38261.fb2 Gott stirbt am Nil - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 4

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IV

Kurz bevor der erste Hahnenschrei durch die dunkle Stille drang, schlug Fatheya die Augen auf. Vielleicht waren ihre Augen bereits einige Zeit offen und sie hatte es nur nicht bemerkt. Ihr Ehemann lag mit offenem Mund auf dem Rücken und schnarchte laut und heftig. Sein Atem roch stark nach Tabak, und in seiner Brust war ein Pfeifen, als hätte sich über Nacht viel Schleim in ihr angesammelt.

Sie stieß ihn mit der Faust leicht an die Schulter, um ihn zu wecken, aber er drehte ihr den Rücken zu und murmelte in seinem Schlaf unverständlich vor sich hin. Wieder zerriß ein Hahnenschrei die Stille. Jetzt kniff sie ihn fest in die Schulter.

»Scheich Hamzawi, der Hahn ist aufgewacht und hat zum Gebet gerufen, und du schnarchst noch immer«, sagte sie gereizt.

Scheich Hamzawi öffnete die Augen und preßte die Lippen fest zusammen, denn er hatte beschlossen, auf ihre verbalen und handgreiflichen Attacken, die bereits am frühen Morgen einsetzten, nicht mehr zu reagieren. Wortlos stand er auf. Seine Frau Fatheya war anders als seine früheren Frauen, von denen keine gewagt hätte, ihm direkt ins Gesicht zu sehen und etwas Ungehöriges zu ihm zu sagen oder ihn mit anderen Männern in Kafr El Teen zu vergleichen, geschweige denn mit einem Hahn, der vor wenigen Augenblicken gekräht hatte und ihrer unverschämten Anspielung zufolge besser war als er.

Aber jetzt war es ihm gleichgültig, wie sie sich benahm, selbst wenn sie so weit ging und ihn mit einem Hahn auf eine Stufe stellte. Wichtig war allein, daß es ihm gelungen war, sie gegen ihren Willen zu heiraten, und daß er sie gezwungen hatte, die ganzen Jahre mit ihm zu leben, obwohl Haj Ismails Mixturen und Amulette für die Wiederherstellung oder zeitweilige Belebung seiner Männlichkeit ohne jede Wirkung geblieben waren.

Er hatte sie zum ersten Mal gesehen, als er wie gewöhnlich vor Haj Ismails Geschäft saß. Er beobachtete ihren biegsamen Körper, als sie mit einem Tonkrug auf dem Kopf am Ufer entlangging. Er wandte sich an Haj Ismail und fragte: »Wer ist das Mädchen da drüben?«

»Das ist Fatheya, die Tochter von Masoud.«

»Ihr Vater ist also ein armer Mann und wäre sicher froh, wenn er mich in seine Familie aufnehmen könnte.«

»Soll das heißen, daß du sie heiraten willst, Scheich Hamzawi?«

»Warum nicht? Ich bin dreimal verheiratet gewesen und habe immer noch keinen Sohn. Ich muß einen Sohn bekommen, bevor ich sterbe.«

»Aber sie ist so jung, daß sie deine Enkelin sein könnte«, sagte Haj Ismail. »Und woher willst du wissen, ob sie nicht wie deine ehemaligen Frauen kinderlos bleiben wird?«

Scheich Hamzawi senkte den Kopf und schwieg, und die Perlen seiner Gebetskette liefen wie aus eigenem Antrieb durch seine Finger. Haj Ismail warf ihm ein verständnisvolles Lächeln zu. Dann lachte er laut auf und sagte: »Es sieht so aus, als hätte das Mädchen dir den Kopf verdreht, Scheich Hamzawi.«

Der Scheich lächelte still vor sich hin und sah den Dorfbarbier mit glänzenden Augen an. »Es stimmt, daß ihr Anblick meine Sinne belebt. Ich habe immer Frauen wie sie gemocht.«

»Fraulich ist sie durchaus. Ihre Augen brennen vor Verlangen. Aber glaubst du, daß du sie in Schach halten kannst, Scheich Hamzawi? Glaubst du, daß ein Mann in deinem Alter mit ihr fertig wird?«

»Ich kann nicht nur sie zufriedenstellen, sondern wenn notwendig auch ihren Vater«, erwiderte der Scheich. »Bei einem Mann zählt nur, was er in der Tasche hat.«

»Und was wirst du tun, wenn die Jahre vergehen und sie dir keinen Sohn schenkt?« forschte Haj Ismail.

