38261.fb2 Gott stirbt am Nil - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 15

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XV

Kurz bevor der erste Hahnenschrei in die Luft stieg, schlug Scheich Hamzawi die Augen auf. Aber vielleicht waren sie schon seit einiger Zeit geöffnet und beobachteten staunend die Szene, die sich ihnen Tag für Tag darbot. Doch es war kein echtes und unschuldiges Staunen, sondern von ständigen, quälenden Zweifeln durchsetzt, die die sonderbare Eigenschaft hatten, in gewissen Momenten zu einer unerschütterlichen Gewißheit zu werden. Und diese Gewißheit ließ ihn glauben, daß das, was er mit eigenen Augen sah, unumstrittene Wahrheit war, so unumstritten wie die Existenz Gottes. Die Morgendämmerung streckte ihre langen, schmalen Finger durch einen Fensterschlitz und warf ein schwaches Licht auf Fatheyas Gesicht. Die ihm zugewandte Gesichtshälfte war aschgrau, ihre Augen waren einen Spaltbreit geöffnet, als würden sie im Schlaf sehen. Ihre Lippen aber waren fest verschlossen, als fürchte sie, daß sie etwas preisgeben könnten, während sie schlief. Das fahle Morgenlicht betonte ihren weichen, weißen Hals, und aus ihrem Nachthemd, das aufgeknöpft war, sahen ihre weichen, weißen Brüste hervor. Das Kind hielt sich mit seinen kleinen Händen und seinem Mund an ihnen fest. Sie drückte es fest an sich, als hätte sie Angst, daß irgendeine Macht es ihr entreißen würde.

Scheich Hamzawi betrachtete die ihm zugewandte Gesichtshälfte erstaunt und verwirrt. Wie kam es, daß sich diese Seite von der anderen unterschied, auf die das Licht noch nicht fiel, und was war aus den ihm so vertrauten Gesichtszügen geworden? Wodurch unterschieden sich die beiden Hälften? Er war sicher, daß das Gesicht, das ihm das Morgenlicht offenbarte, nicht das Gesicht seiner Frau Fatheya war, denn es ähnelte ihr überhaupt nicht, obwohl es ihre Nase war, ihr Hals und ihre Brust, aber es war eine auffällige Veränderung mit ihr vorgegangen, die er sich nicht erklären konnte. Er zweifelte keinen Moment daran, daß die Frau, die neben ihm lag, seine Ehefrau Fatheya war. Davon war er ebenso überzeugt wie von der Existenz Allahs. Und diese Überzeugung machte seine Verwirrung noch größer.

Seinem Gesicht war in diesem Augenblick anzusehen, daß er sich keiner Sache mehr sicher war. Er starrte vor sich hin, und in seinem Auge schien ein kleiner Muskel zu zucken. Das Morgenlicht fiel durch das Fenster auf sein leichenblasses Gesicht und warf einen langen Schatten, der wie ein zweites Gesicht aussah. Das obere war sein wahres Gesicht, das jeder in Kafr El Teen kannte. Doch das untere kannte keiner, denn so ein Gesicht hatte in Kafr El Teen noch nie jemand gesehen. Es war weder das Gesicht eines Menschen noch das eines Geistes. Es hätte einem Engel oder einem Teufel, vielleicht sogar Allah gehören können, wenn man voraussetzte, daß irgend jemand Allah bereits gesehen hatte und ihn wiedererkennen würde.

Und doch fühlte sich Scheich Hamzawi, während er dalag, weiter von Gott entfernt denn je. Es gab Momente, in denen er Allah nahe war, vor allem beim Freitagsgebet, wenn alle Männer des Dorfes, auch der Bürgermeister, völlig unbeweglich hinter ihm standen und darauf warteten, daß er ihnen ein Zeichen gab, damit sie sich rühren, die Lippen bewegen und die Koranverse rezitieren durften.

In solchen Momenten glaubte er Allah näher zu sein als die meisten anderen Männer, den Bürgermeister eingeschlossen. Dann überkam ihn ein seltenes Glücksgefühl, das er nur als Kind gekannt hatte, wenn er mit Steinen nach anderen Kindern warf und beobachtete, wie sie erschrocken davonliefen. Wenn er beim Gebet aufstand, kniete oder sich hinsetzte, ließ er sich absichtlich Zeit. Hin und wieder schaute er sich kurz um und warf einen Blick auf den Bürgermeister und die hinter ihm versammelten Männer, die ehrfurchtsvoll auf die geringste Bewegung seines Kopfes, seiner Hand oder auch nur seines kleinen Fingers warteten.

Doch er mochte sich noch so viel Zeit lassen und das Gebet noch so langsam sprechen, es war in wenigen Minuten vorbei, und dann verließen ihn die Männer und gingen in alle Richtungen auseinander. Manche traten ihm sogar auf die Füße, wenn sie hinter dem Bürgermeister herliefen, ein Blatt Papier in den Händen, auf das in einer Ecke die obligatorische Steuermarke geklebt war und auf dem sie eine Bitte oder Klage verfaßt hatten. Dann schimpfte er leise über die »gottlosen Halunken«, die keinen Respekt vor Allah hatten und weltlichen Dingen nachliefen, statt an ihr zukünftiges Leben zu denken. Er ging nach Hause, eine einsame Gestalt, die mit dem Stock auf der Erde tappte und die gelbe Gebetskette in der zitternden Hand schwenkte. Seine Hände zitterten noch mehr, wenn er seine Frau sah. Er rief sie mit fordernder, kehliger Stimme zu sich, wollte männlicher und rauher wirken als sonst, er hustete und räusperte sich mehrmals hintereinander, damit die Nachbarn hörten, daß Fatheyas Mann, der Herr des Hauses, zurück war.

