich verfließt oder Wolken unmerklich über einen dunklen Himmel wandern.
Auch die Luft in der weiten, offenen Landschaft regte sich kaum. Sie glitt so sanft durch die Zweige der Bäume, daß sie sich kaum bewegten, aber sie trug den feinen, unsichtbaren Staub vom hohen Flußufer die Böschung hinunter bis zu den dunklen, nebeneinander kauernden Lehmhütten mit den kleinen, geschlossenen Fenstern und niedrigen, schiefen Dächern, auf denen getrocknete Baumwollstengel und Fladen aus Dung und Stroh übereinandergeschichtet lagen. Sie trug ihn durch die engen, gewundenen, mit Mistfladen verstopften Wege und Gassen weiter zum Fluß am Rand des Dorfes, wo er sich wie eine dunkle, glatte Haut auf dem grünen Wasser niederließ.
Zakeya ging mit stetigen Schritten vor dem Büffel her, ihr Gang und ihr fester Blick waren unverändert wie das reglose Flußwasser zu ihrer Linken, unverändert wie alles in diesen letzten Momenten der Nacht. Aber dann blieben die Lehmhütten zu ihrer Rechten immer weiter zurück, und an ihre Stelle traten Felder, die sich wie grüne Bänder parallel zum Nil erstreckten.
Zwischen den beiden Streifen aus Grün und Braun schritt sie mit der unvergleichlichen rhythmischen Bewegung ihrer Hüften und Schenkel voran. Über ihrem Kopf wich die schwarze Nacht langsam der sich ausbreitenden Morgenröte, die sich nach einer Weile in grelles, feuerrotes Licht verwandelte. Dann blitzte plötzlich die Sonne am Erdrand auf, ein winziger Punkt, der zu einer Feuerscheibe anwuchs, die den Himmel hochstieg. Doch bevor der Tag die Nacht ganz verdrängt hatte, war Zakeya bei ihrem Feld angekommen. Sie band den Büffel an das Wasserrad neben dem Fluß, nahm ihr schwarzes Tuch vom Kopf und legte es auf die Erde, krempelte die Ärmel auf und knotete die Enden ihrer galabeya in der Taille zusammen.
Auf den Nachbarfeldern konnte man die regelmäßigen, dumpfen Schläge hören, mit denen ihre Hacke tief in die Erde eindrang. Ihre Armmuskeln traten hervor, und unter der schwarzen, hochgebundenen galabeya waren ihre langen,
kräftigen Beine nackt und braun im Morgenlicht zu sehen; ihr Gesicht sah noch streng und mager aus, aber nicht mehr bleich, denn Hitze und Staub, Sonne und frische Luft hatten ihre Haut ledrig und braun werden lassen. Doch darunter war die gleiche Blässe wie zuvor. Mit gebeugtem Rücken hackte sie die Erde. Dabei blickte sie nicht auf den Boden oder ihre Füße, sondern immer noch auf einen fernen Punkt, immer noch zornig und herausfordernd. Und die Schläge wirkten wie das Echo eines unterdrückten Zorns, während sie die Hacke in die Luft schwang und mit aller Kraft in die Erde stieß.
Die Schläge hallten regelmäßig wie dumpfe Glockenschläge zur vollen Stunde. Sie verschlangen die Zeit, gruben sich Stunde um Stunde mechanisch in die Erde. Sie wurden nicht langsamer und hielten nicht inne, um Atem zu holen oder Aufschub zu suchen. Sie hallten den ganzen Tag auf den Nachbarfeldern nach, mit einer geradezu unmenschlichen, unbarmherzigen, erschreckend wütenden Kraft. Selbst zur Mittagszeit, als die Männer die Arbeit niederlegten, um zu essen und eine Stunde zu ruhen, gingen ihre Schläge ununterbrochen weiter. Auch wenn der Büffel eine Zeitlang aufhörte, sich im Kreis zu drehen, auch wenn das Wasserrad eine Weile das Knarren einstellte, ihre Hacke schwang immer wieder durch die Luft, sie fiel vom Himmel auf die Erde und stieg von der Erde zum Himmel.
Die Sonne zog langsam am Himmel hoch. Aus der Scheibe wurde ein Feuerball, der den Wind stoppte, die Bäume niederdrückte und alles verdorren ließ. Es war, als würde das rote Feuer alle Dinge ersticken, verbrennen und austrocknen, ausgenommen den Schweiß, der Zakeya über Gesicht und Körper rann und auf die Erde tropfte. Unter dem Schweiß war ihr Gesicht aschgrau wie der Büffel, der in das Joch gespannt im Kreis ging.