»Allah ist groß, Haj Ismail. Ich habe schwere Zeiten durchgemacht, aber sie werden bald vorbei sein. Gott wird mir seinen Geist einhauchen und mir Kraft geben.«

Haj Ismail lachte laut. »So etwas kannst du den anderen erzählen, aber nicht mir, Scheich Hamzawi. Du hörst nicht auf, dich über deinen Zustand zu beklagen. Wie soll Allah dir Kraft geben? Willst du damit sagen, daß Gott…«

Scheich Hamzawi fiel ihm schnell ins Wort. »Allah kann tote Knochen mit Leben erfüllen, Haj Ismail. Und du selbst hast mir gesagt, daß ich geheilt werden kann.«

»Aber du hast nicht auf meinen Rat gehört und dich nicht an die Behandlung gehalten, die ich dir verschrieben habe. Du tust, was die Ärzte sagen, und bezahlst ihre teuren Medikamente. Dabei habe ich dir gesagt, daß die Ärzte nichts wissen und ihre Rezepte nichts nützen. Aber du wolltest mir nicht glauben. Und was hast du nun davon? Du hast dein Geld verschwendet und bist nicht einen Schritt weiter gekommen. Widersprich mir, wenn ich mich irre.«

»Ja, ja, Haj Ismail, aber wenn man lernen will, muß man einen hohen Preis zahlen. Jetzt weiß ich, daß alle Ärzte Ignoranten und Betrüger sind und du der einzige wirkliche Arzt im Dorf bist. Von heute an lasse ich mich nur noch von dir behandeln. Aber du mußt mir helfen, Masouds Tochter Fatheya zu heiraten. Wenn du das tust, wird Allah dich großzügig belohnen, weil du dem Mann, der die heilige Moschee hütet und Gottes Lehren in diesem Dorf verbreitet, einen großen Dienst erwiesen hast.«

Haj Ismail lachte laut auf. »Meine Kinder und ich wären längst verhungert, wenn wir auf Allahs Belohnung gewartet hätten.«

»Natürlich werde ich dich bezahlen, und zwar ansehnlich, du kennst mich doch«, antwortete Scheich Hamzawi schnell.

»Ich weiß, daß du ein großzügiger Mann bist und aus einer großzügigen Familie kommst. Wichtiger ist jedoch, daß du der Mann in unserem Dorf bist, der den Glauben verteidigt und unsere Tugend bewacht. Deshalb mußt du dich in Allahs Hände geben. Ich werde mich der Sache annehmen, darauf kannst du dich verlassen. Aber du mußt tun, was ich dir gesagt habe, und ständig warmes Wasser, Salz und Zitrone anwenden. Verbrenne jede Nacht dein Räucherwerk, so daß am Morgen nichts mehr übrig ist, und danach nimm die Gebetskette in die Hand und sprich Allah neunundneunzig mal deinen Dank aus. Danach verfluche deine erste Frau dreiunddreißig mal, denn warst du nicht ausgesprochen potent, als du sie geheiratet hast?«

Scheich Hamzawis Stimme klang verzweifelt: »Ich war stark wie ein Pferd.«

»Es ist ihr gelungen, dich zu behexen, und ich weiß, wer ihr das Amulett gemacht hat. Der Mann ist nicht aus Kafr El Teen, aber ich kenne das Geheimnis seines Zaubers und weiß, wie ich ihn zerstören kann. Am wichtigsten ist jetzt, daß du meinen Rat befolgst, dann wird Allah dir seinen Segen erteilen.«

Scheich Hamzawi fragte mit kaum hörbarer Stimme: »Wann werde ich die Hochzeitsnacht mit Fatheya verbringen?«

»Bald, sehr bald, wenn Allah so will.«

»Und was muß ich tun, um einen Sohn zu bekommen, Haj Ismail? Ist das wirklich unmöglich?«

