38261.fb2 Gott stirbt am Nil - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 12

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XII

Bevor sich die Morgenröte im Osten ausbreitete, bevor der Hahn krähte und Scheich Hamzawis Stimme zum Gebet rief, öffnete sich das große Holztor knarrend wie ein eingerostetes, altes Wasserrad. Zwei Schatten, deren Köpfe und Schultern in lange schwarze Tücher gehüllt waren, huschten durch die Tür. Das dämmrige Licht fiel auf Zeinabs müdes, blasses Gesicht. Sie blickte zornig und herausfordernd zum Himmel. Neben ihr ging Zakeya mit ihrem ausgemergelten, zerfurchten Gesicht, und ihre großen schwarzen Augen leuchteten im Halbdunkel.

Die Nacht zog sich langsam zurück, und das frühe Morgenlicht schimmerte auf dem Wasserspiegel. Die kleinen, schwachen Wellen sahen aus wie Runzeln in einem alten, traurigen, stillen Gesicht. Windstöße bliesen den Staub die Uferböschung hinunter und weiter über das flache Land, über die dicht aneinandergedrängten Hütten mit den kleinen Fenstern wie blinde Augen, den Türen aus grobem Holz und Wänden aus Lehm und Schlamm.

Das Haus des Bürgermeisters sah dagegen ganz anders aus. Es hatte hohe Wände aus roten Backsteinen, das schwarze Tor mit den hohen Eisenstäben ragte bedrohlich in die Höhe, die Fenster hatten Glasscheiben und Holzrahmen, das Betondach war höher als das Minarett, und es war leer und vollkommen sauber.

Sie gingen und blickten auf die weite Straße vor ihnen. Auf dem Sandweg am Ufer waren die Abdrücke ihrer Füße mit den gespreizten Zehen. Zeinabs Fußabdrücke waren kleiner und deutlicher, denn sie hatte mehr Kraft in den Beinen. Ihre Augen schweiften über den Fluß und die grünen Felder, die parallel zueinander verliefen und sich bis zum Horizont erstreckten. Sie kamen ihr endlos vor, und sie fragte sich, wie weit es wohl bis zur Sayeda Zeinab-Moschee war und wo sie den Bus nach Bab El Hadeed finden würden. Zakeya war bereits erschöpft, sie stützte sich auf die Schulter ihrer Nichte und setzte stumm und ohne zu klagen ihren Weg fort.

An der Biegung des Flusses stießen sie auf einen großen Maulbeerbaum, in dessen Schatten ein alter Mann und eine junge Frau saßen. Neben ihnen stand ein kleiner Korb. Zeinab blieb stehen und fragte sie nach dem Bus. Der alte Mann sagte: »Ja, mein Kind, wartet hier mit uns. Auch wir gehen nach El Sayeda.«

Sie setzten sich neben die beiden auf die staubige Erde. Der alte Mann sah zwischen ihnen hin und her und fragte: »Mein Kind, ist deine Mutter krank?«

Zeinab antwortete: »Sie ist meine Tante. Meine Mutter ist vor vielen Jahren gestorben, Onkel.«

»Möge sich Allah ihrer erbarmen. Wir müssen alle sterben, das ist unser Schicksal. Aber krank sein ist etwas anderes. Möge Allah euch das Elend der Krankheit ersparen.«

Zeinab betrachtete die junge Frau neben ihm, deren Blick in die Ferne schweifte, als interessiere sie sich nicht für das, was gesagt wurde. Sie fragte den alten Mann: »Ist sie deine Tochter, Onkel?«