Die Stunden verstrichen. Die Sonne neigte sich jetzt langsam wieder der Erde zu. Ihr Feuer brannte nicht mehr so sengend wie zuvor. Die Hitze ließ nach, und die Luft bebte und trug eine sanfte Brise vom Nil herüber. Die Baumwipfel bogen sich lustlos und erschöpft im Wind. Der Himmel war wieder in grelles, feuerrotes Licht getaucht, das nach und nach vom traurigen Grau der Abenddämmerung verdrängt wurde. Der Schweiß auf ihrem Gesicht trocknete und ließ eine Staubschicht zurück, wie Asche auf einem erlöschenden Feuer. Sie warf die Hacke auf den Boden und streckte sich. Sie blickte sich schnell um, wie jemand, der mitten in der Nacht aufwacht, dann krempelte sie die Ärmel herunter, löste die zusammengeknoteten Rockenden auf und ließ das lange, schwarze Gewand über ihre Füße fallen. Sie band sich das Tuch um den Kopf, dann ging sie vom Feld auf den Sandweg. Und bald darauf war sie wieder ein dunkler Schatten, der mit rhythmischen Schritten denselben Weg zurückging, gefolgt von dem schwerfälligen Büffel. Die grünen Felder lagen jetzt zu ihrer Linken, das braune Wasser des Nils zu ihrer Rechten. In der Entfernung wurden die Bäume zu schlanken, schwarzen Silhouetten vor einem grauer werdenden Himmel. Die rote Sonne war im Westen unter die Erde geglitten, sie hatte ihren Kampf gegen die Dämmerung aufgegeben.
Die beiden Schatten gingen langsam den Sandweg am Ufer entlang. Sie hatten sich nicht verändert: hochgewachsen, mit erhobenem Kopf, wie zum Angriff bereit der erste; mit gesenktem Kopf, schwerfällig und erschöpft der zweite. Zwei stille Schatten in der dunkler werdenden Nacht. In der unendlichen Weite, die sie umgab, bewegte sich nichts, kein Rauschen war zu hören, kein Stöhnen, kein Schrei, kein einziges Wort. Nichts als Schweigen in der Nacht, die die Felder am anderen Ufer, das Wasser des Nils, den Himmel darüber und alles auf Erden in ihren Mantel hüllte.
Sie ließen die Felder hinter sich, und vor ihnen tauchten die Hütten auf, kleine, dunkle, verschwommene Schatten, die am Flußufer nebeneinander kauerten, als suchten sie Schutz und Hilfe, als hätten sie Angst, in die weite, staubige Ebene abzugleiten.
Die beiden Schatten gingen die Böschung hinunter und verloren sich in den engen, gewundenen Gassen, glitten an den Hütten vorbei und blieben vor der großen Holztür stehen, die Zakeya mit ihrer kräftigen Hand aufstieß und die mit einem dumpfen Knarren nachgab. Sie ließ den Strick fallen, an dem sie den Büffel geführt hatte. Er trottete durch die Tür und ging zum Stall. Sie schaute ihm einen Augenblick nach, dann hockte sie sich an den Eingang ihrer Hütte, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und blickte auf die offene Holztür und die dahinter liegende Straße.
Sie saß unbeweglich da, und ihre Augen starrten in die Dunkelheit, als wären sie an etwas hängengeblieben. Vielleicht galt ihre Aufmerksamkeit nur einem Haufen Dung vor ihrem Haus, vielleicht den Exkrementen eines Kindes, das neben der Mauer sein Bedürfnis verrichtet hatte, vielleicht einem Ameisenheer, das sich über einen toten Käfer hermachte, oder einem der schwarzen Eisenpfeiler vom großen Tor auf der anderen Straßenseite.
Die Dunkelheit hatte sich über alles ausgebreitet, sie war undurchdringlich, doch Zakeya starrte weiter in die Nacht, bis sie plötzlich einen stechenden Schmerz in ihrem Kopf spürte. Sie band das Tuch noch fester, doch der Schmerz ging auf ihren Magen über. Sie tastete mit der Hand nach dem flachen Strohkorb, in dem sie den Essensvorrat für die Woche aufbewahrte. Sie zog ihn zu sich heran, öffnete ihren bis dahin fest verschlossenen Mund und aß etwas trockenes Brot, trockenen Käse und Salzgurken.
Sie schloß erschöpft die Augen. Hin und wieder fiel sie in einen leichten Schlaf, wobei ihr Kopf auf den Knien lag. Die Dunkelheit war so vollkommen, daß sie selbst mit weit geöffneten Augen nichts mehr erkennen konnte. Kafrawi glitt durch das große Holztor und setzte sich neben sie. Sie hatte in seine Richtung gesehen, als er auf sie zuging, und er glaubte, sie hätte ihn bemerkt. Doch obwohl sie hellwach ist, sieht sie nicht den Mann, der er heute ist. Er schrumpft vor ihren Augen zu einem kleinen Jungen, und jetzt sieht sie ihn mit den Augen eines Kindes, wie damals, als sie auf dem staubigen Hof vor der Hütte auf dem Boden kroch und mit offenem Mund nach Luft rang. Staub dringt ihr in Augen, Nase und Mund. Sie setzt sich hin und beginnt, sich mit ihren kleinen Fäusten die Augen zu reiben, aber nicht lange, dann legt sie die Hände in den Schoß und blickt sich nach allen Seiten um, und plötzlich sieht sie die vier schwarzen Hufe auf sich zukommen, einer schwingt drohend über ihrem Kopf wie ein großer Hammer, der mit aller Macht auf sie herabfallen wird. Ein Zucken erfaßt ihren Körper, und sie schreit laut auf. Zwei kräftige Arme greifen nach ihr und heben sie vom Boden auf. Die Arme ihrer Mutter, ihre warme Brust und ihr Geruch haben eine beruhigende Wirkung auf sie, und sie hört auf zu schreien.
