38261.fb2 Gott stirbt am Nil - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 5

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V

Scheich Hamzawis Stimme hallte durch die Luft, als sich der kaum wahrnehmbare Morgenschimmer über dem Himmel ausbreitete. Sie schwebte über den niedrigen Lehmhütten, bohrte sich durch die dunklen Wände, fiel hinab in die engen, gewundenen Gassen und drang an das Ohr des Polizeichefs, der jetzt zu Hause war. Er hatte seine Uniform nicht ausgezogen, wie er es sonst tat, wenn er von der langen Nachtpatrouille zurückkam. Auch befahl er seiner Frau nicht, ihm das Essen zu bringen. Er zog nicht einmal seine Lederstiefel aus, die er sonst immer in eine Zimmerecke schleuderte, als wollte er seine Füße von schweren Fesseln befreien.

Er lehnte sich auf der Matte zurück, seine Augen waren geöffnet und starrten ins Leere, seine Stiefel waren fest verschnürt. Er zwirbelte seinen langen, dichten Bart, wie es seine Gewohnheit war, wenn er eine Leiche in einem Feld oder am Flußufer fand und noch nicht wußte, wer der Mörder war, oder wenn hinter seinem Rücken ein Verbrechen begangen worden war, ohne daß er von Anfang an gewußt hatte, wie der Plan dazu entstanden war.

Als Scheich Hamzawis Stimme durch das Dorf an seine Ohren drang, drehte er den Kopf zur Seite und sah seine Frau an. Er wollte ihr gerade erzählen, daß in der Nacht etwas Wichtiges in Kafr El Teen vorgefallen war, aber seine Frau war schneller: »Kafrawis Tochter Nefissa ist weggelaufen«, sagte sie schnell, fast atemlos, und ihre Handbewegung war so heftig wie die Bewegung, mit der ihr Mann sonst seine schweren Stiefel von sich schleuderte. Die Nachricht hatte ihr eine Nachbarin am Abend zuvor zugeflüstert. Sie hatte sich während der langen Stunden der Nacht in ihrem Bett hin und her geworfen. Die Nachricht bedrückte sie und bereitete ihr gleichzeitig heimliche Freude, und so wollte sie auch ihrem Mann die erregende Nachricht von Nefissas Flucht mitteilen, bevor er sie von jemand anderem erfuhr.

Nefissas Name hallte sonderbar in Scheich Zahrans Ohren wider. Vor seinen Augen tauchte ein kleines rosiges Gesicht mit noch feuchten Tränenspuren auf. Als sich die Augen plötzlich geöffnet hatten, waren es Nefissas große schwarze Augen. Seine Finger ließen von seinem Bart ab, und er rang nach Luft wie ein Ertrinkender, dessen Kopf über dem Wasser auftaucht. Laut rief er: »Nefissa?«

»Ja, Nefissa«, sagte sie.

Fatheya kauerte an der Wand und drückte das Baby fest an sich. Sie hatte seinen Kopf in ihr schwarzes Tuch gehüllt, und es saugte an ihrer Brust. Wenn sie nicht an der Wand gelauscht hätte, hätte sie wahrscheinlich nicht gehört, wie der Name Nefissa in ihr vibrierte. Sie atmete erleichtert auf wie eine Ertrinkende, die unverhofft an die Wasseroberfläche gelangt.

»Nefissa?«

Der Name Nefissa hallte durch die dunklen Räume, bohrte sich durch die Lehmwände, schwang sich über die niedrigen, schiefen Dächer, auf denen Fladen aus Dung und getrocknete Baumwollstengel lagen, immer höher in die Lüfte, höher als das Minarett und der Halbmond an seiner Spitze. Und es dauerte nicht lange, bis er an die hohe Backsteinmauer und an das Eisentor vor dem Haus des Bürgermeisters kam, in dessen Ohren der Name Nefissa so stark nachhallte wie der Aufruf zum Gebet, den Scheich Hamzawi fünfmal am Tag vom höchsten Punkt des Dorfes, das wie ein Schwamm am Nilufer lag, an die Einwohner von Kafr El Teen richtete.

