38261.fb2 Gott stirbt am Nil - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 13

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XIII

Zakeya und Zeinab schienen mit der dichten Menschenmenge zu verschmelzen, die in die Sayeda Zeinab-Moschee strömte und das ganze Viertel überschwemmte, die engen Gassen und die Hauptverkehrsstraße, wo eine Straßenbahn nach der anderen kam, und den großen Platz, zu dem sie führte. Alle Menschen waren in bodenlange galabeyas gekleidet. Die Frauen unterschieden sich von den Männern durch die schwarzen Tücher, in die sie den Kopf gehüllt hatten. In dem unüberschaubaren Menschenknäuel gingen alle barfuß, hatten große, flache Zehen, schmutzige, rissige Fersen und rauhe, schwielige Handflächen, in denen Hacke, Pflug oder Wasserrad Spuren hinterlassen hatten. Die schmalen, mageren Gesichter sahen blaß und müde aus, die großen schwarzen Augen waren vor Verwunderung weit aufgerissen oder vor Betäubung halb geschlossen, und sie alle holten tief Luft und hielten dann den Atem an.

Zakeya hielt Zeinabs Hand umklammert, sie drückte sich aus Angst, ein noch so geringer Abstand zwischen ihnen könnte zur Folge haben, daß sie in diesem gewaltigen Menschenmeer unterging, so dicht an sie, daß sie ihr beinahe auf die Füße trat. Und doch drängten sich Menschen zwischen sie, und im Nu hatte sie Zeinab aus den Augen verloren. Aber plötzlich hatte sie keine Angst mehr, sie fühlte sich nicht mehr allein. Alles kam ihr jetzt vertraut vor, als hätte sie es schon einmal erlebt. Alle Menschen trugen eine galabeya wie sie, und ihr Schweiß roch wie der Schweiß der anderen Menschen, mit denen sie alles gemein hatte, das Gesicht, die Füße und die Zehen, den Gang, den Blick und die Sprache. Sie war ein Teil dieser Menschenmasse, und diese war ein Teil von ihr. Sie fürchtete sich nicht mehr und gab es auf, in dem Gedränge nach Zeinab zu suchen, denn alle Gesichter ähnelten Zeinabs Gesicht, und alle Stimmen erinnerten sie an Zeinabs Stimme. Auch die Wörter, die Aussprache und die Betonungen, die zum Himmel erhobenen Hände und der einstimmige Schrei »Errette uns, o Gott!« ließen sie glauben, daß alle diese Menschen Zeinab waren.

Sie waren krank oder blind, jung oder alt, Kinder oder Babys in den Armen ihrer Mütter. Es waren Prediger verschiedener Glaubensgemeinschaften, Bettler oder Diebe, Zauberer oder Wahrsager, Menschen, die Amulette anfertigten oder religiöse Lieder sangen. Es waren heilige Männer, Gesandte Allahs, Wächter an den Pforten des Himmels. Wie Zakeya und Zeinab streckten sie Allah gemeinsam ihre groben Hände entgegen und sangen einstimmig in einem Atemzug: »O Gott.«

Auch Zeinab hatte es aufgegeben, nach Zayeka zu suchen. Sie war jetzt ein Gesicht unter zahllosen Gesichtern, nur ein Tropfen in einem Meer von Menschen, ein Gewand unter Millionen Gewändern, ein unsichtbares Teilchen im unendlichen All, zwei Hände in einem Dickicht erhobener Hände, die im Wind zitterten, eine Stimme in einem Meer von Stimmen, die sich in einem Bittgesang vereinigten, in einer anhaltenden, verzweifelten Klage: »O Gott, errette uns.« Zeinab schrie auch mit Zakeyas Stimme, ein schriller Schrei, der tief aus ihrem Inneren kam, ein Schrei wie aus einer durchschnittenen Kehle, wie das Keuchen in einer verwundeten Brust.

»O Gott!« rief Zeinab, und ihr Herz klopfte wild. Es schlug gegen ihre Rippen, ließ ihre schmalen Brüste unter dem engen Mieder ihres langen Kleides beben. Ihre Augen hatten einen geheimnisvollen Glanz, sie schimmerten wie das Mondlicht auf einem dunklen, stillen Strom. Ein sonderbares Fieber in ihrem Innern ließ sie erzittern, eine zarte Röte stieg ihr ins Gesicht, als würde sie ihr Herz zum ersten Mal verschenken.