»Nichts ist unmöglich, wenn es Allahs Wille ist. Du bist ein Gottesmann und solltest das wissen. Wie kannst du vergessen, daß Allah allmächtig ist?«

Scheich Hamzawi ließ seine Gebetskette durch seine Finger gleiten und stöhnte: »Sein Name sei gepriesen. Sein Name sei gepriesen.«

Scheich Hamzawi stützte sich mit der Hand an der Wand ab und erhob sich langsam. Die Gebetskette schwang hin und her, als er wiederholte: »Sein Name sei gepriesen.« Er zog seinen Kaftan an und die jiba darüber und setzte sich den Turban auf den Kopf, wobei er ununterbrochen vor sich hin murmelte. Sein magerer Körper schien sich unter einer schweren Last zu beugen, als er zur Haustür schlurfte. Er hörte, wie Fatheya leise stöhnte. Er wußte nicht, was in der letzten Zeit mit ihr los war. Sie hatte sich verändert, sie geriet nicht einmal mehr in Wut über ihn und blieb den ganzen Tag im Bett liegen. Sie bestand nicht länger darauf, ihre Tante zu besuchen, vielleicht, weil es ihn jedes Mal rasend machte und er versuchte, sie am Verlassen des Hauses zu hindern. Die Frau von Scheich Hamzawi, hatte er ihrem Vater erklärt, habe sich anders zu verhalten als die Frauen anderer Männer. Ihr Ehemann habe die Aufgabe, Allahs Lehren zu verbreiten und die Tugend und Frömmigkeit der Dorfgemeinde zu schützen. Die Frau eines solchen Mannes dürfe nicht von jedermann gesehen werden. Bis auf Gesicht und Hände müsse ihr Körper sogar vor den nächsten Verwandten verborgen bleiben. Sie habe in seinem Haus zu leben, wo ihr die Fürsorge und der Respekt entgegengebracht würden, wie sie es verdiente, und sie dürfe nur zweimal gesehen werden: am Tag, an dem sie aus dem Haus des Vaters in das Haus ihres Mannes überwechselte, sowie an dem Tag, an dem sie das Haus ihres Mannes gegen ein Grab auf dem Friedhof eintauschen würde. Ansonsten…

Der Vater hatte in frommem Einverständnis mit dem Kopf genickt und gesagt: »Scheich Hamzawi, kein Mann wird mehr geachtet und geschätzt als du«, und dann gab er seine Einwilligung.

Aber Fatheya hatte auf dem Ofen Zuflucht gesucht und gab keine Antwort, trotz aller Versuche, sie zur Vernunft zu bringen.

»Gott wird dich vor der sengenden Sonne auf dem Feld bewahren, vor Schmutz und Dung, vor den Mahlzeiten aus trockenem Brot und Salzgurken. Statt dessen wirst du die Tage damit verbringen, im Schatten zu ruhen und Weißbrot und Fleisch zu essen. Du wirst die Frau von Scheich Hamzawi sein, der sein Leben der Anbetung Gottes und seinen Aufgaben in der Moschee geweiht hat, der die Gemeinde beim Gebet leitet und ein frommes Leben führt«, sagte Haj Ismail laut, damit alle Menschen in der Nachbarschaft hörten, was vor sich ging.

Aber Fatheya war in ihrem Versteck geblieben und wollte nicht antworten.

Haj Ismail hatte sich zu ihrem Vater umgedreht und ihn wutentbrannt gefragt: »Und was tun wir jetzt, Masoud?«

»Du siehst doch selbst, Haj Ismail, daß das Mädchen nicht will.«

»Soll das heißen, daß in deinem Haus das Mädchen entscheidet, was getan wird?«

»Was soll ich denn tun?«

»Was du tun sollst?« hatte Haj Ismail zornig gerufen. »Ist das eine Frage für einen Mann? Schlag sie, Bruder, schlag sie einmal, zweimal, dreimal. Weißt du nicht, daß man Mädchen und Frauen nur mit einer guten Tracht Prügel einsichtig machen kann?«

Masoud hatte einen Augenblick geschwiegen und dann gerufen: »Fatheya, komm sofort herunter.«

Als die Antwort ausblieb, war er auf den Ofen gestiegen, hatte sie an den Haaren hervorgezogen und so lange geschlagen, bis sie herunterkam. Darin hatte er sie Haj Ismail übergeben, und noch am selben Tag wurde sie mit dem frommen, alten Scheich verheiratet.

