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Der kleine Gavroche
Acht oder neun Jahre nach den Ereignissen, die im zweiten Teil dieser Geschichte berichtet wurden, konnte man auf dem Boulevard du Temple und im Gebiet des Château d’Eau einen kleinen Jungen von elf oder zwölf Jahren sehen, der ganz gut das Ideal des Pariser Straßenjungen hätte darstellen können, wenn er nicht trotz des Lächelns, das er immer auf den Lippen hatte, ein verdüstertes und leeres Herz gehabt hätte. Dieser Junge trug die Hose eines Mannes, aber er hatte sie nicht von seinem Vater; und das Hemd einer Frau, aber das hatte er nicht von seiner Mutter. Irgendwelche fremden Leute hatten ihn aus Mitleid so gekleidet.
Und doch hatte er Vater und Mutter. Aber sein Vater dachte nicht an ihn, und seine Mutter liebte ihn nicht. Er war einer jener beklagenswerten Knaben, die Vater und Mutter haben und doch Waisen sind.
Dieser Junge fühlte sich nur auf der Straße einigermaßen glücklich. Ihr Pflaster war nicht so hart wie das Herz seiner Mutter. Mit einem Fußtritt hatten seine Eltern ihn ins Leben hinausgestoßen.
Er war ein blasser, schwächlicher Junge, dabei aber widerstandsfähig, lebhaft, aufgeweckt. Immer auf den Beinen. Er sang und spielte, durchschnüffelte die Rinnsteine, hielt für sein Eigentum, was ihm in die Finger kam, aber nach Art der Katzen und der Spatzen, heiter und unbefangen; er lachte, wenn man ihn Lausbub, ärgerte sich, wenn man ihn Miststück nannte. Er hatte kein Obdach, kein Brot, kein Feuer, wurde von niemand geliebt; aber er war fröhlich, denn er war frei.
Wenn arme Geschöpfe dieser Art zu Männern heranwachsen, geraten sie fast immer mit der sozialen Ordnung in Konflikt und werden von ihr zermalmt; solange sie klein sind, entwinden sie sich dem Zugriff, flüchten in das kleinste Loch.
Aber so verlassen dieser Junge auch war, geschah es doch, wenn auch nur alle zwei oder drei Monate einmal, daß er sich sagte: Hallo, jetzt geh ich Mama besuchen! Dann verließ er den Boulevard, entfernte sich aus der Bannmeile des Zirkus und der Porte Saint-Martin, stieg zu den Quais hinab, überquerte die Brücken und spazierte durch die Vorstädte nach der Salpêtrière. Und wo landete er? In jenem Hause Nr. 50 bis 52, das der Leser schon kennt, in dem Hause Gorbeau.
Zu jener Zeit war das Haus Nr. 50 bis 52, das sonst leer stand und immer eine Tafel »Zimmer zu vermieten« aushängen hatte, seltsamerweise von mehreren Personen bewohnt, die übrigens, wie das in Paris der Brauch ist, untereinander keine Beziehungen pflegten. Sie alle gehörten jener Klasse der Armen an, die mit dem herabgekommenen Kleinbürger beginnt und bis zu den niedrigsten Stufen der sozialen Ordnung herabsteigt, bis zu jenen Leuten, die mit den Resten der Zivilisation ihr Wesen treiben, dem Straßenkehrer und dem Lumpensammler.
Die Verwalterin aus der Zeit Jean Valjeans war gestorben und durch ein ganz ähnliches Geschöpf ersetzt worden. Irgendein Philosoph hat gesagt: An alten Weibern ist nie Mangel.
Diese neue Alte hieß Frau Burgon und hatte in ihrem Leben kaum etwas Bemerkenswertes zu verzeichnen, von einer Dynastie von drei Papageien abgesehen, die der Reihe nach ihr Herz beherrscht hatten.
Die Elendesten unter den Bewohnern des Gorbeauschen Hauses waren vier Leute, Vater, Mutter und zwei schon ziemlich erwachsene Töchter, die alle zusammen einen der dürftigen Räume, die der Leser schon kennt, bewohnten.
Außer ihrer überaus drückenden Armut bot diese Familie nichts Bemerkenswertes. Der Vater hatte, als er das Zimmer mietete, gesagt, er heiße Jondrette. Etwas später aber, als er nämlich bereits eingezogen war (wofür die Vermieterin das Wort geprägt hatte: eingezogen ohne nichts), hatte er zu Frau Burgon gesagt:
»Frau Soundso, wenn zufällig jemand kommt und nach einem Polen oder Italiener, oder gar nach einem Spanier fragt, so bin ich das.«
Diese Familie war die des lustigen Barfüßers aus der Klasse der Straßenjungen. Wenn er in ihren Schoß zurückkehrte, fand er dort wohl große Not, aber, schlimmer noch, kein Lächeln; kalten Herd und kalte Herzen. Wenn er eintrat, fragte man ihn:
»Woher kommst du?«
»Von der Straße«, antwortete er.
Und wenn er ging, fragte man ihn: »Wohin gehst du?«
»Auf die Straße.«
Seine Mutter fragte ihn wohl auch:
»Was willst du nur hier?«
Der Junge ertrug diesen Mangel an Gefühl wie Kellerpflanzen die Dunkelheit. Er begriff davon nichts, litt nicht darunter und war nicht böse darüber.
Allerdings liebte seine Mutter seine Schwestern.
Wir vergaßen zu sagen, daß der Bube auf dem Boulevard du Temple der kleine Gavroche genannt wurde. Warum Gavroche? Vielleicht weil sein Vater Jondrette hieß.
Alle Bande lösen, ist in gewissen verelendeten Familien fast ein Instinkt. Die Stube der Jondrettes war die letzte am Korridor. Den Nachbarraum bewohnte ein sehr armer junger Mann, der sich Herr Marius nennen ließ.
Unser Leser wird bald erfahren, wer dieser Herr Marius war.
Dreiundneunzig Jahre und zweiunddreißig Zähne
In der Rue Boucherard, in der Rue de Normandie und in der Rue de Saintonge gibt es noch alte Leute, die sich eines gewissen Herrn Gillenormand erinnern und gern von ihm erzählen. Dieser Mann war alt, als sie noch jung waren. Seine Silhouette ist für jene, die melancholisch in das Reich der Schatten (wie wir gerne die Vergangenheit nennen) zurückblicken, noch nicht ganz verschwunden aus dem Labyrinth der Gäßchen rings um den Temple, die unter Ludwig XIV. die Namen aller französischen Provinzen trugen, so wie man heute die Straßen im Quartier Tivoli – sicheres Zeichen des Fortschritts – nach den europäischen Hauptstädten nennt.