»Du bist taub und blind, seit das unselige Kind in unserem Haus ist. Es nimmt deine ganze Zeit in Anspruch, du kümmerst dich um nichts anderes mehr, und dabei ist es ein Kind der Sünde. Ich habe mich seiner erbarmt und es aufgenommen, doch manchmal wünschte ich, es wäre dort draußen gestorben. Seit diese unselige Kreatur, dieses Kind der Unzucht und der Sünde, in unserem Haus ist, kommt ein Unglück nach dem anderen. Die Leute in Kafr El Teen mißbilligen, daß ich es aufgenommen habe, die Zungen stehen nicht still, und ich werde nicht mehr so geachtet wie früher. Sogar meine Freunde haben mich im Stich gelassen, und der Bürgermeister lädt mich nicht mehr ein, den Abend mit ihm zu verbringen. Er hat mir mehrmals geraten, das Kind in ein Heim für uneheliche Kinder zu geben. Ich habe es ihm versprochen, aber du weigerst dich nach wie vor. Ich verstehe nicht, warum du so sehr an diesem unseligen Kind hängst.«

Seine Stimme verebbte, sobald er diese Frage gestellt hatte. Er begriff nicht, warum sie dieses Kind so sehr in ihr Herz geschlossen hatte. Und wieder begann die Gebetskette in seinen Händen zu zittern, als wüßte er die Antwort bereits und wollte sich das nicht eingestehen. Aber es war ein Wissen ohne Gewißheit, ein dunkler Verdacht, so wie jemand sich einer Sache gleichzeitig sicher sein und an ihr zweifeln kann. Das Wissen und der Zweifel ließen ihn frösteln, es war, als wäre ein eisiger Windstoß zusammen mit dem frühen Morgenlicht durch das Fenster gedrungen. Er blickte in Fatheyas Gesicht, auf ihren Hals und die weichen, runden Brüste, an die sich das Kind klammerte. Und wieder stieg die Frage in ihm auf, kalt und glatt wie eine Schlange: »Wie ist es möglich, daß sie Milch hat, obwohl sie mit dem Kind nicht schwanger war und es nicht geboren hat?« Er hatte diese Frage nicht als erster gestellt, sondern irgend jemand hatte sie an ihn gerichtet, wer, das wußte er nicht mehr. Und er war sicher gewesen, daß es eine Frage war. Aber es konnte auch nur eine beiläufige Bemerkung im Flüsterton gewesen sein. Und das Flüstern war wie ein Stich in sein Herz gewesen. »Stillt Fatheya das Kind?« Er wollte das bestreiten, denn er hatte es nicht an ihrer Brust saugen sehen. Sie kaufte jeden Morgen Büffelmilch für das Kind. Aber die flüsternde Stimme fragte beharrlich weiter, mit einer Gewißheit, die keinen Widerspruch duldete.

Wenn Scheich Hamzawi durch die Straßen ging und an einer Menschengruppe vorbeikam, hörte er dieses Flüstern, sobald sie die Köpfe zusammensteckten. Er grüßte sie feierlich: »Friede sei mit euch!«, aber einige antworteten nicht einmal. Wenn er an Haj Ismails Geschäft vorbeiging, vor dem der Polizeichef, der Dorfbarbier und andere Männer im Kreis um den Bürgermeister saßen, sagte er mit lauter Stimme: »Friede sei mit euch!« Es folgte ein kurzes Schweigen, bevor jemand mit leiser, kalter, beiläufiger Stimme antwortete: »Und Friede sei mit dir!« Es war nicht der Bürgermeister, der antwortete, auch nicht der Dorfbarbier, sondern jemand anders. Niemand forderte ihn auf, sich zu ihnen zu setzen. Er ging mit gesenktem Kopf nach Hause, wo er Fatheya mit dem Kind in den Armen antraf. Er fühlte den starken Drang, es ihr zu entreißen und aus dem Fenster zu werfen, aber er warf dem Kind nur einen finsteren Blick zu, als wäre es ein starker, unbesiegbarer Feind.

Eines Nachts blieb er wach, bis Fatheya eingeschlafen war. Auf Zehenspitzen schlich er zu dem Kind, das neben ihr lag, und wollte es hochheben. Obwohl sie schlief, hielt sie es fest umschlungen. Das Kind klammerte sich wie immer an ihre Brust. Fatheya merkte, daß er es ihr wegnehmen wollte und rief: »Du solltest dich schämen, Scheich Hamzawi. Du bist ein Gottesmann. Es ist ein kleines, unschuldiges Kind.«

»Ich will kein Kind der Sünde unter meinem Dach haben.«

»Dann werde ich mit ihm fortgehen«, antwortete sie.

»Du bist nicht seine Mutter, und du wirst nicht mit ihm fortgehen«, sagte er mit bebender Stimme.