Neben dem Bürgermeister saß sein jüngster Sohn Tariq. Er besuchte seit kurzem ein College und verbrachte seine Ferien im Dorf. Als er hörte, was Nefissa widerfahren war, leuchteten die Augen des knapp Neunzehnjährigen auf, wie immer, wenn er sich den Körper einer Frau vorstellte und sich mit Bildern und Wörtern behalf, wenn ihm die Handlung selbst verboten war. »In der vergangenen Woche haben wir im College ein Neugeborenes in der Toilette gefunden«, sagte er mit belegter Stimme. »Und vor zwei Wochen haben wir ein Pärchen überrascht, wie es sich in einem leeren Vorlesungsraum küßte. Und jetzt bringt hier in Kafr El Teen ein Mädchen ein Kind zur Welt, setzt es vor dem Haus des Predigers aus und läuft davon. Heutzutage haben die Mädchen keinen Anstand mehr, Vater.«

»Ja, mein Sohn, du hast recht«, antwortete der Bürgermeister. »Die Mädchen und die Frauen sind unmoralisch geworden.« Dabei warf er einen verstohlenen Blick auf die nackten Schenkel seiner Frau, die sich unter ihrem enganliegenden Kleid abzeichneten. Sie schlug die Beine übereinander und konnte ihre Empörung kaum unterdrücken: »Warum sagt ihr nicht, daß die Männer unmoralisch sind?«

Der Bürgermeister lachte. »Das ist doch nichts Neues. Männer sind seit jeher unmoralisch. Aber jetzt werfen die Frauen ihre Tugend über Bord, und das führt zu einer richtigen Katastrophe.«

»Warum zu einer Katastrophe? Warum nicht zu Gleichheit und Gerechtigkeit?«

Ihr Sohn schüttelte seine langen Locken und sah seine Mutter mißbilligend an.

»Nein, Mutter, ich teile deine Ansicht über die Gleichheit nicht. Frauen sind anders als Männer. Ihr wertvollster Besitz ist ihre Tugend.«

Die Frau des Bürgermeisters stieß ein Lachen aus, das sich wie das leicht verächtliche und ordinäre Lachen einer Bordellchefin anhörte. Sie runzelte die Stirn und sagte: »Tatsächlich, Professor Tariq? Du gibst dich also wie ein Scheich und sprichst von Tugend? Und was war mit deiner Tugend in der vergangenen Woche, als du zehn Pfund aus meiner Handtasche gestohlen hast, um eine bestimmte Frau aufzusuchen? Was war mit deiner Tugend im letzten Jahr, als du unserem Dienstmädchen Gewalt angetan hast und ich gezwungen war, sie zu entlassen, um einen Skandal zu vermeiden? Und wo bleibt deine Tugend, wenn du über die Mädchen in unserem Haushalt herfällst? Du hast es so weit getrieben, daß ich ab jetzt nur noch männliche Dienstboten einstellen werde. Sag mir doch bitte, wo deine Tugend ist, wenn du ununterbrochen den Mädchen nachstellst, über's Telefon, am Fenster oder vom Balkon aus, und weißt du nicht, daß sich unsere Nachbarn in Maadi mehrfach bei mir über dich beschwert haben?«

Ihre Worte waren an ihren Sohn gerichtet, aber es war der Bürgermeister, den sie mit kaum verhohlenem Haß anblickte. Dem starren Gesicht seines Vaters entnahm der Junge, daß jetzt der übliche Streit zwischen den Eltern ausbrechen würde, deshalb kam er schnell wieder auf das Thema Nefissa zu sprechen.