»Nein, sie ist meine Frau. Sie war bei guter Gesundheit, und ich weiß nicht, was mit ihr geschehen ist. Über Nacht wollte sie nicht mehr essen und trinken, sie konnte nicht mehr schlafen und hat begonnen, Selbstgespräche zu führen. Sie hat Visionen und schreit mitten in der Nacht. Ich bin mit ihr von einem Scheich zum anderen gegangen. Sie haben ihr Amulette umgehängt, und wir haben eine Austreibung veranstaltet. Mein ganzes Geld habe ich ausgegeben, und nichts hat geholfen. Deshalb hat Scheich Abbas mir geraten, mit ihr nach Mekka zu pilgern und Allahs Haus aufzusuchen, damit er ihr ihre Sünden vergibt und den bösen Geist aus ihrem Körper vertreibt. Als ich dem Scheich gesagt habe, daß ich jetzt ein armer Mann bin und die Reise nicht bezahlen kann, hat er mir gesagt, ich sollte sie zur Sayeda Zeinab-Moschee bringen und Sayeda Zeinab um Vermittlung bei Gott anflehen, damit er ihr ihre Sünden vergibt. Ich soll Sayeda Zeinab einen Korb Feigen opfern. Ich schwöre bei Allah, mein Kind, daß ich von Tür zu Tür gegangen bin, um das Geld für diese Reise zusammenzubetteln. Dann habe ich diesen Korb Feigen gekauft. Und jetzt sind wir auf dem Weg nach El Sayeda, und ich hoffe, daß Allah sie von ihrer Krankheit heilen wird.«

»Gott ist groß, mein Onkel«, sagte Zeinab. »Er wird sie nicht verlassen.«

Der alte Mann betrachtete Zakeya, die schweigend dasaß und zum Horizont starrte, als hörte und verstünde sie nicht, was gesagt wurde. Dann fragte er: »Bringst du sie nach El Sayeda?«

»Ja, Onkel«, erwiderte Zeinab.

»Hat sie keinen Mann, der sie begleitet? Habt ihr niemand, der sich um euch kümmert, mein Kind?«

»Wir haben niemand außer Allah, und einen Büffel, den wir bei unserer Nachbarin Om Soliman zurückgelassen haben. Sie wird ihm zu fressen geben, und er wird auf ihrem Feld arbeiten.«

»Gott sei mit euch, mein Kind. Er möge euch zu Hilfe kommen und allen, die seine Hilfe brauchen.«

Zeinab hob die Hände zum Himmel und flehte: »Wir bitten dich, o Gott, steh uns bei!«

Die Sonne stieg am Himmel hoch. Die Erde wurde immer heißer, und die Luft stand still. Zeinab lehnte ihren Kopf an den Baumstamm und schloß die Augen, um zu schlafen, wurde aber von dem heranfahrenden Bus aufgestört. Er bremste stark und hielt neben ihnen, wobei er eine dichte Staubwolke aufwirbelte. Er neigte stark zu einer Seite, und es sah aus, als würde er bei der leichtesten Berührung umkippen. Der hintere Teil des Busses war kohlschwarz, und dichter schwarzer Rauch kam aus dem Auspuff und vermischte sich mit dem Staub. Zakeya stützte sich auf Zeinab, als sie auf das Trittbrett stieg, und der alte Mann half seiner jungen Begleiterin beim Einsteigen. Sie bahnten sich einen Weg in den Bus und verschmolzen sofort mit der Masse aus Körpern und Körben. Die heiße, stickige Luft war wie ein dichter Mantel aus Staub und Rauch. Zakeya und die junge Frau setzten sich neben dem Fahrersitz zwischen andere Passagiere auf den Boden. Der alte Mann und Zeinab blieben wie die meisten anderen stehen. Der Bus machte einen Satz vorwärts, und Zeinab fiel der Länge nach über den alten Mann, der hinter ihr stand. Er verlor das Gleichgewicht und fiel seinerseits über die Passagiere im Gang, und im Nu lagen alle durcheinander auf dem Boden. Als sich der Bus langsam wieder in Bewegung setzte und am Ufer entlangfuhr, hatten sich alle wieder aufgerappelt, und alles war wie vorher. Zeinab und der alte Mann standen dicht beieinander im Gang.