»Ich werde es niemand anderem anvertrauen. Die Menschen haben kein Mitleid, und dieses unschuldige Kind hat niemandem etwas getan.«

»Dieses Kind der Sünde wird uns nichts als Ärger bringen«, sagte Scheich Hamzawi. »Seit es in unserem Haus ist, geschieht uns und dem ganzen Dorf ein Unglück nach dem anderen. Die Würmer haben die Ernte vernichtet, und die Leute sagen, daß das Kind daran schuld ist. Auf der Straße grüßt mich keiner mehr, Fatheya, und ich fürchte, daß mich der Bürgermeister aus der Moschee verjagen und einen anderen Scheich zu meinem Nachfolger ernennen wird. Jemand hat ihm eingeredet, daß die Dorfbewohner mich nicht mehr als Vorbeter wollen aus Angst, Gott könnte ihre Gebete nicht erhören, weil der Prediger ein Kind der Sünde und der Unzucht in sein Haus aufgenommen hat. Wir werden verhungern, Fatheya, wenn der Bürgermeister mich aus der Moschee verjagt.«

»Allah wird für uns sorgen, Scheich Hamzawi, wenn dich der Bürgermeister vertreibt«, sagte Fatheya.

»Allah wird uns kein Manna vom Himmel schütten.«

»Wie kannst ausgerechnet du so etwas von Gott sagen, Scheich Hamzawi? Hast du nicht immer behauptet, daß Allah den Armen hilft, die ihn verehren? Warum sollte er sich nicht auch unser annehmen, wenn der Bürgermeister dich vertreibt? Hast du kein Vertrauen in Allah, Scheich? Zweifelst du an seinem Erbarmen, du, der die Menschen ermahnt, den Glauben nicht zu verlieren? Steh auf, Scheich Hamzawi, und verrichte deine Waschungen und bete zu Gott, daß er sich deiner und meiner und aller Menschen im Dorf erbarmt.«

Da verrichtete er seine Waschungen und Gebete, setzte sich auf den Gebetsteppich und rezitierte Verse aus dem Koran. Das Kind kroch zu ihm, setzte sich hin und sah ihn fragend an. In Scheich Hamzawis Augen war so viel Haß, daß es erschrak und laut schreiend davonkroch. Fatheya kam herbeigelaufen, nahm es auf den Arm und streichelte es. »Was ist denn, mein Liebes, was hast du denn? Hast du Angst vor deinem Vater, Scheich Hamzawi? Du brauchst keine Angst zu haben, Liebes, er ist dein Vater und liebt dich, und wenn du größer bist, wird er dich in den Koran einweisen, und du wirst Scheich der Moschee wie er. Du wirst die Gemeinde beim Gebet leiten und ihr am Freitag eine Predigt halten.«

»Du träumst, Fatheya«, sagte Scheich Hamzawi verächtlich. »Glaubst du wirklich, die Leute hier würden einen Scheich akzeptieren, der als Kind der Sünde geboren wurde?«

»Aber daran hat das Kind doch keine Schuld«, erwiderte sie hartnäckig.

»Ich weiß, daß das Kind keine Schuld daran hat, aber die Menschen hier denken anders.«

»Warum?« fragte sie. »Warum denken sie nicht wie wir? Wir sind nicht anders als sie.«

»Ja, ich weiß, aber die Menschen sind wie die Wellen des Meeres, man weiß nie, wann und warum sie aufbrausen. Alle sagen mir, und niemand macht eine Ausnahme, daß das Kind keine Schuld hat. Aber sobald sie ihre Köpfe zusammenstecken, sagen sie etwas anderes. Diese Menschen sind ungläubig, Fatheya. Sie glauben nicht an Gott und machen sich keine Gedanken über das, was in diesem oder im nächsten Leben geschieht. Sie fürchten Gott nicht, sie fürchten nur den Bürgermeister. Er entscheidet über ihr tägliches Brot, und er kann es ihnen wegnehmen. Wenn er wütend ist, verdoppeln sich ihre Schulden, und die Regierung schickt ihnen eine Aufforderung nach der anderen: ›Entweder du zahlst oder dein Land wird beschlagnahmt.‹ Du kennst den Bürgermeister nicht, Fatheya. Er ist ein gefährlicher Mann und fürchtet niemand, nicht einmal Allah. Er kann den Menschen Unrecht zufügen und sie ins Gefängnis werfen, selbst wenn sie nichts getan haben. Er kann sogar unschuldige Menschen umbringen.«

»Im Namen Allahs, des Allmächtigen, warum hast du dann immer gesagt, daß er ein Mann ist, der an Allah glaubt und den Menschen Gutes tun will? Jeden Freitagmorgen ist deine Stimme aus der Moschee zu mir gedrungen, wenn du vor den dort versammelten Männern eine Predigt gehalten und Allah angefleht hast, dem Bürgermeister ein langes Leben zu schenken. Du hast immer gesagt, daß Kafr El Teen nie einen besseren Bürgermeister hatte und er sich immer um Wahrheit und Gerechtigkeit bemüht hat. Hast du die Menschen getäuscht, Scheich Hamzawi?«

Er schwieg eine lange Zeit, dann antwortete er: »Du verstehst nichts von dem, was außerhalb dieser vier Wände vor sich geht. Es ist nicht einfach, mit den Menschen dort draußen zu leben. Der Prophet sagt: ›Handle so, als würdest du ewig leben.‹ Die Freitagspredigt kann nicht nur von Allah handeln. Sie muß sich auch mit den weltlichen Dingen auseinandersetzen, und die Welt, in der wir leben, wird vom Bürgermeister regiert. Wenn man bei ihm in Ungnade fällt, kommt man im Leben nicht voran. Und was das Paradies angeht, so bin ich sicher, daß Allah mich dort aufnehmen wird. Ist es nicht genug, daß ich von seiten des Bürgermeisters und des Polizeichefs viel einstecken muß, um ein unschuldiges Kind zu schützen? Oder was glaubst du, Fatheya?«

»Ja, natürlich«, antwortete sie hastig. »Allah wird dir vergelten, daß du ein unschuldiges Kind aufgenommen und es beschützt und zärtlich umsorgt hast.«

Sie sah, daß er gut gelaunt war und setzte sich neben ihn und legte ihm das Kind in den Schoß.