Herr Gillenormand, der sogar noch 1831 lebte, zählte zu jenen Menschen, die nur wegen ihres phantastischen Alters, und weil sie bereits bei Lebzeiten einer vergangenen Epoche anzugehören scheinen, merkwürdig sind. Er war ein sonderbarer Alter, wirklich ein Mensch aus einer anderen Zeit, der vollendete Typus des etwas überheblichen Großbürgers aus dem achtzehnten Jahrhundert, aus jener Zeit, da die gute alte Bourgeoisie auf ihren Stand ebenso stolz war wie die Grafen auf den ihren. Er war schon über neunzig Jahre alt, ging aufrecht, sprach laut, sah klar, trank tüchtig, aß, schlief, schnarchte. Noch hatte er seine zweiunddreißig Zähne. Nur zum Lesen setzte er Brillen auf. Noch immer war er lüstern, aber er sagte, daß er schon seit zehn Jahren vollends den Frauen entsagt habe. Er konnte, sagte er, nicht mehr gefallen. Nicht, weil er zu alt war, aber weil er nicht die nötigen Mittel besaß. »Wenn ich nicht ruiniert wäre … oho!«
In der Tat war ihm nur eine Rente von fünfzehntausend Franken jährlich verblieben. Sein Traum war, eine Erbschaft von hunderttausend Franken Jahresertrag zu machen und sich Mätressen anzuschaffen. Kurz, er zählte nicht zu jenen gebrechlichen Achtzigjährigen, die, wie Voltaire, ihr ganzes Leben im Sterben lagen, er war nicht einer jener angebrochenen Töpfe, die gerade darum alt werden; immer hatte er sich gut gefühlt. Er war oberflächlich, rasch von Entschluß, heftig. Bei jeder Kleinigkeit geriet er in Wut, zumal ohne jede vernünftige Begründung. Widersprach man ihm, so hob er den Stock. Seine Dienstboten prügelte er nach der Sitte des großen Jahrhunderts. Er hatte eine Tochter von über vierzig Jahren, die unverheiratet geblieben war; die verdrosch er, wenn er in Wut geriet, und wenn es darauf angekommen wäre, hätte er sie am liebsten mit der Peitsche gezüchtigt. Für ihn war sie höchstens acht Jahre alt. Seine Lakaien ohrfeigte er und sagte zu ihnen: »Schweinehund!« Kein Fluch war ihm grob genug. Dabei war er von verwunderlicher Seelenruhe. Täglich ließ er sich von einem Barbier rasieren, der geisteskrank gewesen war und ihn verabscheute, weil er auf Gillenormand wegen seiner Frau, einer hübschen, jungen Barbiersfrau, eifersüchtig war. Herr Gillenormand bildete sich selbst etwas auf seine Nachlässigkeit ein und sagte, er lasse sich nicht einschüchtern. Oder:
»Ich bin wirklich sehr scharfsinnig. Wenn mich ein Floh beißt, weiß ich, bei welchem Frauenzimmer ich ihn erwischt habe.«
Seine Lieblingsausdrücke waren »der empfindsame Mann« und »die Natur«. Zumal diesem letzteren Wort verlieh er nicht jenen angenehmen Sinn, den unsere Zeit ihm beilegt. Aber wenn er am Kamin saß, äußerte er sich über sie etwa wie folgt:
»Damit die Zivilisation an allem ihren Teil hat, sorgt die Natur dafür, daß die barbarischen Dinge uns in amüsanter Form dargeboten werden. Europa besitzt die Schätze Asiens und Afrikas in kleinerem Format. Die Katze ist der Salontiger, die Eidechse das Taschenkrokodil. Die Tänzerinnen von der Oper sind süße kleine Kannibalen. Sie fressen zwar keine Menschen, aber sie saugen sie aus. Die reinsten Zauberinnen! Verwandeln unsereinen in eine Auster und schlürfen ihn aus zwischen zwei Schlucken Wein. Die Karaiben lassen nur die Knochen übrig, die Mädchen von der Oper nur den leeren Beutel.«
Er wohnte im Marais, Rue des Filles Du Calvaire Nr. 6. Das Haus gehörte ihm. Es ist inzwischen abgerissen worden, und vielleicht hat das Grundstück heute sogar eine andere Nummer bekommen, da ja in den Pariser Straßen nichts beim alten bleiben durfte. Er selbst bewohnte ein altes, geräumiges Appartement im ersten Stock, es war bis zu den Plafonds mit großen Gobelins tapeziert, die Schäferszenen darstellten; und die gleichen Sujets wurden in kleinerem Format auf Stuhlbezügen wiederholt.
Er hatte Sinn für Malerei. In seinem Zimmer hatte er ein herrliches Porträt eines Unbekannten, ein Werk des Jordaens, in großen, kühnen Pinselstrichen gemalt, zugleich aber überreich an köstlichen Details.
Eine seiner Theorien lautete: Wenn ein Mann sehr hinter den Weibern her ist, sich aber aus seiner eigenen Frau nichts macht, weil sie häßlich ist, so gibt es für ihn nur ein einziges Mittel, seinen Frieden zu behalten: er überläßt seiner Frau die Verwaltung seines Vermögens. Dieses Opfer macht ihn frei. Jetzt ist die Frau beschäftigt, findet bald Geschmack an diesen Dingen, kümmert sich um die Pächter und Schuldner, berät sich mit den Anwälten, verhandelt mit dem Notar, keift mit den Schreibern, fühlt sich dabei als Herrin, kauft, verkauft, gewährt Zessionen, arrangiert alles, spart, verschwendet – kurz, sie macht Dummheiten, genießt aber das volle Glück persönlichen Lebens und findet darin ihren Trost. Ihr Mann verachtet sie, aber sie hat wenigstens die Genugtuung, ihn ruinieren zu dürfen.
Gillenormand hatte diese Theorie selbst in die Praxis umgesetzt, und so war er zu seiner Geschichte gekommen. Denn seine zweite Frau hatte sein Vermögen so verwaltet, daß Gillenormand eines Tages, Witwer geworden, gerade noch fünfzehntausend Franken Rente behielt, von denen sogar drei Viertel nur Leibrenten waren. Er kränkte sich nicht darüber, denn um seine Erben kümmerte er sich nicht. Übrigens lebte er in einer Zeit, die wußte, was aus Erbschaften werden konnte, zum Beispiel, daß sie zum Nationaleigentum erklärt wurden.
Sein Haus gehörte ja ihm. Er hielt sich zwei Bediente, »ein Mannsbild und ein Frauenzimmer«. Sooft er einen Dienstboten wechselte, gab er ihm einen neuen Namen. Die Männer nannte er nach ihrer Herkunft Nimois, Comptois, Poitevin, Picard. Sein letzter Diener war ein plumper, asthmatischer Kerl von fünfundfünfzig Jahren, der keine zwanzig Schritte laufen konnte, aber da er aus Bayonne war, nannte ihn Gillenormand Baske. Dagegen hießen alle seine weiblichen Dienstboten Nicolette. Eines Tages meldete sich bei ihm ein Ungetüm von Köchin, ein Monstrum aus der Rasse der Dienstboten.