Der Bus fuhr mit seiner schweren Last schwankend vorwärts. Die zerbrochenen Fensterscheiben klapperten, hin und wieder fiel ein Stück Glas aus den Türen, und die lockeren Sitze schepperten. Der Weg war holprig, der Lärm ohrenbetäubend, und der Bus drohte jeden Moment auseinanderzufallen. Zwischen seinen Rädern floß ständig Wasser auf die Erde, wie bei einem alten Mann, der seine Blase nicht mehr kontrollieren kann. Wie ein betrunkener Matrose taumelte der Bus vorwärts, stieß unaufhörlich schwarze Abgase aus, und in vielen Kurven neigte er stark zu einer Seite und drohte in den Nil zu fallen. Doch jedesmal sprang der Fahrer hoch, riß mit voller Kraft das Steuer herum und rettete den Bus gerade noch vor einer Katastrophe. Aber gleich darauf kippte der Bus zur anderen Seite und schien die Böschung hinabzufahren und im Graben landen zu wollen, der wenigstens ausgetrocknet war. Der Fahrer, mit den Tücken des Busses vertraut, wiederholte das Manöver, bis alle vier Räder wieder auf dem Boden waren. Dann setzte er sich beruhigt auf seinen Sitz und blickte mit halbgeschlossenen Augen auf die Straße. Er schien sich nichts anderes zu wünschen als Schlaf, festen Schlaf. Sein blasses, zerfurchtes Gesicht wirkte erschöpft, es hob sich von den Turbanen und den langen Gewändern und den Strohkörben im Hintergrund ab.

Zakeya saß auf dem Boden, sie hatte die Augen geschlossen, die vielen Gesichter und dicht aneinandergedrängten Körper überwältigten sie. Sie fuhr zum ersten Mal in einem Bus und hatte noch nie so viele Menschen auf so engem Raum gesehen. Ihr Körper war noch nie so durchgeschüttelt worden wie jetzt. Von Zeit zu Zeit machte der Bus einen heftigen Satz, und sie schlug erschrocken die Augen auf. Sie hatte das Gefühl, die Erde würde sich auf den Kopf stellen und auf dem Busdach landen, oder der Bus würde umkippen und sich mit dem Dach auf die Straße legen. Sie spuckte immer wieder in ihren Halsausschnitt und rezitierte das Glaubensbekenntnis, als wäre die Stunde ihres Todes gekommen. »Wahrlich, ich bezeuge, daß es keinen Gott gibt außer Allah und daß Mohammed der Gesandte Gottes ist.« Viele Stimmen in dem Bus wiederholten diese Worte in einem Atemzug und dröhnten in ihren Ohren.

In manchen Augenblicken kam es ihr vor, als wäre sie gestorben und in dem Bus, der am Nilufer entlangfuhr, wieder ins Leben zurückgekehrt. Sie hob den Kopf und wollte einen Blick auf den Fluß werfen, doch vor allen Fenstern und Türen drängten sich Menschen, und so sah sie nichts als das verrußte Dach des Busses.

Daß dieser angehalten hatte, merkte sie erst, als Zeinab sie an der Hand nahm und sagte: »Wir steigen hier aus, Tante.«

Sie stützte sich auf Zeinabs Rücken und stieg aus dem Bus. Ihr Gesicht war blaß, und ihre Augen wirkten noch schwärzer als sonst, als sie sich nach allen Seiten umsah und weder den Fluß noch das Ufer, weder die Lehmhütten noch staubige Wege, sondern breite, helle Straßen und hohe Gebäude entdeckte, Autos, die hintereinander an ihnen vorbeirasten, und Straßenbahnen, die ein sonderbares Klirren und Quietschen von sich gaben. Auch die Menschen waren anders. Die Frauen trugen Schuhe mit hohen Absätzen und wirkten unter ihren eng anliegenden Kleidern beinahe nackt. Es waren so viele Männer in den Straßen, daß sie sie nicht zählen konnte. Auf jeder Straßenseite reihten sich die Geschäfte aneinander, und der hektische Verkehr ergoß sich unaufhörlich durch die Straßen, begleitet von einem schrillen, hektischen Lärm. Sie umklammerte Zeinabs Hand und rückte eng an sie heran.