»Sieh in seine Augen, Scheich Hamzawi. Erkennt du nicht, daß es dich liebt, wie ein Kind seinen Vater liebt? Nimm seine Hand, sieh doch, wie klein und zart sie ist, wie seine winzigen Finger deinen Daumen umklammern, als wollte er dir sagen: ›Laß mich nicht allein, ich bin klein und schwach, Vater, ich brauche deine Hilfe.‹«

Und das Kind streckte seine Hände aus und berührte Hamzawis Gesicht. Der alte Mann senkte den Kopf und ließ es sich gern gefallen, daß sie mit seinem Bart spielten.

Eines Tages riß das Kind ein Haar aus seinem Bart. Er schlug ihm auf die Hand und sagte: »Schäm dich!« Der Scheich setzte es auf den Gebetsteppich und las ihm aus dem Koran vor. Der kleine Junge versuchte das heilige Buch in die Hände zu nehmen, aber es war zu schwer, und er ließ es mit einem dumpfen Knall auf den Boden fallen. Scheich Hamzawi bebte vor Zorn und bückte sich, um den Koran aufzuheben. Er drückte einen Kuß auf beide Seiten des Einbands, dann schlug er dem Jungen auf die Hand und sagte: »Wie kannst du es wagen, Allahs Buch auf den Boden zu werfen, du Kind der Sünde.» Fatheya kam herbeigelaufen, als sie das Kind weinen hörte, und als der Scheich erzählte, was vorgefallen war, sagte sie: »Wie kannst du von ihm verlangen, daß er deine Worte versteht, Scheich Hamzawi?«

Ein anderes Mal war es Mittag und sehr heiß. Scheich Hamzawi saß wie üblich mit dem Koran in den Händen mit gekreuzten Beinen da und las Verse. Schlaf überwältigte ihn, und der Koran fiel in seinen Schoß. Der kleine Junge kroch zu ihm und setzte sich auf den Koran. Gleich darauf wurde der Scheich wach, weil etwas Warmes zwischen seinen Beinen herabtropfte. Erschrocken riß er die Augen auf, denn er glaubte, er hätte sich naß gemacht, und sah das Kind in seinem Schoß auf dem durchnäßten Buch Allahs sitzen. Er raffte sich auf, stieß das Kind weg, trat es mit dem Fuß in die Seite und rief zornig: »Du urinierst über dem heiligen Buch Allahs, du Kind der Unzucht?«

Der Junge wurde blaß und rang einen Moment nach Luft, als würde er ersticken. Dann stieß er einen langen, klagenden Schrei aus, und Fatheya eilte entsetzt herbei.

»Was ist geschehen, Scheich Hamzawi? Was hast du dem Kind getan?« rief sie.

Voller Zorn berichtete er, was geschehen war. Sie nahm das Kind auf den Arm und schrie ihren Mann wütend an:

»Erwartest du von dem Kind, daß es begreift? Wie kannst du ihn mit deinen großen Füßen treten? Allah sei Dank, denn du hättest ihn töten können!«

»Ich wünschte, er wäre tot, dann müßte ich seinetwegen nicht mehr so viel hinnehmen. Ich will nicht länger in dieser Welt leben, wenn diese unselige Kreatur weiter bei uns bleibt. Wie eine Frau bin ich in meinen vier Wänden eingesperrt. Niemand besucht mich mehr, und ich kann niemanden mehr besuchen. Und im Dorf gehen die Leute mir aus dem Weg, um mich nicht grüßen und nicht mit mir reden zu müssen.»

Am Freitag darauf ging Scheich Hamzawi wie immer zur Moschee, um die Gemeinde beim Gebet zu leiten. Als er sich dem Eingang der Moschee näherte, versperrten ihm drei Männer den Weg und wollten ihn nicht hinein lassen. Zornig schrie er sie an: »Ich bin der Scheich der Moschee. Wie könnt ihr es wagen, mich am Betreten der Moschee zu hindern?«

»Du bist nicht mehr der Scheich der Moschee«, antwortete einer der Männer. »Der Bürgermeister hat deine Absetzung angeordnet und einen neuen Scheich ernannt!«

»Niemand außer Allah kann mich am Betreten dieser Moschee hindern«, rief Scheich Hamzawi erzürnt. Dann ging er geradewegs auf die Tür zu. Aber einer der Männer hielt ihn an seinem Kaftan fest und zog ihn zurück, darauf hob er seinen Stock und schlug ihm heftig auf den Kopf. Der Mann fiel zu Boden, und die anderen Männer stürzten sich auf Scheich Hamzawi. Einer schlug ihm mit der Faust so fest auf den Kopf, als hätte er den Teufel oder eine Schlange vor sich. Ein anderer schlug ihn immer wieder ins Gesicht, als wollte er seine Wut an ihm auslassen, sich an ihm für die Schläge rächen, die er als Kind von seinem Vater mit den Worten erhalten hatte: »Allah wird dich in den Flammen der Hölle verbrennen lassen, weil du deinem Vater nicht gehorchst.» Nicht Scheich Hamzawi hatte er vor sich, sondern das Gesicht seines Vaters, und gleich darauf das Gesicht Allahs und die Drohung, die Flammen der Hölle würden seine Haut bis auf den letzten Rest verbrennen, aber die Haut würde immer wieder nachwachsen und immer wieder verbrennen, bis in alle Ewigkeit. Als er Allahs Gesicht vor sich sah, packte ihn starkes Entsetzen, und er schlug umso wütender auf Scheich Hamzawi ein.