»Wieviel verlangen Sie monatlich?« fragte Gillenormand.
»Dreißig Franken.«
»Wie heißen Sie?«
»Olympia.«
»Du kriegst fünfzig Franken, aber du heißt Nicolette.«
Zwei sind noch kein Paar
Gillenormands zwei Töchter waren in einem Abstand von zehn Jahren nacheinander geboren. In ihrer Jugend waren sie einander wenig ähnlich gewesen, schienen sowohl dem Charakter als dem Aussehen nach kaum Schwestern. Die Jüngere war ein liebenswürdiges Geschöpf, allem Lichten zugeneigt, schwärmerisch vernarrt in Blumen, Pferde und Musik; immer schwebte sie in höheren Regionen, war enthusiastisch, betete schon als Kind die Idealgestalt irgendeines Helden an. Auch die Ältere hatte ihre Schimäre. Das Azur ihres Himmels war ein Grossist, irgendein reicher Munitionslieferant, ein blöder, aber verschwenderischer Mensch; oder ein Präfekt. Frau Präfekt zu sein, hätte ihr auch gefallen.
So hatten beide Schwestern schon in ihrer Jugend ihre verschiedenen Ideale. Die eine strebte ihrem auf Engelsfittichen entgegen, die andere auf den Flügeln einer Gans.
Aber hier auf Erden findet kein Ehrgeiz restlose Befriedigung. Das Paradies ist nun einmal keine irdische Angelegenheit, und gar in unseren Zeiten! Die Jüngere hatte den Mann ihrer Träume geheiratet, aber sie starb bald. Die Ältere bekam keinen Mann.
Zu der Zeit, da sie in unsere Geschichte eintrat, war sie bereits eine etwas bejahrte Tugend, eine ungenießbare, prüde Person mit der spitzesten Nase und dem stumpfsten Verstand von der Welt. Ein charakteristisches Detail: außerhalb der engsten Familie wußte niemand ihren Vornamen. Sie ließ sich nur »das ältere Fräulein Gillenormand« nennen.
Was den cant anging, konnte sie es mit jeder Miß aufnehmen. Sie war das Schamgefühl in Person. Die entsetzlichste Erinnerung ihres Lebens war, daß ein Mann einmal ihr Strumpfband gesehen hatte.
Das Alter hatte diese erbitterte Schamhaftigkeit noch gesteigert. Ihr Brusttuch war nie dunkel genug und reichte nie hoch genug. Stecknadeln brachte sie überall an, wo kein Mensch hinsehen wollte. Es ist eigentümlich für die Prüderie, daß sie überall Schildwachen aufstellt, wenn die Festung auch gänzlich unbedroht ist.
Erkläre, wer kann, daß sie sich ohne Mißfallen von einem jungen Offizier der Lanzenreiter, ihrem Großneffen Théodule, küssen ließ.
Sie hatte eine Freundin, eine nicht minder eifrige Kirchgängerin und alte Jungfer, des Namens Mademoiselle Vaubois; ein vollkommen schwachsinniges Geschöpf, neben dem Fräulein Gillenormand noch als Genie gelten konnte. Vom Agnus Dei und Ave Maria abgesehen, hatte Fräulein Vaubois nur Ansichten über die verschiedenen Methoden, Früchte einzumachen. Sie war ein Musterstück ihrer Art.
Wir müssen einräumen, daß Fräulein Gillenormand mit zunehmendem Alter eher gewann. Eigentlich bösartig war sie ja nie gewesen, und das ist ja fast schon Güte; ihre Krallen waren von den Jahren abgestumpft worden, sie war jetzt auf eine seltsame Weise traurig, ohne selbst recht den Grund angeben zu können. Ihr ganzes Wesen war Staunen über ein Leben, das zu Ende ging, bevor es begonnen hatte.
Sonst gab es im Hause nur noch ein Kind, einen kleinen Jungen, dem es die Rede verschlug, wenn Gillenormand nur in die Nähe kam. Der sprach nur streng, ja sogar mit erhobenem Stock zu dem Kleinen.
»Hierher, Herr Schlingel, vorwärts, Lausejunge! Antworte, Bengel! Daß ich dich mal zu sehen kriege, Strabanzer!«
Und er vergötterte den Jungen. Es war sein Enkel.
Ein Salon von Anno dazumal
Als Gillenormand noch in der Rue Servandoni wohnte, frequentierte er einige sehr gute, höchst exklusive Salons. Obwohl er selbst ein Bürgerlicher war, hatte er dort Zutritt. Er war klug, doppelt klug, denn einmal besaß er seine wirkliche Klugheit, dann aber auch jene, die man ihm nur zutraute – und darum war er sogar gesucht. Und er ging nur in ein Haus, in dem man ihm eine dominierende Rolle bewilligte. Es gibt Leute, die um jeden Preis Einfluß haben wollen und verlangen, daß man sich mit ihnen beschäftigt. Wenn sie nicht als Orakel den Ton angeben können, so wollen sie es wenigstens als Possenreißer. Gillenormand gehörte nicht zu diesen Leuten. Um in den royalistischen Salons, die er besuchte, zu herrschen, legte er seiner Selbstachtung keine Opfer auf. Überall war er das Orakel.
Gegen 1817 brachte er mit unumstößlicher Regelmäßigkeit wöchentlich zwei Nachmittage im Hause seiner Nachbarin, der Baronin de T. zu, einer respektablen Dame, deren Gatte unter Ludwig XVI. Botschafter in Berlin gewesen war. Der Baron war während der Revolution als Emigrant gestorben und hinterließ seiner Gattin, als begeisterter Anhänger des Magnetismus, nichts weiter als zehn in rotes Maroquinleder gebundene handschriftliche Werke – seine höchst erstaunlichen Betrachtungen über Mesmer. Madame de T. hatte, um ihrer Würde nichts zu vergeben, darauf verzichtet, dieses Werk der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, und lebte von einer kleinen Rente, die ihr von irgendwo, Genaueres wußte man darüber nicht, zufloß. Zum Hofe unterhielt sie keine Beziehungen, weil ihr die Gesellschaft dort zu gemischt war. Einige ihrer Freunde versammelten sich zweimal wöchentlich um den Kamin ihres Witwensitzes und bildeten so einen höchst royalistischen Salon. Man trank Tee, stieß, je nachdem, ob die Zeitstimmung gerade elegisch oder dithyrambisch war, Seufzer oder Entrüstungsschreie aus über das Jahrhundert, über die Verfassung, über die Bonapartisten, über die Prostitution des Blauen Bandes durch seine Verleihung an Bürgerliche, über den Jakobinismus Ludwigs XVIII.; und man unterhielt sich leise über die Hoffnungen, zu denen Seine Königliche Hoheit, der spätere Karl X., berechtigte, hörte mit Entzücken Gassenhauer, in denen Napoléon Nicolas genannt wurde. Herzoginnen, die zartesten und reizendsten Frauen der Welt, gerieten außer sich vor Vergnügen über ordinäre Spottlieder. Dumme Kalauer, die man furchtbar zynisch fand, erregten Sensation.