»O Gott«, flehte sie, und mit jedem Schrei fühlte sie sich ihm näher, glaubte, Gott würde ihre Stimme hören und ihren Atem spüren, wie auch sie seine Stimme hörte und seinen Atem spürte. Ihr Körper war mit ihm eins geworden, und sie zitterte, von einer plötzlichen Furcht ergriffen, mehr einem tiefen Schmerz, einem Gefühl der Erleichterung, die wie eine große Freude war. Ihr war zum Weinen, und gleichzeitig hätte sie vor Freude jauchzen können. Sie wollte die Augen schließen und sich ihm hingeben, sie wollte dieses Gefühl der Erleichterung, diesen endlich entspannten Körper und diese nie gekannte Freude voll auskosten. Doch tief in ihrem Innern war sie immer noch schrecklich traurig, erschöpft und unruhig, so daß sie nicht schlafen, ja nicht einmal die Augen schließen konnte. So blieb sie stundenlang mit weit geöffneten Augen sitzen, obwohl sie ihre Umgebung kaum wahrnahm.

Plötzlich hörte sie, wie jemand ihren Namen rief: »Zeinab.« Sie wußte sofort, daß es Gottes Stimme war. Sie hatte ihn die ganze Nacht lang angerufen, und jetzt war er es, der sie rief. »O mein Gott!« flüsterte sie, und er antwortete: »Zeinab!« Wie im Traum ging sie auf die Stimme zu. Sie wußte nicht, ob es ihre Beine waren oder Flügel, die sie trugen. Die Menschenmenge, die sie umgab, und die unzähligen Stimmen, die in ihren Ohren hallten, wichen zurück und lösten sich in Nichts auf, ließen eine Leere zurück, in der nur eine Stimme widerhallte: »Zeinab!«

Ein Gesicht tauchte aus dem dichten Nebel oder der dichten Rauchwolke vor ihren Augen auf. Es gehörte weder einem Mann noch einer Frau, weder einem Kind noch einem alten Menschen. Es war wie das Gesicht von Om Saber, alterslos und geschlechtslos, aber es war nicht wie ihres in ein schwarzes Tuch, sondern in einen weißen Turban gehüllt, der bis an die Augenbrauen reichte. Sein Gesicht war vernarbt, als hätte er Pocken gehabt. Die kleinen Augen, ohne Wimpern und Lider, waren wie zwei dunkle Löcher, die Zeinab anstarrten.

»Bist du Zeinab, die Tochter Kafrawis?« fragte die Stimme.

Ängstlich hauchte sie: »Ja.« Sie hörte eine innere Stimme fragen: »Wie hat er mich unter all den Menschen erkannt?«, worauf eine andere Stimme sofort antwortete: »Allah sei gepriesen, denn er weiß alles.«

»Wo ist deine Tante Zakeya?« fragte der Mann.

Und wieder fragte die Stimme in ihr: »Er weiß auch, daß meine Tante Zakeya heißt. Das ist erstaunlich.«

Sie sah sich nach ihrer Tante um. Sie konnte sie nirgendwo entdecken, aber da fiel ihr auf, daß Zakeya ihre Hand noch immer umklammert hielt, sich zitternd an sie drängte und Verse aus dem Koran vor sich hinmurmelte.

Der Mann trat an Zakeya heran und nahm ihr mit seinen dunklen, knorrigen Händen das Amulett vom Hals. Er rezitierte ein paar Verse, schwieg einen Moment, dann hängte er es ihr wieder um. Zakeya beobachtete ihn aufmerksam und voller Ehrfurcht, als wollte sie sich ihm zu Füßen werfen. Sie beugte sich über seine Hand und preßte inbrünstig ihre Lippen darauf, wobei sie unverständlich vor sich hinredete. Der Mann überließ ihr seine dunkle, knorrige Hand und wandte sich an Zeinab.

»Dein Tante Zakeya ist krank. Sie ist krank, weil du Allah den Gehorsam verweigert hast und sie dich darin bestärkt hat. Aber Allah ist barmherzig und gütig, und er wird euch beiden vergeben, wenn ihr tut, was er von euch verlangt. Er wird sie von ihrer Krankheit heilen, und sein Name sei hochgepriesen.«

Sie hoben ihre Hände zum Himmel und sagten in einem Atemzug: »Wir danken dir und preisen dich, o Gott, denn du bist mildtätig und gut.«