Die Dorfbewohner, die sich zum Gebet versammelt hatten, drängten sich herbei, um dem Kampf zuzusehen. Einer wollte Scheich Hamzawi vor den Schlägen schützen, aber er wich vor einer Faust zurück, die ihm beinahe alle Zähne ausgeschlagen hätte. Erbittert trat er den Rückzug an und murmelte: »Da versucht man, einen Streit zu schlichten, und hat nichts als zerrissene Kleider davon.»

Ein Mann flüsterte einem anderen ins Ohr: »Der Bürgermeister hat Scheich Hamzawi von seinem Amt abgesetzt und einen neuen Hauptprediger ernannt. Gehen wir, bevor wir das Gebet versäumen.» Er ging davon, gefolgt von anderen Männern, die sich sagten: »Da die Entscheidung von oben kommt, habe ich kein Recht, mich ihr zu widersetzen.» Andere sagten sich: »Ein Scheich ist wie der andere, wo ist also der Unterschied, ob ich hinter dem einen oder dem anderen bete?«

Nur wenige Männer waren vor der Moschee geblieben. Das Freitagsgebet hatten sie völlig vergessen. Das Spektakel der Schlägerei machte ihnen Spaß, und es war ihnen gleichgültig, wer schlug und wer geschlagen wurde, beides erfüllte sie mit derselben Genugtuung. Es war das eigenartige Vergnügen, das Männer an einem Kampf zwischen zwei Gegnern finden, seien es Männer, Hähne oder Stiere. Manche sind bereit, einen hohen Preis zu zahlen, um einen Kampf beobachten und sich so von den eigenen Konflikten ablenken zu können.

Scheich Hamzawis Turban fiel auf den Boden und wurde von den Vorbeigehenden zertrampelt. Sein Kaftan war zerrissen, und er blutete aus Mund und Nase. Außer sich rief er immer wieder: »Ihr gottlosen Ungläubigen! Ihr kennt Allah nicht! Wie könnt ihr einen Gottesmann schlagen, der Ihm sein Leben lang gedient und sein heiliges Haus gehütet hat?«

Einer der Umstehenden sagte: »Wenn er ein Gottesmann ist, warum kommt Allah ihm dann nicht zu Hilfe, statt zu erlauben, daß er zusammengeschlagen wird?«

»Wer sagt denn, daß er ein Gottesmann ist? Das ist er keineswegs«, bemerkte ein anderer.

Ein dritter Mann machte sich zum Fürsprecher des Scheichs: »Wie willst du wissen, daß er kein Gottesmann ist? Für mich ist er ohne jede Frage ein Gottesmann!«

»Wie willst du dessen so sicher sein? Ich sage, er ist kein Mann Allahs«, erwiderte der zweite Mann grimmig. Und ein anderer griff in die Diskussion ein und schnitt beiden das Wort ab: »Keiner von euch beiden kann sagen, ob er ein Gottesmann ist oder nicht.»

»Wer weiß es also?« fragte einer, der eben noch in den Kampf verwickelt war.

Jemand sagte: »Der Bürgermeister weiß es sicherlich. Der Bürgermeister ist der einzige, der es weiß.»

Es herrschte tiefes Schweigen. Niemand traute sich, ihm zu widersprechen. Nur ein kleiner Junge im Gedrängte piepste: »Wie kann der Bürgermeister es wissen?«, worauf ihm sein Vater schnell eine Hand über den Mund legte und mit heiserer Stimme sagte: »Halt deinen Mund, Junge, wenn erwachsene Männer anwesend sind.»

Aber die Frage des Jungen ging einem der Anwesenden nicht aus dem Kopf. »Könnte es Allah sein, der dem Bürgermeister etwas gesagt hat? Hat Allah zum Bürgermeister gesprochen, wie er zum Propheten Mohammed gesprochen hat? Gott segne ihn und schenke seiner Seele Frieden! Wenn Allah zu den Heiligen gesprochen hat, vielleicht spricht er dann auch zum Bürgermeister, der ein frommer Mann ist.»

Plötzlich rang der Mann nach Luft. Er wußte nicht warum, denn er stand ja nur da und hatte wie die anderen den Kampf beobachtet. Die innere Stimme hatte sich seltsam, fast furchterregend angehört, obwohl sie ihm nur gesagt hatte, daß der Bürgermeister ein frommer Mann war. Doch das Wort »fromm« hatte ihn ihm wie die geheimnisvolle Stimme des Teufels gehallt und sich plötzlich wie »frevelhaft« angehört. Bei dem Gedanken, er könnte den Bürgermeister beleidigt haben, obwohl er nur mit sich selbst gesprochen hatte, überfiel ihn panische Angst. Vielleicht war seine innere Stimme mehr als nur ein Flüstern gewesen, sie war vielleicht lauter gewesen, als er glaubte, vielleicht hatte einer gehört, daß er den Bürgermeister als »frevelhaft« bezeichnet hatte. Er schüttelte den Kopf und machte eine Handbewegung, als wollte er den Teufel verjagen, und sagte leise: »O Allah, ich suche Zuflucht bei dir vor dem unseligen Teufel.»