Wie manche Kirchen zwei Türme, so hatte der Salon der Baronin T. zwei Löwen. Der eine war Gillenormand, der andere der Graf de la Motte-Valois, von dem man einander mit Hochachtung ins Ohr flüsterte:
»Sie wissen doch, der de la Motte von der Halsbandaffäre!«
Die Parteien erlassen oft recht eigenartige Amnestien.
Gillenormand erschien gewöhnlich in Begleitung seiner Tochter, dieses Fräuleins, das bereits die Vierzig überschritten hatte und wie eine Fünfzigerin aussah, und eines kleinen Jungen von sieben Jahren mit frischer Haut, roten Backen und vergnügten Augen, bei dessen Eintritt die Leute zu flüstern pflegten:
»Wie hübsch er ist! Wie schade! Das arme Kind!«
Und so nannte man ihn, weil er »einen Briganten von der Loire« zum Vater hatte.
Dieser Loirebandit war Herrn Gillenormands Schwiegersohn, und Gillenormand nannte ihn den Schandfleck auf dem Schilde seiner Familie.
Ein »roter Schreck« aus jenen Tagen
Wer zu jener Zeit über die schöne monumentale Brücke des kleinen Städtchens Vernon schritt, das nun, wie wir wohl hoffen, bald auch durch ein neuzeitliches Scheusal aus Eisen ersetzt werden wird, und bei dieser Gelegenheit über die Brüstung hinabsah, konnte einen etwa fünfzig Jahre alten Mann bemerken, der eine Ledermütze, Hosen und Jacke aus grobem, grauem Tuch und Holzpantinen trug; an der Joppe war etwas Braunes, ein Band, das früher einmal rot gewesen, zu erkennen. Das Gesicht des Mannes war sonnenverbrannt, sein Haar weiß. Eine lange Narbe zog sich quer über die Stirn bis zur Backe hin. Er war gebeugt, vorzeitig gealtert und beschäftigte sich fast täglich, einen Spaten und eine Hacke in der Hand, in einem der kleinen Gärtchen unterhalb der Brücke.
Er bewohnte um 1817 ein bescheidenes Häuschen auf dem Ufergelände, lebte einsam und dürftig und hatte nur eine Frau, die weder jung noch alt, weder schön noch häßlich, weder städtisch noch ländlich war, als Dienerin bei sich. Das Stückchen Land, das er seinen Garten nannte, war weit und breit bekannt wegen der Schönheit der Blumen, die er zog. Denn diese Blumen zu ziehen, war seine Beschäftigung.
Bei Morgengrauen ging er schon an die Arbeit, führte einen sehr bescheidenen Tisch, trank eher Milch als Wein. Er war schüchtern, ja sogar fast menschenscheu, ging selten aus und sah fast nur die Armen, die um ein Almosen vorsprachen, oder den Pfarrer des Ortes, den Abbé Mabeuf, einen gutmütigen, alten Mann. Wenn aber jemand aus dem Dorfe oder auch ein Fremder, wer immer es sein mochte, an seiner Tür schellte, um sich die schönen Rosen zu besehen, wurde er freundlich aufgenommen.
Dieser Gärtner war der Brigant von der Loire.
Wenn jemand die Memoirenwerke, die Biographien, Zeitungen und Bulletins jener Zeit aufmerksam studiert, stößt er wohl des öfteren auf den Namen Georges Pontmercy.
Georges Pontmercy war ganz jung in das Regiment von Saintonge eingetreten. Die Revolution hatte ihn mitgerissen. Das Regiment von Saintonge war ein Teil der Rheinarmee. Auch nach dem Sturz der Monarchie behielten die alten Regimenter ihre Namen, erst 1794 wurde die Einteilung in Brigaden durchgeführt. Pontmercy schlug sich bei Speyer, Worms, Neustadt, Türkheim und Mainz, wo er zu den zweihundert Leuten der Nachhut Houchards gehörte. Gegen das Korps des Prinzen von Hessen hielt er mit zwölf Mann Andernach und zog sich erst zurück, als eine feindliche Kanone eine Bresche in die Schanze gerissen hatte. Unter Kléber focht er bei Marchiennes, und bei Mont-Palissel verlor er seinen Arm.
Man sandte ihn nach Italien, und dort war er mit Joubert einer der Verteidiger des Col di Tenda. Joubert wurde dort Generaladjutant, Pontmercy Unterleutnant. Bei Lodi stürmte er mit Berthier mitten ins wildeste Feuer, an jenem Tage, da Bonaparte sagte: Berthier war Kanonier, Grenadier und Kavallerist. Bei Novi sah er seinen alten General Joubert in dem Augenblick fallen, in dem dieser den Säbel zog und schrie:
»Vorwärts!«
1805 gehörte er zur Division Malher, die den Erzherzog Ferdinand aus Günzburg warf, bei Austerlitz zeichnete er sich in jenem berühmten Staffelaufmarsch, der mitten im ärgsten Feuer durchgeführt wurde, aus. Als die kaiserlich-russische Garde ein Bataillon unseres vierten Linienregiments vernichtete, gehörte Pontmercy zu jenen, die Rache übten und jene Garde zerrieben. Der Kaiser gab ihm dafür das Kreuz der Ehrenlegion. Er war dabei, wie Wurmser in Mantua, Melas in Alessandria, Mack in Ulm gefangen wurden. Später gehörte er zu jenem achten Korps der großen Armee, das unter Mortiers Kommando Hamburg eroberte. Er wurde zu den Fünfundfünfzigern, einem flandrischen Regiment, versetzt und stand bei Eylau auf jenem Friedhof, auf dem der heldenhafte Hauptmann Louis Hugo, der Onkel des Verfassers, mit dreiundachtzig Mann zwei Stunden lang eine feindliche Armee aufhielt. Pontmercy war einer der drei Männer, die diesen Friedhof lebendig verließen. Er sah Friedland, Moskau, die Beresina, Lützen, Bautzen, Dresden, Wachau, Leipzig und Gelnhausen; später Montmirail, Château-Thierry, Craon, die Marne und die Aisne. In Arnay-le-Duc war er bereits Kapitän, säbelte zehn Kosaken nieder und rettete zwar nicht seinen General, aber seinen Korporal. Dabei wurde er so jämmerlich zerfetzt, daß ihm allein aus dem linken Arm siebenundzwanzig Knochensplitter geschnitten werden mußten. Acht Tage vor dem Sturz von Paris tauschte er mit einem Kameraden und trat in die Kavallerie ein. Er begleitete Napoléon nach Elba, war bei Waterloo Eskadronchef der Kürassiere von der Brigade Dubois. Damals erbeutete er die Fahne des Lüneburger Bataillons und legte sie dem Kaiser zu Füßen. Er war bereits mit Blut bedeckt. Bei der Eroberung der Fahne hatte er einen Säbelhieb quer durch das Gesicht bekommen. Als der Kaiser ihm zurief: »Du bist Oberst, Baron, Offizier der Ehrenlegion!« antwortete Pontmercy: »Sire, ich danke Ihnen im Namen meiner Witwe.«
Eine Stunde später fiel er in der Schlucht von Ohain. Dort war es, wo er, aus einer Ohnmacht erwachend, einen Leichenfledderer für seinen Retter hielt: Thénardier.