»Ihr müßt die Nacht in der Moschee verbringen«, sagte der Mann. »Morgen früh vor Anbruch des Tages macht ihr euch auf den Weg nach Kafr El Teen. Dort wascht euch mit sauberem Nilwasser und sagt das Glaubensbekenntnis auf, während ihr euch wascht. Nachdem ihr euch angezogen habt, verrichtet das Ritualgebet. Werft euch viermal nieder, wie es die Sunna vorschreibt. Dann wiederholt zehnmal den heiligen Vers. Am nächsten Tag muß sich Zeinab im Morgengrauen wieder mit frischem Nilwasser waschen, das Glaubensbekenntnis dreimal hintereinander aufsagen und anschließend das Ritualgebet verrichten. Dann soll sie noch vor Sonnenaufgang die Haustür öffnen, auf der Schwelle stehen bleiben und nach Osten gerichtet zehnmal den ersten Koranvers rezitieren. Sie wird ein hohes Eisentor vor sich sehen. Sie muß darauf zugehen, es öffnen und hindurchgehen, und sie darf erst wieder hinausgehen, wenn der Hausbesitzer es so will. Er ist ein edler, großer Mann, Sohn eines edlen, großen Vaters und stammt von einer guten, gläubigen Familie ab, die den Segen Allahs und seines Propheten hat. In der Zwischenzeit soll Zakeya mit dem Büffel zum Feld gehen, ihn an das Wasserrad binden, ihre Hacke nehmen und arbeiten, bis der Ruf zum Mittagsgebet ertönt. Wenn sie den Ruf hört, soll sie die Hacke niederlegen und das Ritualgebet verrichten. Anschließend muß sie in der Kniestellung verharren und zehnmal den ersten Vers des Koran aufsagen, dann muß sie die Hände zum Himmel heben und dreißigmal ›O Gott, vergib mir‹ wiederholen. Wenn sie fertig ist, soll sie aufstehen, ihr Gesicht in ihre Hände legen, und wenn Gott will, wird sie vollkommen geheilt sein.«

Zakeya beugte sich tief über die dunkle, knorrige Hand, preßte inbrünstig ihre Lippen darauf und flüsterte: »Ich danke dir und preise dich, mein Gott.«

Inzwischen fuhr Zeinab fort, Gott zu preisen und zu danken. Sie war von einer solchen Seligkeit überwältigt, daß sie vergaß, dem Mann die silberne Zehn-Piaster-Münze zu geben, wie Haj Ismail ihr aufgetragen hatte. Aber jetzt bat sie der Mann selbst darum. Mit zitternden Händen machte sie die verknoteten Enden ihres Kopftuchs auf, nahm die Münze, gab sie ihm und küßte seine Hand, als würde sie Gott das Opfer bringen. Ihre innere Stimme sagte leise: »O Gott, er kennt Kafr El Teen und unser Haus und das Eisentor auf der anderen Straßenseite.«

Der Mann verschwand ebenso schnell in der Menge, wie er aufgetaucht war, und ließ Zakeya und Zeinab verwirrt und in tiefer Demut zurück. Sie standen dicht nebeneinander und sahen sich mit fragenden Augen an, als wollte sich die eine bei der anderen versichern, daß das Geschehene Wirklichkeit war und keine Einbildung, daß sie Gottes Stimme tatsächlich gehört, ihn sogar gesehen hatten, zumindest aber einen seiner Gesandten oder Heiligen, die als einzige seine Geheimnisse kannten. Nie hatte sich Zakeya so leicht gefühlt. Der eiserne Griff, der sie die ganze Zeit umklammert hielt, hatte sich gelockert. Sie mußte sich nicht mehr auf ihre Nichte Zeinab stützen, denn sie hatte wieder Kraft in den Beinen, und das Gehen fiel ihr leicht.

Verwundert sah Zeinab ihre Tante an, die ohne jede Hilfe neben ihr ging: »Tante, dir geht es schon besser«, sagte sie mit leiser und ehrfürchtiger Stimme. »Sieh doch, du kannst ja gehen!«

Und die alte Frau antwortete: »Mein Körper ist jetzt ganz leicht. O Gott, du bist wahrlich groß und gütig.«

»Gott ist groß«, sagte Zeinab. »Habe ich dir nicht immer gesagt, daß Allah uns helfen wird und daß du zu ihm beten und geduldig sein sollst?«

»Ja, mein Kind, das hast du immer gesagt.«

»Ich habe Gott den Gehorsam verweigert und nicht beten wollen, genau wie du, Tante Zakeya.«

»Ich habe mich nicht geweigert, zu beten. Es war der böse Geist in mir, der sich geweigert hat.«

»So Gott will, treibt er den bösen Geist aus unserem Körper, wenn wir tun, was er befiehlt.«

»Erinnerst du dich an alles, was der Scheich gesagt hat?« fragte Zakeya. »Ich habe am ganzen Körper gezittert und kann mich an seine Worte nicht erinnern. Ich fürchte, wir könnten etwas vergessen.«

»Mach dir keine Sorgen. Jedes seiner Worte hat sich mir tief eingeprägt.«

»Gott segne dich«, sagte Zakeya inbrünstig.