»Ja, es ist der Teufel«, sagt eine erzürnte Stimme in seiner Nähe. »Wer außer dem Teufel würde unseren frommen Scheich Hamzawi zusammenschlagen?«

»Aber er ist nicht mehr der Scheich unserer Moschee«, bemerkte ein hochgewachsener Mann, einer der wenigen, die noch herumstanden.

»Allah hat mit Menschen wie ihm nichts zu tun«, pflichtete ihm eine andere Stimme bei.

Ein kleiner Mann mit einem freundlichen Gesicht, der bisher kein Wort gesagt hatte, nutzte die plötzliche Stille aus und fragte: »Wie kannst du so etwas sagen, Bruder? Was hat Scheich Hamzawi denn getan?«

»Das weißt du nicht? Lebst du nicht in unserem Dorf? Die Würmer haben unsere Baumwolle vernichtet, und wir haben nichts als Ärger, seit Scheich Hamzawi das Kind der Sünde bei sich aufgenommen hat. Wie können wir zulassen, daß ein Mann, der ein Kind der Sünde und der Unzucht annimmt, unser Vorbeter ist?«

Der hochgewachsene Mann wollte sagen: »Das arme Kind hat doch keine Schuld«, aber als er den Zorn in vielen Augen sah, schluckte er seine Worte hinunter und schwieg. Er erinnerte sich, daß sein Vater immer gesagt hatte, Kinder der Sünde brächten nichts als Unglück. Und er hörte sich mit der Stimme seines Vaters sagen: »Du hast recht, Bruder. Kinder der Sünde bringen nichts als Unglück.» Dann schluckte er noch einmal und ging schnell zu seinem Feld. Eine innere Stimme sagte: »Du bist ein Feigling!«, aber er riß sich zusammen, richtete den Kopf auf, und da hörte sich die Stimme gleich anders an: »Er hat recht, Kinder der Sünde bringen nichts als Unglück mit sich. Warum haben wir denn sonst ein Unglück nach dem anderen, seit Scheich Hamzawi das Kind bei sich aufgenommen hat?«

Scheich Hamzawi ging nach Hause zurück, zu Fatheya. Er blutete, seine Kleidung war verschmutzt und zerrissen, sein Kopf war unbedeckt. Sie erkannte sofort, daß das Leben ihres Kindes jetzt in Gefahr war. Sie verbarg es unter einem Tuch und sagte: »Wir können nicht länger in diesem Dorf bleiben.»

»Wo sollen wir denn hin?« antwortete Scheich Hamzawi mit verzweifelter, erschöpfter Stimme. »Ich will lieber hier sterben als an einem fremden Ort, wo niemand uns helfen wird.»

»Allah wird sich unser annehmen, Hamzawi! Glaubst du, er würde uns unserem Schicksal überlassen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte der Scheich. »Allah scheint mich verlassen zu haben, seit ich diesem Kind Obdach gewährt habe.»

»Wie kannst du nur wiederholen, was die Leute im Dorf sagen?« protestierte Fatheya.

»Warum wundert dich das? Bin ich nicht wie alle anderen? Bin ich kein Mensch? Ich habe nie behauptet, ein Heiliger oder ein Gott zu sein.»

»Was willst du damit sagen, Hamzawi? Wenn du das Kind nicht mehr im Haus haben willst, dann sollst du es morgen bei Sonnenaufgang nicht mehr vorfinden und es nie wiedersehen. Aber ich werde mit ihm fortgehen.»

»Tu was du willst, Fatheya«, antwortete Scheich Hamzawi mit schwacher Stimme. »Ob du mit ihm fortgehst oder hierbleibst, ist jetzt egal. Ich will nichts anderes, als daß mich die Menschen in Ruhe lassen.»

»Ich will dich nicht verlassen«, sagte sie und wischte sich die Tränen ab. »Aber sie werden uns nicht in Ruhe lassen. Sobald in diesem Dorf ein Unglück geschieht, werden sie dieses arme, unschuldige Kind dafür verantwortlich machen. Was hat das Kind mit dem Baumwollwurm zu tun, Hamzawi? Hat das Kind dem Wurm befohlen, die Baumwolle zu fressen? Ein Büffel hat mehr Verstand als die Menschen hier in Kafr El Teen. Und wohin soll ich gehen? Ich kenne keinen anderen Ort als Kafr El Teen.»