Und dieser Pontmercy war der Brigant von der Loire.
Die Restauration hatte ihn auf Halbsold gesetzt und hatte ihm, wohl um ihn besser überwachen zu können, Vernon als Aufenthaltsort zugewiesen. Ludwig XVIII. wollte alles, was während der Hundert Tage geschehen war, nicht anerkennen, und darum wurde Pontmercy weder als Offizier der Ehrenlegion noch als Oberst, noch als Baron angenommen. Doch unterließ er es nie, seine Briefe zu unterschreiben:
Oberst Baron Pontmercy.
Er hatte nur einen alten blauen Rock, aber niemals ging er aus, ohne die Rosette des Offiziers der Ehrenlegion anzustecken. Der Prokurator des Königs ließ ihm mitteilen, daß er wegen unberechtigten Tragens dieser Auszeichnung zur Rechenschaft gezogen würde. Pontmercy antwortete dem Überbringer dieser Botschaft mit bitterem Lächeln:
»Entweder verstehe ich nicht mehr Französisch, oder Sie sprechen es nicht richtig; jedenfalls begreife ich nicht.«
Dann ging er acht Tage lang mit seiner Rosette aus. Man wagte nicht, ihn zu behelligen. Zwei- oder dreimal sandte er dem Kriegsminister und dem Departementkommandanten Briefe zurück, auf denen er Major Pontmercy tituliert wurde. Er handelte darin nicht anders als Napoléon, der auf Sankt Helena Briefe des Sir Hudson Lowe an den »General Bonaparte« zurückwies.
Einmal begegnete er auf der Straße dem Prokurator, ging auf ihn zu und sagte:
»Herr Prokurator des Königs, ist es mir erlaubt, meine Narbe zu tragen?«
Er besaß nichts als den sehr kläglichen Halbsold eines Eskadronchefs. In Vernon hatte er das kleinste Häuschen gemietet, das man dort finden konnte. In der Zeit des Kaiserreichs hatte er einmal, zwischen zwei Kriegen, einen Urlaub benützt, um Fräulein Gillenormand zu heiraten. Der alte Großbürger war verärgert, mußte aber schließlich mit einem Seufzer dareinwilligen und sagen: »Sogar die größten Familien bringen Opfer.« 1815 war Frau Pontmercy, übrigens eine bewunderungswerte, hochgebildete und ihres Gatten würdige Dame, gestorben. Sie ließ ein Kind zurück. Dies Kind war die Freude des Obersten, aber sein Schwiegervater verlangte den Enkel energisch zurück und erklärte, daß er ihn, wenn er ihm nicht ausgehändigt würde, enterben werde. Im Interesse des Kleinen hatte der Vater nachgegeben und versucht, in den Blumen einigen Ersatz zu finden.
Übrigens hatte er allem entsagt, nahm weder an Verschwörungen noch an legalen Bewegungen teil. Nur unschuldige Dinge beschäftigten ihn; sonst lebte er in seiner Vergangenheit. Er pflegte eine Rose oder träumte von Austerlitz.
Gillenormand unterhielt keinen Verkehr mit ihm. Für ihn war der Oberst nur ein Bandit, während er für den Obersten ein Spießbürger war. Gillenormand sprach nie von dem Obersten, es sei denn, um sich über seine Baronie lustig zu machen. Man hatte verabredet, daß Pontmercy keinen Versuch unternehmen würde, seinen Sohn zu sehen oder mit ihm zu sprechen. Die Gillenormands wollten den Jungen nach ihren Anschauungen erziehen. Vielleicht hatte der Oberst Unrecht getan, solche Bedingungen anzunehmen, aber er hatte geglaubt, seinem Sohn zu nützen und nur sich selbst ein Opfer aufzuerlegen.
Das Erbe des alten Gillenormand war nicht beträchtlich, aber Fräulein Gillenormand konnte ein großes Vermögen hinterlassen. Diese jungfräulich gebliebene Tante war von ihrer Mutter her reich, und ihr Neffe war ihr natürlicher Erbe. Das Kind, das den Namen Marius trug, wußte wohl, daß es einen Vater besaß, aber nicht mehr. Niemand äußerte etwas darüber. Aber in der Gesellschaft, in die der Großvater es führte, gab es ein ewiges Flüstern, Tuscheln und Augenzwinkern, und aus allen diesen Äußerungen, die er aufschnappte, konnte der Knabe sich ein Bild von seinem Vater zusammensetzen. Jetzt dachte er nur mehr mit dem Gefühl der Beschämung an ihn.
Während er so heranwuchs, kam der Oberst alle zwei oder drei Monate einmal heimlich nach Paris, wie ein Verbrecher, der aus seinem Gefängnis entspringt, und begab sich zur Stunde, da die Tante Gillenormand Marius zur Messe führte, nach Saint-Sulpice. Zitternd vor Angst, die Tante könnte sich umwenden, verborgen hinter einem Pfeiler, lauerte er und beobachtete seinen Jungen. Dieser alte Soldat mit der Narbe fürchtete sich vor einer alten Jungfer.
So entstand auch seine Bekanntschaft mit dem Pfarrer von Vernon, dem Abbé Mabeuf.