Scheich Hamzawi umklammerte seinen Stock und öffnete die Haustür. Fatheya lauschte angestrengt auf das Tappen seines Stocks auf der anderen Seite der Wand. Wie gut sie dieses Tappen kannte! Seit ihrer Hochzeitsnacht dröhnte es ihr in den Ohren. Es ist durch das große grobe Tuch in ihren Körper und ihren Kopf gedrungen, als sie auf dem Esel zum Haus von Scheich Hamzawi ritt. Ihr Vater hatte eine neue galabeya an, und die daya Om Saber, die Hebamme des Dorfes, trug ein langes schwarzes Kleid. Sie konnte die alte Frau nicht sehen, weil das Tuch um ihren ganzen Kopf gewickelt war. Sie sah überhaupt nichts, aber sie spürte den brennenden Schmerz zwischen ihren Beinen, ausgelöst durch den Finger der daya, der in sie eingedrungen war, worauf das Blut warm und klebrig aus ihr floß. Das weiße, blutbefleckte Handtuch und die Wunde, die der Fingernagel der Frau zurückgelassen hatte, sah sie nicht. Aber sie spürte, daß ihr Jungfernhäutchen zerrissen war, und in ihren Ohren dröhnten die Trommelschläge, die Freudenschreie und die hohen, schrillen Stimmen der Frauen.

Sie fuhr mit der Hand unter den Schleier und wischte sich den Schweiß vom Gesicht, aber er floß unaufhörlich von den Haarwurzeln über ihren Nacken, ihre Brust und ihren Rücken. Die rauhe Decke, auf der sie saß, wurde immer feuchter. Mit jedem Schritt, mit jedem Trommelschlag hob und senkte sich der Rücken des Esels und rieb gegen ihre Wunde, und das tat so weh, daß sie jedesmal den Mund zu einem stummen Schrei öffnete.

Die warmen Blutstropfen vermischten sich mit dem Schweiß, der über ihren Körper rann, und die rauhe Decke zwischen ihren Beinen war vollkommen durchnäßt.

Als sie vor dem Haus des frommen und gottesfürchtigen Mannes ankamen, der jetzt ihr Ehemann war, wurde sie vom Esel gehoben, aber ihre Beine versagten, sie fiel den Umstehenden in die Arme und wurde wie ein Sack ins Haus getragen.

Als sie die feuchte, abgestandene Luft roch, wußte sie, daß sie jetzt nicht mehr im Freien, sondern im Haus war. Und weil sie überzeugt war, daß Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit einen angenehmen Geruch hatten, machte sie ihre Nase dafür verantwortlich, daß es so stank wie in einer Latrine. Sie wußte nicht, was mit ihr nicht stimmte, aber seit ihrer Kindheit hatte sie das Gefühl, daß sie etwas Unreines an sich hatte, daß ihr Körper irgendwie unsauber und schlecht war. Eines Tages war Om Saber ins Haus gekommen, und man sagte ihr, die alte Frau würde das Schlechte, Unsaubere aus ihr herausschneiden. Das hatte ein überwältigendes Glücksgefühl in ihr ausgelöst. Damals war sie erst sechs Jahre alt gewesen.

Om Saber tat, was von ihr erwartet wurde, und ließ sie mit einer kleinen Wunde zwischen den Beinen zurück, die tagelang blutete. Doch obwohl sie bald verheilte, war an ihrem Körper etwas Unreines geblieben. Sobald sie ihre Tage hatte, sahen die Menschen sie mit anderen Augen an, als wäre etwas Verdorbenes oder Schlechtes an ihr.

Später, als sie mit Scheich Hamzawi verheiratet war, mied auch er sie, wenn sie ihre Tage hatte, und behandelte sie wie eine Aussätzige. Wenn er aus Versehen ihre Schulter oder ihren Arm berührt hatte, flehte er Allah an, er möge ihn vor dem Teufel schützen. Dann ging er zur Toilette, wusch sich fünfmal hintereinander und wiederholte seine rituellen Waschungen, falls er sie bereits verrichtet hatte. Auch durfte sie dann weder den Koran lesen noch zuhören, wenn er aus ihm vorlas. Wenn ihre Periode vorbei war und sie ein Bad genommen und sich gründlich gewaschen hatte, durfte sie wieder beten und Verse aus dem Koran rezitieren.