»Mir ist schwindlig, Zeinab«, sagte sie. »Laß mich nicht allein. Halte meine Hand fest. Ich weiß nicht, ob sich mein Kopf dreht oder die Straße.«

Auch Zeinab schwindelte der Kopf. Sie beobachtete das Treiben und wunderte sich immer mehr. Der alte Mann hatte sich inzwischen an Zeinab gelehnt, während sich die junge Frau an ihm festhielt. So standen sie zwischen den vorbeiströmenden Passanten und drängten sich schutzsuchend aneinander. Ihr Mund war vor Staunen geöffnet, und ihre Blicke wanderten wie die gehetzte Menschenmenge blitzschnell hin und her.

Nach einer Weile setzten sie sich in Bewegung und gingen hintereinander an einer hohen Mauer entlang, mit vorsichtigen Schritten, aus Angst, von den wilden Rädern der vorbeirasenden Autos überfahren zu werden. Zeinab fragte einen der Vorübergehenden nach der Straßenbahn, die sie nach El Sayeda bringen würde. Der Mann zeigte auf eine Säule und sagte: »Wartet dort, bis die Straßenbahn kommt.«

Sie taten, was der Mann ihnen gesagt hatte. Der Platz wimmelte von Menschen. Zeinab schaute nach oben und entdeckte, daß lange Drähte über die Straße gespannt waren. Auf der anderen Straßenseite war ein hohes Gebäude und hinter den Drähten ein großes Plakat, auf dem eine nackte Frau mit gespreizten Beinen auf dem Rücken lag und drei Männer ihre Pistolen auf sie richteten.

Sie bedeckte ihre Augen mit dem Kopftuch und sagte: »So eine Schande!«

Die Straßenbahn kam, und die Menschen, die ein- oder ausstiegen, drängten sich auf dem schmalen Trittbrett, das unter ihrem Gewicht zusammenzubrechen drohte. Zeinab hielt sich an einer eisernen Querstange fest und zog Zakeya hinter sich her. Dann folgte die junge Frau, und nach ihr kam der alte Mann, der seinen Korb Feigen an sich preßte. Er hatte sich gerade einen Weg gebahnt, als ihm der Korb wegrutschte und unter die Räder der Straßenbahn fiel. Der Mann sprang hinterher. Ein Schrei, auf den andere Schreie folgten. Die Feigen rollten auf die Straße und wurden von den Passanten zertreten. Der Schaffner blies schnell in seine Trillerpfeife, und die Straßenbahn blieb stehen.

Zakeya hatte nicht gesehen, was geschehen war. Sie konnte nicht sagen, ob die Straßenbahn stand oder fuhr. Sie schloß die Augen, weil sich ihr der Kopf drehte. Erst als sie vom Rütteln der Straßenbahn erfaßt wurde, schlug sie sie wieder auf. Zeinab saß neben ihr, und durch ein kleines Fenster sah sie die vielen Menschen hin und her laufen. Sie konnte auch einen flüchtigen Blick auf die hohen Gebäude werfen, auf riesige Plakatwände, Plakate, auf denen halbnackte Frauen saßen, lagen oder standen, immer mit gespreizten Beinen, vor ihnen Männer, die alle Pistolen trugen. Sie ahnte, daß in der Straßenbahn etwas passiert war, ergriff Zeinabs Hand und fragte: »Was ist geschehen?«

»Der alte Mann ist unter die Räder der Straßenbahn gefallen, und statt nach El Sayeda zu fahren, ist er jetzt ins Krankenhaus gebracht worden«, antwortete Zeinab.

Zakeya gestikulierte heftig, als wollte sie ihr hinter dem Straßenfenster ganz oben im Himmel etwas zeigen.

»Nur Allah ist allmächtig, mein Kind. Ist dies eine verrückte Welt, oder hat deine Tante Zakeya den Verstand verloren?«

»Allah möge dich gesund machen und dir deinen klaren Verstand erhalten. Allah sei Dank, daß es dir gut geht, Tante, und es wird dir noch besser gehen, wenn du in El Sayeda warst.«

»Unsere liebe Frau sei gesegnet«, murmelte Zakeya vor sich hin.