Dieser wackere Priester war der Bruder des Kirchenältesten von Saint-Sulpice, dem der Mann mit der Narbe auf der Wange und den Tränen in den Augen mehrmals aufgefallen war. Dieser Mann, der so männlich aussah und wie eine Frau weinte, hatte den Kirchenältesten in Staunen versetzt. Er hatte sein Gesicht im Gedächtnis behalten, und als er eines Tages in Vernon seinen Bruder besuchte, begegnete er dort Pontmercy. Er sprach mit dem Pfarrer davon, und die beiden machten dem Obersten unter irgendeinem Vorwand einen Besuch. Weitere Besuche folgten. Der Oberst war zuerst sehr verschlossen gewesen, ging aber später aus sich heraus, und schließlich erfuhr der Kirchenälteste, wie Pontmercy sein Glück der Zukunft seines Sohnes geopfert hatte. Der Pfarrer faßte eine große Zuneigung zu dem Oberst, die erwidert wurde. Inzwischen war der Salon der Baronin T. alles, was der junge Marius Pontmercy von der Welt sah. Ein düsteres Fenster, durch das man eher Ausblick auf Kälte denn auf Wärme, eher auf die Nacht denn auf den Tag gewann. Das Kind war seiner Natur nach heiter veranlagt, aber es wurde bald trübsinnig und ernster, als es seinem Alter anstand.
Wie alle jungen Leute, mußte er irgend etwas studieren. Als Tante Gillenormands Weisheit nicht mehr ausreichte, wurde er einem würdigen Lehrer anvertraut, einem Manne von höchster klassischer Unschuld. Die junge Seele wechselte von einer alten Jungfer zu einem ledernen Schulmeister hinüber. Marius kam auf das Gymnasium, schließlich studierte er Jura. Er war Royalist von strengster Observanz. Seinen Großvater, dessen Heiterkeit und Zynismus ihm mißfiel, konnte er nicht leiden, und an seinen Vater dachte er nur ungern.
Übrigens war er feurig und kalt, vornehm, großmütig, stolz, exaltiert, rechtschaffen bis zur Härte gegen sich selbst, rein bis zur Absonderlichkeit.
Der Tod des Banditen
Ungefähr zur selben Zeit, da Marius seine Studien beendete, zog sich Gillenormand endgültig aus der Gesellschaft zurück. Der Greis sagte dem Faubourg-Saint-Germain adieu, verabschiedete sich von Madame de T. und übersiedelte in sein Haus in der Rue des Filles-du-Calvaire. Seine Dienerschaft entließ er und beschränkte sich auf Nicolette und den Basken, die wir bereits dem Leser vorgestellt haben.
1827 sollte Marius siebzehn Jahre alt werden.
Als er eines Abends nach Hause kam, trat ihm sein Großvater mit einem Briefe entgegen.
»Marius«, sagte er, »du fährst morgen nach Vernon.«
»Wozu?«
»Du mußt deinen Vater besuchen.«
Marius fuhr zusammen. Alles, nur dies nicht hatte er erwartet, daß er seinen Vater jemals von Angesicht zu Angesicht sehen sollte. Die Vorstellung kam ihm unerwartet und war ihm peinlich. Er empfand nicht ein Bedauern, er fühlte sich gedemütigt.
Marius war, von seinen politischen Gefühlen abgesehen, überzeugt, daß sein Vater, der Säbelraßler, wie ihn Gillenormand nannte, ihn nicht liebe; das war doch schließlich klar, denn wie hätte er sonst seinen Sohn verlassen und anderen anvertrauen können. Marius glaubte sich nicht geliebt und liebte nicht.
Er war so verblüfft, daß er Gillenormand fragte.
»Er ist, scheint es, krank. Er verlangt nach dir«, sagte der Großvater. »Reise morgen früh. Ich glaube, von der Cour des Fontaines geht um sechs Uhr früh ein Wagen ab, der abends ankommt. Nimm diesen.«
Damit zerknitterte er den Brief und steckte ihn in die Tasche.
Marius hätte auch am Abend reisen und schon am nächsten Morgen bei seinem Vater sein können. Eine Postlinie versah damals den Nachtdienst nach Rouen und berührte Vernon. Aber weder Gillenormand noch Marius dachten daran, sich zu erkundigen.
Am Abend des nächsten Tages kam der junge Mann nach Vernon. Man war gerade dabei, die Kerzen anzuzünden. Er fragte den erstbesten, wo das Haus des Herrn Pontmercy sei. Er war ein Parteigänger der Restauration und wollte seinem Vater weder den Oberstenrang noch die Baronie bewilligen.
Man zeigte ihm das Haus. Er schellte, und eine Frau, die eine kleine Lampe in der Hand hielt, öffnete.
»Wohnt hier Herr Pontmercy?«
Die Frau antwortete nicht.
»Ist es hier?«
Die Frau nickte mit dem Kopf.
»Kann ich mit ihm sprechen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich bin sein Sohn, er erwartet mich.«
»Er erwartet Sie nicht mehr.«
Jetzt bemerkte er, daß sie weinte.
Sie deutete auf ein niedriges Zimmer; er trat ein.
In dem von einer Kerze, die am Kamin stand, erleuchteten Raum befanden sich drei Männer: einer stand aufrecht, einer kniete, ein dritter lag, in ein Hemd gehüllt, lang ausgestreckt auf dem Boden. Das war der Oberst.
Die beiden anderen waren der Arzt und ein Priester, der die Totenwache hielt.
Der Oberst war vor drei Tagen von einem heftigen Fieber befallen worden. Von schlimmen Ahnungen geplagt, hatte er an Gillenormand geschrieben und nach seinem Sohn verlangt. Bald nahm die Krankheit eine schlimme Wendung. Am Abend der Ankunft Marius’ in Vernon hatte der Oberst in einem Fieberanfall sich aus dem Bett entfernt und gerufen: »Mein Sohn kommt nicht! Ich gehe ihm entgegen!«
Er hatte sein Zimmer verlassen, war aber im Vorzimmer zusammengebrochen und bald gestorben.
Man rief den Arzt und den Priester. Sohn, Arzt und Priester kamen zu spät.
Im schwachen Schein des Kerzenlichtes konnte man auf der narbigen Wange des Obersten eine schwere Träne sehen, die sich aus seinem toten Auge gelöst hatte. Das Auge war erloschen, die Träne noch nicht vertrocknet. Sie hatte der Verspätung seines Sohnes gegolten.
Marius betrachtete diesen Mann, den er zum erstenmal und zugleich zum letztenmal sah, dieses edle, männliche Gesicht, diese offenen, jetzt blicklosen Augen, diese weißen Haare und diese kräftigen Glieder. Braune Narben zeigten überall Spuren von Säbelhieben, Flecken die Einschüsse von Kugeln. Der Junge betrachtete die gewaltige Narbe auf dem Heldenantlitz, dem Gott doch das Mal der Güte eingeprägt hatte.
Er bedachte, daß dieser Mann sein Vater sei, und jetzt tot – aber er blieb kalt.
Die Traurigkeit, die er verspürte, war dieselbe, die der Anblick jedes anderen Toten in ihm ausgelöst hätte.
