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Kaum hatte Generaldirektor Archilochos, einst UB122GZ31, vom Sekretär zum Lift begleitet, den heiligsten Bezirk des Verwaltungsgebäudes verlassen, wurde er wie ein Fürst empfangen, von Generaldirektoren pathetisch umarmt, von Direktoren mit Bücklingen begrüßt, Sekretärinnen gurrten, schmeichelten um ihn herum, von ferne schlichen Oberbuchhalter herbei, irgendwo lauerte OB9GZ, triefend vor Ergebenheit, und aus der Atomkanonenabteilung wurde auf einer Bahre Direktor Jehudi getragen, in einer Zwangsjacke offensichtlich, nun erschöpft, ohnmächtig. Es hieß, er hätte das ganze Mobiliar seines Büros zertrümmert. Doch lockte Archilochos nichts als der Scheck, den er denn auch gleich in Empfang nahm. Wenigstens was Sicheres, dachte er, immer noch mißtrauisch, beförderte OB9GZ zum Vizedirektor der Geburtszangenabteilung, die Nummern UB122GZ28, UB122GZ29, UB122GZ30 zu Buchhaltern, gab noch einige Anweisungen, die Geburtszangenreklame im Kanton Appenzell Innerrhoden betreffend, und verließ das Verwaltungsgebäude.
Nun saß er in einem Taxi, zum ersten Mal in seinem Leben, erschöpft, hungrig, verwirrt von seinem rasenden Aufstieg, und ließ sich zu Madame Bieler fahren.
Die Stadt lag unter einem klaren Himmel in eisiger Kälte. Überdeutlich waren die Dinge im grellen Licht, die Paläste, die Kirchen, die Brücken, die große Fahne über dem Staatspräsidenten-Palais wie erstarrt, der Strom wie ein Spiegel, die Farben lagen nebeneinander ohne ineinander zu fließen, wie abgezirkelt lagen die Schatten auf den Straßen und Boulevards.
Archilochos betrat die Pinte, die Türe klingelte wie immer, und er zog seinen schäbigen Wintermantel aus.
«Mein Gott«, sagte Georgette hinter ihrer Theke, sich eben einen Campari einschenkend, von Flaschen und Gläsern umgeben, die im kalten Sonnenlicht funkelten:»Mein Gott, Monsieur Arnolph! Was ist denn jetzt nur los mit Ihnen? Sie sehen müde und bleich aus, übernächtig, und besuchen uns um eine Zeit, wo Sie doch längst in Ihrer Menschenschinderei beschäftigt sein sollten! Stimmt etwas nicht? Haben Sie zum ersten Mal mit einer Frau geschlafen oder Wein getrunken? Sind Sie entlassen worden?»
«Im Gegenteil«, sagte Archilochos und setzte sich in seine Ecke.
Auguste brachte die Milch.
Was hier >im Gegenteil< heiße, fragte Georgette verwundert, sich eine Zigarette anzündend und den Rauch in die schrägen Sonnenstrahlen blasend.
«Ich bin diesen Vormittag zum Generaldirektor der Atomkanonen- und Geburtszangenabteilung ernannt worden. Von Petit-Paysan persönlich«, berichtete Archilochos immer noch außer Atem.
Dann brachte Auguste eine Schüssel Apfelmus, Nudeln und Salat.
«Hm«, brummte Georgette, die von der Angelegenheit nicht einmal besonders erschüttert schien:»Und wieso?»
«Aus schöpferischem Sozialismus.»
«Auch etwas. Und wie war es gestern mit der Griechin?»
«Wir haben uns verlobt«, sagte Archilochos verlegen und errötete.
«Das ist vernünftig«, lobte Madame Bieler.»Was ist sie denn von Beruf?»
«Dienstmädchen.»
«Muß eine merkwürdige Stelle sein«, meinte Auguste,»wenn sie sich einen solchen Mantel leisten kann.»
«Ruhe!«wies ihn Georgette zurecht.
Sie hätten einen Spaziergang gemacht, erzählte Arnolph, und alles sei so sonderbar gewesen, so eigenartig, fast wie im Traum. Alle Leute hätten ihn plötzlich gegrüßt, aus Autos heraus und von Autobussen herab, der Staatspräsident, Bischof Moser, der Maler Passap und der amerikanische Botschafter, der ihm Hallo zugerufen habe.
«Aha«, sagte Georgette.
«Auch Maître Dutour grüßte«, fuhr Arnolph fort,»und Hercule Wagner, wenn auch nur mit einem Zwinkern.»
«Mit einem Zwinkern«, wiederholte Georgette.
«So eine«, brummte Auguste.
«Schweig«, herrschte ihn Madame Bieler an, so heftig, daß er sich mit seinen flimmernden Beinen hinter den Ofen verkroch.»Du hast hier gar nichts zu bemerken, das ist keine Männerangelegenheit! Und nun wollen Sie Ihre Chloé wohl auch gleich heiraten, denke ich«, wandte sie sich von neuem an Archilochos und trank ihren Campari leer.
«So schnell als möglich.»
«Das ist klug. Bei Frauen muß man handeln, besonders wenn sie Chloé heißen. Und wo wollen Sie denn wohnen mit Ihrer Griechin?»
Er wisse es nicht, seufzte Archilochos ratlos, mit seinem Apfelmus und seinen Nudeln beschäftigt.»In meiner Mansarde natürlich nicht mehr, von wegen der Wasserspülungen und der schlechten Luft. Vorläufig in einer Pension.»