Die Erinnerung an die Gesichtszüge ihrer Mutter war verblaßt. Nur ihr Körpergeruch war ihr gegenwärtig geblieben. Er erinnerte sie an den Geruch von Brotteig und Hefe. Sobald sie diesen Geruch wahrnahm, überkam sie ein starkes Glücksgefühl, und ihr Gesicht, das immer hart und verschlossen wirkte, wurde einen Moment lang weich und zärtlich.
Als sie laufen gelernt hatte, durfte sie mit Kafrawi zum Feld gehen. Er zog den Büffel an einem Strick hinter sich her, während sie mit dem Esel, der eine Ladung Dung trug, hinter ihnen herging. Während des ganzen Wegs sagte ihr Bruder kein Wort. Sie hörte seine Stimme nur, wenn er den Büffel oder den Esel mit Rufen antrieb.
Sie erinnerte sich an ihren Vater, wie er auf dem Feld stand, nicht aber an sein Gesicht. Sie sah nur ein paar lange, spindeldürre Beine mit hervorstehenden Kniescheiben, eine in der Taille zusammengebundene galabeya, eine große Hacke, die in seinen kräftigen Händen regelmäßig durch die Luft schwang und niederfiel, und sie hörte das dumpfe, schwerfällige Knarren und Keuchen des Wasserrads, das in ihrem Kopf dröhnte. Wenn es sich plötzlich nicht mehr drehte, ging sie zum Büffel und trieb ihn an, aber er wollte sich nicht von der Stelle rühren. Er stand mit seinem reglosen, schwarzen Kopf da und starrte sie aus seinen dunklen Augen unverwandt an.
Zakeya wollte ihn soeben wieder antreiben, als sie erkannte, daß sie nicht den Büffel, sondern Kafrawi vor sich hatte. Er sah ihr ähnlich, denn er hatte dieselben ausgeprägten Gesichtszüge wie sie, dieselben großen schwarzen zornerfüllten Augen, doch Kafrawis Blick war unterwürfig und in den Zorn mischte sich Verzweiflung.
Er saß mit zusammengepreßten Lippen neben ihr, den Rücken an die Lehmwand gelehnt, und seine Augen starrten in die dunkle Straße, bohrten sich durch das Gitter des hohen Eisentors auf der anderen Straßenseite. Er drehte sich zu ihr, seine Lippen öffneten sich und er flüsterte mit heiserer Stimme:
»Das Mädchen ist verschwunden, Zakeya. Sie ist fort.«
»Fort?« fragte sie gequält.
»Ja, fort. Ich kann sie nirgendwo im Dorf finden.«
Er war verzweifelt. Sie sah ihn mit ihren großen schwarzen Augen an. Er hielt ihrem Blick stand, aber in seinen Augen lag tiefe Hoffnungslosigkeit.
»Nefissa ist in ganz Kafr El Teen nicht zu finden, Zakeya«, sagte er. »Es ist, als wäre sie vom Erdboden verschluckt. Sie wird nie wieder zurückkommen.«
Er stützte seinen Kopf in die Hände und sagte fast weinend: »Sie ist fort, Zakeya. O mein Gott!«
Zakeya wandte den Blick von ihm ab und sah auf die Straße, dann flüsterte sie mit mechanischer, trauriger Stimme: »Wir haben sie verloren, so wie wir Galal verloren haben.«
Er sah hoch und murmelte: »Galal ist nicht verloren, Zakeya. Er wird bald zu dir zurückkommen.«
»Das sagst du jeden Tag, Kafrawi. Du weißt, daß Galal tot ist, und willst mir einreden, daß er es nicht ist.«
»Niemand hat uns gesagt, daß er tot ist.«
»Viele sind gestorben, warum nicht auch er?«
»Aber viele sind zurückgekommen. Hab Geduld und bete zu Allah, daß er ihn gesund zu uns zurückschickt.«
»Ich habe so oft gebetet, so oft«, sagte sie mit erstickter Stimme.
»Bete weiter, Zakeya. Bete zu Allah, daß er und Nefissa gesund zu uns zurückkommen. Wohin mag das Mädchen bloß gegangen sein? Wohin?«
Plötzlich verstummten die Stimmen der beiden gequälten Menschen. Schweigen senkte sich über sie, ein Schweigen, das schwerer wog als der dichte Mantel der Dunkelheit, der sie einhüllte. Ihre Augen starrten unverändert in die grenzenlose Nacht, und keiner von beiden rührte sich. Sie blieben nebeneinander sitzen, unbeweglich wie die im Dunkel verborgenen Lehmhütten.