Und doch war in diesem Zimmer die Trauer eingezogen. Die Magd schluchzte in einem Winkel, der Priester betete, und man hörte ihn seufzen, der Arzt trocknete sich die Augen; sogar der Leichnam weinte. Der Arzt, der Priester und die Magd beobachteten inmitten ihrer Trauer Marius, ohne ein Wort zu äußern; er war ein Fremder. Er empfand fast keine Rührung und schämte sich, fast verlegen, seiner Haltung. Er ließ seinen Hut zu Boden fallen, um vorzutäuschen, der Kummer lähme ihn, aber im nächsten Augenblick fühlte er Gewissensbisse und verachtete sich, weil er so gehandelt hatte.
Der Oberst hinterließ nichts. Der Verkauf der Möbel deckte die Kosten der Beerdigung. Die Magd fand einen Zettel, den sie Marius übergab.
»An meinen Sohn!
Der Kaiser hat mich auf dem Schlachtfelde von Waterloo zum Baron gemacht. Da die Restauration mir den Titel, den ich mit meinem Blute erkauft habe, verweigert, soll mein Sohn ihn annehmen und tragen. Er wird gewiß seiner würdig sein.«
Auf der Rückseite stand:
»In derselben Schlacht bei Waterloo hat mir ein Sergeant das Leben gerettet. Dieser Mann heißt Thénardier. Er unterhält jetzt, soviel mir bekannt ist, in einem Dorf bei Paris, in Chelles oder Montfermeil, eine Herberge. Wenn mein Sohn ihm begegnet, soll er für ihn alles tun, was in seinen Kräften steht.«
Nicht aus Liebe zu seinem Vater, aber aus jenem ungewissen Respekt heraus, den der Tod uns immer einflößt, nahm Marius das Papier und steckte es ein.
Sonst blieb nichts von dem Obersten übrig. Gillenormand ließ seinen Degen und seine Uniform einem Trödler verkaufen.
Nutzen einer Messe: Marius wird Revolutionär
Marius hatte die religiösen Gepflogenheiten seiner Jugend beibehalten. Eines Sonntags war er nach Saint-Sulpice gegangen, um in derselben Marienkapelle die Messe zu hören, in die ihn seine Tante früher so oft geführt hatte. Er war an diesem Tage zerstreuter und nachdenklicher als sonst. Darum vielleicht war er auf einem mit Utrechter Samt bezogenen Betschemel niedergekniet, auf dem eine Tafel befestigt war:
»Mabeuf, Kirchenältester«.
Diese Messe hatte kaum begonnen, als ein Greis zu ihm trat und sagte:
»Mein Herr, dies ist mein Platz.«
Marius trat hastig beiseite, und der Greis nahm seinen Platz ein.
Als die Messe beendigt war, blieb Marius, in Gedanken versunken, stehen. Wieder trat der Greis zu ihm.
»Entschuldigen Sie, mein Herr, daß ich Sie eben erst gestört habe und es jetzt wieder tue; Sie mußten mich ungezogen finden, darum muß ich mich entschuldigen.«
»Es ist ganz unnötig, mein Herr.«
»Doch«, sagte der Greis, »ich will nicht, daß Sie schlecht von mir denken. Sehen Sie, ich hänge an diesem Platz. Ich höre die Messe hier lieber als anderswo. Warum? Ich will es Ihnen offen sagen. Von diesem Platz aus habe ich jahrelang alle zwei oder drei Monate einmal einen armen, braven Vater beobachtet, der keine andere Gelegenheit fand, seinen Sohn zu sehen, denn Familienzerwürfnisse hatten die beiden getrennt. So kam er hierher zur Stunde, da sein Sohn die Messe hörte. Der Junge ahnte wohl nicht, daß sein Vater hier war. Vielleicht wußte er in seiner Unschuld kaum, daß er überhaupt einen Vater hatte. Der Mann stand hinter dem Pfeiler, damit man ihn nicht sehen sollte, sah seinen Jungen an und weinte. Er liebte den Kleinen über alle Maßen, der arme Mensch. Seither ist mir dieser Ort heilig, und ich höre immer hier die Messe. Ich ziehe diesen Platz sogar dem in der Bank vor, auf den ich als Kirchenältester Anspruch habe. Ich habe übrigens diesen unglücklichen Mann ein wenig kennengelernt. Er hatte einen Schwiegervater, Verwandte, näheres weiß ich nicht, die den Jungen enterben wollten, wenn das Kind den Vater auch nur sähe. So hat sich der Mann geopfert, damit sein Sohn eines Tages reich und glücklich ist. Die Familienfeindschaft hatte politische Gründe. Ich begreife ja, daß man in der Politik seine eigene Meinung hat, aber manche Leute wissen keine Grenzen zu ziehen. Mein Gott, weil ein Mann bei Waterloo mitgekämpft hat, ist er noch kein Ungeheuer, um einer solchen Sache willen trennt man nicht Vater und Sohn. Der Mann war ein Oberst Bonapartes. Er ist schon tot, soviel ich weiß. Er lebte in Vernon, wo mein Bruder Pfarrer ist. Er hieß Pontmarie oder Montpercy … einen furchtbaren Säbelhieb hatte er im Gesicht.«
»Pontmercy«, sagte Marius erblassend.
»Richtig, Pontmercy. Haben Sie ihn gekannt?«
»Er war mein Vater«, sagte Marius.
Der Kirchenälteste faltete die Hände und rief aus:
»Sie sind der Junge?! Ach ja, jetzt muß es ja wohl schon ein Mann sein. Oh. Sie können wahrhaftig sagen, daß Ihr Vater Sie geliebt hat!«
Marius bot dem Greis seinen Arm und führte ihn nach Hause. Am nächsten Tag sagte er zu Gillenormand:
»Ich habe mit einigen Freunden eine längere Jagdpartie verabredet. Wollen Sie mich für drei Tage beurlauben?«
»Für vier«, erwiderte der Großvater. »Geh nur und amüsiere dich gut.«
Er blinzelte seiner Tochter zu und sagte:
»Da steckt ein Frauenzimmer dahinter!«
Ergebnisse des Gespräches mit dem Kirchenältesten
Wohin Marius fuhr, wird der Leser später erfahren. Er blieb drei Tage fort, dann kehrte er nach Paris zurück, eilte schnurgerade in die Bibliothek der Rechtsschule und verlangte die Sammelbände des »Moniteur«.
Er las den »Moniteur«, las die Geschichte der Republik und des Kaiserreichs, das Memorial von St. Helena, Zeitungen, Bulletins, Proklamationen. Alles verschlang er. Als er dem Namen seines Vaters zum erstenmal begegnete, hatte er eine Woche lang Fieber. Dann besuchte er alle alten Generäle, unter denen sein Vater gedient hatte. Den Kirchenältesten Mabeuf bat er, ihm von dem Leben in Vernon zu erzählen, von dem Alterssitz des Obersten, seiner Einsamkeit und seinen Blumen. Schließlich gelangte Marius so weit, das Leben dieses erhabenen und sanften Menschen, dieses Löwen und Lammes zugleich, ganz zu kennen.