«Ach was, Monsieur Archilochos«, lachte Georgette,»ein Mann mit Ihren Moneten. Gehen Sie ins >Ritz<, da gehören Sie hin. Und von jetzt ab zahlen Sie hier den doppelten Preis. Generaldirektoren muß man schröpfen, sonst sind sie zu gar nichts mehr nütze.»
Dann schenkte sie sich einen neuen Campari ein.
Als Archilochos gegangen war, blieb es eine Zeitlang still bei >Chez Auguste<; Madame Bieler wusch Gläser, und ihr Mann saß regungslos hinter dem Ofen.
«So eine«, sagte endlich Auguste und rieb sich die hageren Beine.»Als ich zweiter war in der Tour de France, hätte ich auch einmal so eine haben können, mit Pelzmantel, teurem Parfüm und mit einem Großindustriellen, einem Herrn von Zünftig — besaß Kohlenbergwerke in Belgien. Wäre wohl nun auch Generaldirektor von einer Abteilung.»
«Unsinn«, sagte Georgette und trocknete sich die Hände.»Du bist nicht zu Höherem geboren. So eine heiratet dich nicht. Bei dir gibt es nichts zu erwecken. Archilochos ist ein Sonntagskind, das habe ich immer gespürt, und ein Grieche. Wirst sehen, wie sich der noch entwickelt. Der taut noch auf, und wie. Die Frau ist prima. Daß sie endlich von ihrem Geschäft loskommen will, ist nur natürlich. Es ist schließlich auch anstrengend auf die Dauer und alles andere als immer angenehm. Das wollen die alle von dieser Sorte, das wollte auch ich. Den meisten gelingt es freilich nicht, die enden wirklich in der Gosse, wie man immer predigt, einigen langt es gerade zu einem Auguste mit nackten Beinen und einem gelben Radfahrerkostüm — eh bien, ich bin auch zufrieden damit, wenn wir schon von dieser Zeit sprechen, und einen Großindustriellen habe ich nie gehabt. Da hatte ich das berufliche Format nicht. Bei mir verkehrten nur kleinbürgerliche Kreise, einige vom Finanzamt und einmal ein Aristokrat für vierzehn Tage, der Graf Dodo von Malсhern, der letzte seiner Familie, schon lange beerdigt. Aber der Chloé wird es gelingen. Die hat ihren Archilochos, und das wird was Feines.»
Unterdessen fuhr Archilochos in einem Taxi zur Weltbank und dann zu einem Reisebüro am Quai de l'Etat. Er betrat einen weiten Raum, mit Landkarten und farbigen Plakaten an den Wänden: >Besucht die Schweiz. Der sonnige Süden lockt dich. Mit der Air France nach Rio. Das grüne Irland.< Angestellte mit höflichen, glatten Gesichtern. Schreibmaschinengeklapper. Neonlicht. Fremde mit seltsamen Sprachen.
Er möchte nach Griechenland reisen, sagte Archilochos. Nach Korfu, nach dem Peloponnes, nach Athen.
Die Agentur vermittle keine Reisen auf Kohlendampfern, bedauerte der Angestellte.
Er möchte mit der >Julia< reisen, wandte Archilochos ein. Er wünsche eine Luxuskabine für sich und seine Frau.
Der Angestellte blätterte in einem Kursbuch, gab einem spanischen Zuhälter (Don Ruiz) die Daten eines Zugs. Es seien keine Plätze auf der >Julia< mehr frei, sagte er endlich und wandte sich einem Kaufmann aus Kairo zu.
Archilochos verließ das Reisebüro und setzte sich in das wartende Taxi. Überlegte. Wer der beste Schneider in der Stadt sei, fragte er dann den Chauffeur.
Der wunderte sich.»O'Neill-Papperer in der Avenue Bikini und Vatti in der Rue St. Honoré«, gab er zur Antwort.
«Der beste Friseur?»
«José am Quai Offenbach.»
«Das erste Hutgeschäft?»
«Goschenbauer.»
«Wo kauft man die besten Handschuhe?»
«Bei De Stutz-Kalbermatten.»
«Gut«, sagte Archilochos.»Zu diesen Geschäften. «So fuhren sie zu O'Neill-Papperer in der Avenue Bikini und zu Vatti in der Rue St. Honoré, zu José am Quai Offenbach und zu De Stutz-Kalbermatten, dem Handschuh-, und zu Goschenbauer, dem Hutgeschäft. Er kam durch tausend Hände, die an ihm nestelten, maßen, säuberten, schnitten, rieben, veränderte sich zusehends, stieg stets eleganter, duftender in das Taxi, nach Goschenbauer mit einem silbergrauen Edenhut auf dem Kopf, und fuhr am späten Nachmittag wieder vor dem Reisebüro am Quai de l'Etat vor.
Er wünsche eine Luxuskabine mit zwei Betten auf der >Julia<, sagte er mit unveränderter Stimme zu dem Angestellten, der ihn abgewiesen hatte, den silbergrauen Edenhut auf die Glasfläche legend.
Der Beamte begann ein Formular auszufüllen.»Die >Julia< fährt nächsten Freitag. Korfu, Peloponnes, Athen, Rhodos und Samos«, sagte er.»Darf ich um Ihren Namen bitten?»
Aber nachdem Arnolph die zwei Billette bezahlt und sich entfernt hatte, wandte sich der Angestellte zum spanischen Zuhälter, der immer noch herumlungerte und Reiseprospekte durchblätterte, um hin und wieder den Besuch einiger Damen zu empfangen, die (ebenfalls Prospekte studierend) Geldscheine in seine vornehmen, schmalen Hände gleiten ließen.