Ein paar Tage gingen vorbei, und Fatheya hatte die Fragen vergessen, die sie gestellt hatte. Die Menschen redeten nicht mehr über sie. Sie schienen die ganze Sache vergessen zu haben, oder sie gaben sich mit dem zufrieden, was sie Scheich Hamzawi angetan hatten. Und vielleicht hätten die Menschen tatsächlich vergessen, wenn nicht eines Tages der Wind einen Funken aus dem Ofen, in dem eine Frau Brot backte, fortgetragen hätte, einen winzigen Funken, kaum größer als der Kopf eines Zündhölzchens. Er wäre wahrscheinlich erloschen, wenn er auf der Erde gelandet wäre; aber er landete auf einem Strohdach. Ein kräftiger Windstoß hätte ihn ausblasen können, bevor das Stroh Feuer fing. Aber der Wind hatte sich plötzlich gelegt, und so fing ein Halm Feuer, und als der Wind bald darauf wieder aufkam, griff das Feuer auf das ganze Stroh über, und bald brannten auch die Fladen und die Baumwollstengel auf den Dächern der benachbarten Hütten.

Es dauerte nicht lange, bis die Dorfbewohner das Feuer entdeckten. Die Frauen schlugen die Hände vors Gesicht und jammerten, die Kinder kreischten und verstärkten das Geschrei, und die Männer rannten hin und her und wußten nicht, was sie tun sollten. Der Dorfbarbier schrie sie an: »Bringt Wasser her, ihr dummen Viecher!«, doch als das Wasser herbeigetragen wurde, kam es nie auch nur in die Nähe der Flammen. Die Familien riefen ihre Kinder zusammen, die Büffel und die Esel wurden aus den Ställen geholt und die Ersparnisse eines langen Lebens aus versteckten Winkeln und Spalten in den Wänden.

Der Polizeichef eilte zum Haus des Bürgermeisters, den man vom Feuer benachrichtigt hatte. Nach einiger Zeit kam der rote Feuerwehrwagen mit bimmelnder Glocke angefahren, gefolgt von einer Ambulanz. Die Kinder waren es inzwischen leid, dem Feuer zuzusehen, und interessierten sich mehr für den Feuerwehrwagen mit der langen Leiter, auf der man bis in den Himmel klettern konnte. Kaum war er stehengeblieben, drängten sie sich neugierig um ihn. Schwärme von Fliegen setzten sich auf ihre Gesichter oder flogen in schwarzen Wolken davon. Bevor die Sonne hinter den Baumwipfeln am anderen Ufer untergegangen war, schien in Kafr El Teen wieder Ordnung eingekehrt zu sein. Hier und da stieg Rauchgewölk aus der schwarzen Asche der ausgebrannten Dächer. Ein Baby war am Rauch erstickt, es lag tot auf einer Matte am Eingang einer Hütte, wo es eben noch herumgekrochen war. Ein paar Fensterrahmen waren verkohlt. Die Radspuren des Feuerwehrwagens waren von den Büffeln, Eseln und Bauern bald verwischt, die von ihrer Arbeit auf dem Feld in langen Reihen hintereinander nach Hause zurückkehrten.

Fatheya war hellwach und hielt das Kind fest an sich gedrückt. Sie witterte die drohende Gefahr und lauschte an der Wand, um zu hören, was die Nachbarn sagten. Im tiefsten Innern wußte sie genau, was jetzt geschehen würde. Deshalb war sie nicht überrascht, als sie die Worte hörte: »Wenn Allah sich nicht erbarmt hätte, wäre das ganze Dorf abgebrannt. Seit das Kind der Unzucht und der Sünde in unserem Dorf ist, folgt ein Unglück auf das andere. Es ist Zeit, daß wir etwas unternehmen.»

Ihr Herz klopfte wild unter dem schwachen, fernen Puls des Kindes, das sie in ihr Tuch gehüllt hatte. Vorsichtig öffnete sie die Tür, damit die Nachbarn das Knarren nicht hörten, und eilte auf bloßen Füßen davon. Sie hatte fast den Fluß erreicht, als man sie entdeckte und umzingelte. Eine grimmige Stimme rief: »Wo ist das Kind, Fatheya?«

»Es ist zu Hause und schläft«, sagte sie und preßte den kleinen Körper unter dem Tuch noch fester an sich.

»Du lügst, Fatheya, du hast das Kind bei dir«, sagte die zornige Stimme.

»Nein, ich habe es nicht bei mir.» Ihre Stimme verriet schreckliche Angst, als sie diese Lüge aussprach.

Sie wollte schnell weitergehen, aber eine Hand riß das schwarze Tuch weg, und da lag das Kind und saugte an ihrer Brust. »Er ist mein Sohn, nehmt ihn mir nicht weg«, schrie sie entsetzt auf.

»Er ist ein Kind der Unzucht, und wir sind gottesfürchtige Menschen. Wir hassen die Sünde.»

Eine große, grobe Hand streckte sich ihr im Dunkeln entgegen und wollte ihr das Kind wegnehmen, aber sie schien mit ihm verwachsen zu sein. Andere Hände griffen nach ihr, wollten ihr das Kind von der Brust reißen, doch vergeblich. Sie und das Kind waren eins.

Die Sonne war hinter den Bäumen am anderen Ufer untergegangen. Die Nacht senkte sich wie ein schwerer, stummer Schatten über die Häuser von Kafr El Teen, kein Laut war zu hören, als wäre alles Leben plötzlich erloschen. Die Männer oben an der Böschung bewegten sich wie dunkle Geister oder Gespenster, die aus den tiefen Wassern des Nils aufgestiegen waren. Sie zerrissen Fatheyas Gewand, als sie um ihr Kind kämpfte, und ihr nackter, heller Körper leuchtete in der mondhellen Nacht wie der Leib einer unheimlichen Meerjungfrau. Ihr Gesicht war so weiß wie ihr Körper, und in ihren Augen war eine merkwürdige, fast wahnsinnige Entschlossenheit. Sie war weich und rund und weiblich, und sie war ein wildes Tier, das seine nächtlichen Angreifer grimmig bekämpfte. Sie setzte sich mit Beinen und Füßen zur Wehr, mit ihren Schultern und ihren Hüften, und hielt dabei das Kind fest in den Armen.