»Vater, glaubst du, daß Scheich Hamzawi das Kind adoptieren wird?«

»Er scheint die Absicht zu haben«, antwortete der Bürgermeister. »Er ist ein guter Mann und kinderlos. Seine Frau wünscht sich seit Jahren ein Kind.«

»Dann ist das Problem ja aus der Welt geschafft«, sagte der Sohn mit aller Entschiedenheit.

»Es ist keineswegs aus der Welt geschafft. Die Bauern geben solange keine Ruhe, bis sie sich an dem Schuldigen gerächt haben, egal wer es ist«, widersprach ihm seine Mutter.

Nach diesem Seitenhieb stand sie auf und ging in ihr Zimmer. Dem Sohn fiel nicht auf, daß die Mundwinkel seines Vaters zuckten und dieser so tat, als kratze er sich, um das nervöse Zucken zu verbergen. Seine blauen Augen hatten einen abwesenden Blick, als beschäftigte ihn ein anderes Problem. Nachdem er lange geschwiegen hatte, sagte er: »Wer mag wohl der Mann gewesen sein? Ob er aus Kafr El Teen ist? Höchstwahrscheinlich. Aber natürlich kann er auch von woanders kommen.«

»Menschen wie Nefissa kennen nichts und niemand außerhalb von Kafr El Teen.«

»Was willst du damit sagen?«

»Nun ja, du weißt doch, wie unbedarft diese Bauernmädchen sind.«

»Ich glaube nicht, daß Nefissa so unbedarft war. Ich habe noch nie ein Mädchen mit einem derart schamlosen Blick gesehen.«

»Ja, sie war ziemlich vorwitzig. Aber auch der Mann muß reichlich waghalsig sein.«

Hastig sagte der Bürgermeister: »Darum glaube ich eher, daß er nicht aus Kafr El Teen ist. Ich kenne jeden Mann hier und glaube nicht, daß auch nur einer von ihnen genügend Schneid hätte, so etwas zu tun. Bist du nicht auch der Meinung, Tariq?«

Tariq schwieg. Die Gesichter der Männer von Kafr El Teen zogen vor seinem inneren Auge vorbei. Er hörte seinen Vater fragen: »Hast du eine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?«

Wieder tauchten die Gesichter vor ihm auf, und plötzlich hob sich eins von allen anderen ab, völlig unbeweglich, vielleicht waren es die Augen, die dieses Gesicht von allen anderen Gesichtern unterschieden. Immer neugieriger forschte er in diesem Gesicht, bis eine innere Stimme ihm sagte: »Elwau.« Er wußte nicht, warum es gerade dieses Gesicht war, das sich ihm unter all den anderen aufdrängte, denen er irgendwann einmal begegnet war. Er hatte Elwau und Nefissa nie zusammen gesehen. Elwau wohnte am östlichen Dorfende, Nefissa hingegen auf der gegenüberliegenden Seite, im Westen. Doch sobald er versuchte, sich ernsthaft einen Mann vorzustellen, der mit Nefissa in Zusammenhang gebracht werden konnte, tauchte Elwaus Gesicht vor ihm auf. Er hatte ihm nur einmal gegenübergestanden und ihn hin und wieder in einiger Entfernung mit der Hacke auf der Schulter gehen sehen. Elwau sprach nie mit jemandem und schaute nie in ein Geschäft oder ein Haus. Nie grüßte er als erster, wenn er jemand begegnete, egal, ob es der Polizeichef, der Scheich der Moschee und sogar der Bürgermeister war.

Niemand konnte behaupten, ihn mit Nefissa oder einer anderen Frau aus Kafr El Teen gesehen zu haben. Tag für Tag arbeitete er mit der Hacke auf seinem Feld, sogar am Freitag, wenn alle in der Moschee waren. Nach Sonnenuntergang saß er am Ufer und starrte auf das vorbeifließende Wasser oder die Bäume, die am Horizont aufragten. Ging jemand vorbei, drehte er sich nicht um, und rief ihm jemand den üblichen Gruß zu, antwortete er ruhig »Salam! Salam!«, aber sein Körper rührte sich nicht.