Jeden Abend, bevor sie zu Bett ging, verlangte Scheich Hamzawi, daß sie sich ihm gegenüber auf den Teppich setzte, und unterrichtete sie im Gebet. Sie verstand oft nicht, was er sagte, denn er rezitierte schwierige Wörter, und sie bat ihn immer wieder, ihr den Sinn zu erklären. Er antwortete immer grob und entmutigend, Allahs Sprüche und das Ritualgebet müßten auswendig gelernt und nicht mit dem Kopf verstanden werden. Also bemühte sich Fatheya, sie auswendig zu lernen, und Scheich Hamzawis Anweisungen gingen ihr nicht aus dem Kopf:

»Das Gebet ist bis in die kleinsten Körperbewegungen festgelegt: Knien, Beugung des Oberkörpers, Wiederaufrichtung, Niederwerfung, in hockender Stellung das Glaubensbekenntnis rezitieren. Darüber hinaus müssen andere Bedingungen erfüllt sein. Der Körper des Mannes muß von der Taille bis zu den Waden bedeckt sein. Der Körper der Frau muß bis auf Gesicht und Hände vollkommen verhüllt sein. Zu Beginn des Gebets mußt du aufrecht stehen und den Blick geradeaus richten. Die Männer müssen die Hände vor dem Gesicht zusammenlegen, während sie Allah den Allmächtigen preisen. Die Frauen müssen ihre Hände in Schulterhöhe halten. Dann legen die Männer die rechte auf die linke Hand und beide auf den Bauch. Die Frauen legen ihre Hände auf die Brust. Beim Knien wiederhole dreimal: ›Ich preise dich, allmächtiger Gott.‹ Beim Niederwerfen wiederhole dreimal: ›Ich preise dich, du höchster Gott.‹ Dein Gebet ist ungültig, wenn du Sätze sagst, die nicht zum Gebet gehören, wenn du lachst oder dich nach den Waschungen auf irgendeine Weise verunreinigst, besonders wenn du einen Wind fahren läßt.«

So saß Fatheya Abend für Abend auf dem Gebetsteppich und wiederholte dasselbe Ritual. Sie rezitierte die heiligen Verse aus dem Koran. Oft wurden ihre Augenlider schwer, und sie schlief im Knien ein. Allahs Worte hallten in ihren Ohren wider, und Scheich Hamzawis Hand schob sich zwischen ihre Schenkel. Sie überließ sich dem Schlaf, wie sie sich ihrem Mann überließ, sie breitete die Beine aus und fiel während des Gebets zu Gott in eine tiefe Ohnmacht.

Fatheya lauschte an der Wand und verfolgte das Tappen des Stocks von Scheich Hamzawi, als dieser auf die Straße trat. Sie hörte sofort, wenn sein Fuß gegen etwas stieß. Er sah schlecht, und sein Stock oder sein Fuß schienen immer mit irgend etwas zusammenzustoßen oder über etwas zu stolpern, über ein totes Kaninchen, eine tote Katze oder einen Stein, die er mit seinem Stock aus dem Weg räumte. Manchmal verfing sich sein Fuß in seinem Kaftan, wenn er über die Schwelle seines Hauses trat, und dann stolperte er oder er rutschte auf Dung aus oder auf Kot, den ein Hund in der Nacht vor seiner Haustür gelassen hatte. Dann schwang er wütend die Gebetskette in seiner Hand und verfluchte Hunde und Menschen gleichermaßen.

Doch es war weder ein totes Kaninchen noch eine tote Katze, gegen die sein Fuß jetzt stieß. Es war etwas Lebendiges, und viel größer. Der Gedanke, es könnte ein Geist oder ein Alp sein, erschreckte ihn. Doch da hörte er ein leises Stöhnen, und als er zum Boden schaute, erkannte er trotz seiner schlechten Augen ein rosiges Gesicht mit Tränen in den Augen und einem Mund, der zitternd Luft holte.