Von allen Seiten drangen Hände auf sie ein, große, grobe Hände mit schwieligen Fingern, deren lange, schmutzige Nägel sich wie schwarze Büffelhufe in ihre Brust gruben und sie zerfleischten. Unbefriedigte Lust glitzerte in den Augen der Männer, als sie über sie herfielen, als würden sie sich rasend vor Hunger auf ein geröstetes Lamm stürzen, um so viel wie möglich zu verschlingen aus Angst, der Nachbar könnte schneller sein. Wie Raubtierkrallen waren ihre Hände, und in ihren Augen flackerte ein uralter Rachedurst, ein ungestümes Verlangen. In kurzer Zeit war Fatheyas Leib zerfleischt, und die Erde färbte sich rot mit ihrem Blut.

Und dann versank das Ufer wieder wie in jeder Nacht in der schweren, stillen Dunkelheit, die über allem lastete, über dem Wasser des Nils, über den weiten, ausgedehnten Feldern längs des Flusses, über den dunklen Lehmhütten und den mit Dung verstopften Wegen. Die Männer von Kafr El Teen waren in ihre Hütten zurückgekehrt, sie schliefen auf der Erde neben ihrem Vieh und ihren Frauen; leblose, fühllose Körper. Alle Männer bis auf Scheich Hamzawi, der in dieser Nacht kein Auge zumachte und sich nicht einmal zum Schlafen hingelegt hatte. Er lauschte an der Wand, bis alle Geräusche verstummt waren und sich tiefe Stille über das Dorf gesenkt hatte, Todesstille. Dann erhob er sich, ging zur Haustür und öffnete sie langsam mit der Schulter, damit sie nicht knarrte. Er ging auf die Straße hinaus und suchte den Weg mit dem Stock, mit dessen Hilfe er nicht über Steine, Ziegel oder eine tote Katze stolperte.

So ging er mit schleppenden Schritten voran, bis sein Stock gegen etwas stieß, das sich nicht wie ein Stein, wie ein Ziegel oder ein totes Tier anfühlte, sondern wie etwas Warmes, Lebendiges. Er blieb stehen, reglos, nicht einmal die Gebetskette in seiner Hand bewegte sich.

Und er sah den Körper seiner Frau, die nackt am Ufer lag.

Fatheya stöhnte leise, ihre Brust hob und senkte sich noch, ihr Atem ging langsam und unregelmäßig.

Er setzte sich neben sie auf die Erde und ergriff ihre Hand. »Fatheya, Fatheya, ich bin es, Hamzawi«, flüsterte er.

Sie blickte ihn aus blutunterlaufenen Augen an, ihre Lippen teilten sich, als wollte sie etwas sagen, aber es kam kein Laut über sie. Er sah, wie jemand näherkam, zog seinen Kaftan aus und bedeckte ihren nackten Körper. Als der Mann neben ihm stand, erkannte er Scheich Metwalli und sagte schnell: »Sie liegt in den letzten Zügen. Hilf mir, sie nach Hause zu tragen, damit sie in ihrem Bett sterben kann.»

Scheich Metwalli bückte sich sofort, um ihren blutenden Körper aufzuheben. Aber bevor sie dazu kamen, schlug sie wieder die Augen auf und sah sich suchend um.

»Sie sucht etwas«, sagte Scheich Metwalli leise.

»Sie hat das Bewußtsein verloren. Tragen wir sie nach Hause«, flüsterte der alte Mann und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Doch als sie sie wieder hochheben wollten, schien Fatheyas Körper am Boden zu kleben. Sie versuchten es immer wieder, und jedes Mal öffnete sie die Augen und blickte sich suchend um.

»Sie läßt sich nicht bewegen. Ich bin sicher, daß sie etwas sucht«, sagte Scheich Metwalli und sah forschend in die Dunkelheit. Plötzlich blieb sein Blick an etwas Dunklem hängen, das nicht weit entfernt am Ufer lag. Er ging, hob es auf und kam mit dem zerschundenen Körper des Kindes zurück. Scheich Metwalli legte ihn vorsichtig auf ihre Brust. Sie drückte ihn an sich und schloß die Augen. Sie hoben sie hoch, und jetzt war ihr Körper leicht, und sie konnten ihn mühelos tragen.

Sie brachten sie ins Haus, und am nächsten Morgen beerdigten sie sie mit dem Kind in den Armen. Scheich Hamzawi hatte ein Leichentuch aus grüner Seide gekauft, in das sie sie sorgfältig einhüllten. Sie schaufelten ein Grab, ließen sie langsam hineingleiten, dann schütteten sie die Erde darüber. Scheich Metwalli wischte sich den Schweiß von der Stirn und merkte, daß seine Augen tränenfeucht waren. Das war ihm noch nie geschehen, zumindest konnte er sich nicht erinnern, jemals geweint zu haben, ausgenommen vielleicht als Kind.

Nur Allah und Scheich Metwalli wußten, daß Fatheyas Leiche und ihr Leichentuch unberührt und unbefleckt im Grab blieben.