Die Lippen des Jungen öffneten sich leicht, um den Namen Elwau auszusprechen. Hätte ihn jemand gefragt, warum er gerade auf Elwau gekommen war, hätte er keine Antwort gewußt. Er hatte ihm nur einmal gegenübergestanden, aber das hatte gereicht, um in seine Augen zu sehen. Mit einem einzigen Blick hatte er sich davon überzeugt, daß sie sich von den Augen der anderen Männer unterschieden. Sie sahen nie zu Boden, sondern immer stolz geradeaus wie Nefissas Augen. Er konnte sich jetzt gut an den Tag erinnern. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er begriffen, daß der Ausdruck in ihren Augen ein unzertrennbares Band zwischen ihnen darstellte. Er konnte nicht genau sagen, was es war, aber er war überzeugt, daß es zwischen ihnen bestand. Dieses Gefühl hatte ihn auch nicht verlassen, nachdem die Erinnerung an seine Begegnung mit ihnen in die dunklen Regionen des Vergessens versunken war.

Als Elwaus Gesicht vor ihm auftauchte, begriff er, daß gewisse Erinnerungen nie verblassen, nie absterben, selbst wenn sie so unbedeutend waren wie ein Tropfen Wasser im Ozean, selbst wenn sie nur eine Sekunde der Unendlichkeit gedauert hatten. Und als sein Vater seine Frage wiederholte, sagte ihm eine innere Stimme: »Elwau.«

Überrascht riß er die Augen auf, als sein Vater den Namen Elwau aussprach, denn er selbst war noch gar nicht dazu gekommen, so kam es ihm zumindest vor, während er dasaß und grübelte. Und kaum hatte sein Vater den Namen wiederholt, da tauchte das Gesicht, das er nur einmal gesehen hatte, vom Dunkel ins Licht, aus einer verschwommenen Erinnerung wurde lebendige Wirklichkeit. Aus seinem Innern brach eine Stimme hervor, die laut durch das Zimmer hallte: »Elwau?«

Der Bürgermeister wiederholte den Namen noch einmal, als wollte er sich vergewissern, daß die Tatsache jetzt nicht mehr zu widerlegen war: »Elwau.«

Das Eisentor wurde aufgestoßen und ließ drei Männer herein. Scheich Hamzawi, Scheich Zahran und Haj Ismail gingen hintereinander auf den Bürgermeister zu. Niemand weiß, ob sie hörten, wie er den Namen aussprach, aber sie wiederholten in einem Atemzug: »Elwau.« Ihre Stimmen hallten durch den Hof, schwangen sich über die hohe Backsteinmauer, drangen in die dunklen Lehmhütten, und das Wort war in aller Mund, bevor die Kerosinlampen angezündet waren, es verbreitete sich überall, bevor die Sonne untergegangen war und die andere Seite der Erdkugel beschien.

Tariq lehnte sich über das Geländer. Unter der Terrasse floß das karmesinrote Wasser des Nils vorbei. Er beobachtete, wie die Sonne hinter dem fernen Horizont versank und die Kinder am Ufer spielten. Er hörte sie singen, während sie wie wild tanzten und dabei in die Hände klatschten.

Kameltreiber, Kameltreiber,Nefissa und Elwau sind es.Nefissa, Nefissa, Elwau geht's an den Kragen.Elwau, Elwau, Nefissa ist auf dem Feld.Kameltreiber, Kameltreiber,Nefissa und Elwau sind es.

Er riß verwundert die Augen auf, als traute er seinen eigenen Ohren nicht. Die Überraschung verschlug ihm fast den Atem, und er wandte sich an seine Mutter, die neben ihm stand, und fragte mit stockender Stimme: »Mutter, war es wirklich Elwau?«

»Woher soll ich das wissen?« antwortete sie, und ihre Stimme klang gereizt. »Warum fragst du nicht deinen Vater, den Bürgermeister?«