Einen Moment blieb er stocksteif stehen und wagte sich nicht zu rühren. War es möglich, daß Allah seine Gebete erhört hatte? Hatte Haj Ismails Amulett endlich seine magische Wirkung erzielt? Dieses Kind schien vom Nachthimmel direkt vor seine Tür gefallen zu sein, so wie Jesus der Jungfrau Maria in den Schoß gefallen war, während sie unter einem Baum ruhte.

Ein ersticktes Schluchzen kam über seine Lippen. Nichts ging über Allahs Macht, und er pries seinen Namen und rief den Himmel an. Das fahle Morgenlicht unterstrich sein langes, schmales Gesicht, das jetzt noch länger wirkte als sonst. Sein Blick war leicht verhangen, und über einem Auge leuchtete geheimnisvoll ein weißer Punkt. Seine Gebetskette, deren gelbe Perlen vom ständigen Reiben abgegriffen waren, denn sie hatte im Laufe seines langen, gottesfürchtigen Lebens nie stillgestanden, ruhte jetzt in seiner Hand, was sonst nur vorkam, wenn er schlief.

Genau in diesem Moment hatte der Polizeichef seine Nachtpatrouille beendet und kam auf seinem Nachhauseweg an Scheich Hamzawi vorbei, der reglos vor seiner Haustür stand. Er hatte ihn noch nie so dastehen sehen, und nie hatte sein Gesicht so verzerrt ausgesehen. Er schien zwei Gesichter zu haben. Das obere war das Gesicht von Scheich Hamzawi, das untere war weder ihm noch sonst jemandem ähnlich, dem er je in Kafr El Teen oder sonstwo begegnet war, wenn er auch nicht weit über Kafr El Teen hinausgekommen war. Dieses Gesicht gehörte weder einem Menschen noch einem Geist, aber vielleicht war es das Gesicht des Teufels oder eines Heiligen, vielleicht sogar das Gesicht Gottes, wenn er ihn auch nie gesehen hatte.

Plötzlich blieb er wie versteinert stehen und konnte den Blick von dieser seltsamen, geisterhaften Gestalt nicht abwenden. Er hatte eine solche Gestalt noch nie gesehen, denn sie hatte nichts mit einem Menschen, einem Heiligen oder irgendeiner anderen Kreatur Gottes gemein. Sie bückte sich und hob etwas vom Boden auf. Er reagierte instinktiv wie ein Polizist und verstärkte den Griff um den Knüppel in seiner Hand. Und er wollte ihn gerade hochschwingen und auf den gebeugten Kopf fallen lassen, als er ein rosiges Gesicht mit Tränen in den Augen sah und die Stimme von Scheich Hamzawi erkannte: »Wahrlich, ohne Gott sind wir unglücklich, denn ohne ihn sind wir hilflos.«

»Was ist das, Scheich Hamzawi?« rief der Polizeichef mit lauter Stimme.

»Ein Engel vom Himmel«, flüsterte der Scheich.

»Und könnte es nicht der Teufel oder der Sohn des Teufels sein?« fragte der Polizeichef.

Scheich Hamzawi, der die Situation noch nicht ganz erfaßt hatte, antwortete: »Es ist ein Geschenk Allahs.«

Er hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, als Fatheya bereits den Kopf durch die Tür gesteckt hatte: »Sag nicht, was du sagen willst, Scheich Zahran«, rief sie zornig. »Es ist ein Geschenk, ein Segen Allahs. Nur was sündig ist, soll verdammt sein.«

Sie streckte die Arme aus und entriß Scheich Hamzawi das Kind. Er hatte sich noch nicht von der Stelle gerührt und schien nicht zu begreifen, was vor sich ging. Sie drückte das Kind fest an sich und schloß die Tür. Blut strömte in ihre Brüste, sie prickelten, als würden winzige Ameisen in ihr Fleisch eindringen. Sie holte eine Brust hervor und drückte an der Warze, und weiße Milchtropfen spritzten heraus. Sie hüllte das Kind vorsichtig in ihr Tuch, dann steckte sie die Warze in seinen gierigen Mund.