Diese Beschäftigung nahm seine ganze freie Zeit, all seine Gedanken in Anspruch, so daß er sich bei den Gillenormands kaum mehr blicken ließ. Bei den Mahlzeiten erschien er; suchte man ihn später, so war er fort. Die Tante murrte. Papa Gillenormand lächelte.
»Na, er kommt jetzt in die Zeit«, sagte er. »Teufel, der legt sich aber ins Zeug! Mir scheint, das ist eine wahre Leidenschaft.«
Gleichzeitig vollzog sich in Marius eine vollständige geistige Wandlung. Die Geschichte, die er studierte, wurde ihm eine neue Wahrheit.
Zuerst blendete sie ihn. Republik, Kaiserreich, alles das waren für ihn bisher nur Worte gewesen. Die Republik – eine Guillotine in der Dämmerung, das Kaiserreich ein Säbel in der Nacht. Wo er nur Finsternis zu finden glaubte, hatte er mit unerhörtem Staunen, in das sich Furcht und Freude mischte, edle Sterne erstrahlen sehen. Er wußte nicht, wohin er geraten war. Der Glanz des Ruhmes blendete ihn. Sobald die erste Verwunderung vorüber war, gewöhnte er sich daran, er begann wieder klar zu sehen und prüfte die Gestalten der Geschichte unvoreingenommen. Jetzt nahmen Republik und Kaiserreich neue Gestalten an. Beide stellten gewaltige Taten dar. Die Republik bedeutete die Wiedereroberung der Menschenrechte durch das Volk, das Kaiserreich den Siegeszug der französischen Idee durch Europa. Er sah in der Revolution die gewaltige Erscheinung des Volkes, im Kaiserreich die Riesengestalt Frankreichs sich aufrecken. Und er begriff, daß dies alles gut gewesen sei.
Plötzlich war ihm klar, daß er bis zu diesem Augenblick weder sein Land noch seinen Vater begriffen hatte. Weder sein Land noch seinen Vater hatte er gekannt, hatte in einer Art freiwilliger Blindheit gelebt.
Jetzt beklagte er, daß er nur mehr vor einem Grabe sagen konnte, was seine Seele bedrückte. Der Kummer darüber ließ ihm keine Ruhe, jeder Atemzug war ein Seufzen, und er wurde strenger, ernster und seines Glaubens sicherer. Immer neue Erkenntnisse erschlossen sich ihm. Es war ein einziges großes, inneres Wachsen.
Als dieser geheimnisvolle Prozeß beendigt war, der aus einem »Ultra« und Bourbonenanhänger einen Royalisten, einen Revolutionär, Demokraten, ja sogar Republikaner gemacht hatte, ging er zu einem Kupferstecher auf dem Quai des Orfèvres und bestellte hundert Visitenkarten auf den Namen:
Baron Marius Pontmercy.
Das war nur die logische Folgerung des Wandels, der sich in ihm vollzogen hatte und der von seinem Vater ausging. Da er aber keine Bekannten hatte und seine Karten doch nicht bei Pförtnern abgeben konnte, behielt er sie in der Tasche.
Eine weitere natürliche Folge dieser inneren Wandlung war, daß er sich im Ausmaße, in dem er seinem Vater näherkam, von seinem Großvater entfernte. Wir haben bereits gesagt, daß Gillenormands Charakter ihm unangenehm war. Die Heiterkeit des Geronten widerstrebt der Melancholie eines Werther. Solange gemeinsame politische Anschauungen die beiden verbanden, konnte Marius Gillenormand auf einer Brücke entgegenkommen. Jetzt war die Brücke eingestürzt, eine Kluft trennte die beiden. Insbesondere aber empörte es Marius, daß es ja Gillenormand war, der ihn aus albernen Gründen mitleidlos von seinem Vater getrennt hatte.
Doch ließ er von allem nichts merken. Nur wurde er immer kälter. Bei den Mahlzeiten war er lakonisch, im Hause sah man ihn selten. Wenn seine Tante murrte, war er höflich und entschuldigte sich mit Studien, Examen, Vorträgen und Kursen.
Auf einer seiner kleinen Reisen war er nach Montfermeil gekommen, um dem Wunsch seines Vaters zu folgen, und hatte den alten Sergeanten von Waterloo, den Herbergswirt Thénardier, gesucht. Thénardier war in Konkurs gegangen, und man wußte nicht, was aus ihm geworden war. –
»Weiß Gott«, sagte der Großvater, »er schlägt über die Stränge!«
Man glaubte bemerkt zu haben, daß er auf der Brust unter dem Hemd einen Gegenstand trug, der an einem schwarzen Bande hing.
Irgendein Frauenzimmer
Wir sprachen schon von einem Lanzenreiter.
Das war ein Großneffe des Herrn Gillenormand, der fern von der Familie und allen häuslichen Herden ein Garnisonleben führte. Leutnant Théodule Gillenormand erfüllte alle Bedingungen, die nötig sind, um für einen hübschen Offizier zu gelten. Er hatte eine Taille wie ein Mädchen, eine fabelhafte Art, den Säbel zu schleppen, und einen Mordsschnurrbart. Er kam sehr selten nach Paris. So selten, daß Marius ihn noch nie gesehen hatte. Théodule war, wie wir wohl schon angedeutet haben, der Günstling der Tante Gillenormand.
Eines Morgens war Fräulein Gillenormand die Ältere so erregt, wie sie nur sein konnte. Marius hatte schon wieder von seinem Großvater Urlaub zu einer kleinen Reise erlangt. Auch sie glaubte jetzt an ein mehr oder weniger lasterhaftes Abenteuer, an eine dunkle Frauengeschichte, und sie beschloß, die Sache unter ihre Brille zu nehmen. Einem Geheimnis nachzuspüren – das ist auch für Heilige ein Vergnügen. Bigotterie und Freude am Skandal sind oft verbündet.
Sie war also die Beute wilder Neugierde.
Eben beschäftigt, mit einer mühsamen Handarbeit ihre Nerven zu beruhigen, hörte sie, wie die Tür geöffnet wurde. Sie hob die Nase, da stand Leutnant Théodule vor ihr und grüßte stramm. Man mag alt sein, prüde, gottergeben, Tante sogar, einen Lanzenreiter sieht man immer gern in seinem Zimmer.
»Du bist es, Théodule!«
»Auf der Durchreise, Tante.«
»Umarme mich!«
Er gehorchte. Tante Gillenormand trat zu ihrem Sekretär und schloß ihn auf.
»Du bleibst doch diesmal mindestens eine Woche?«
»Tantchen, ich reise heute abend.«
»Unmöglich!«
»Aber mit mathematischer Genauigkeit vorgezeichnet.«
»Aber wenn ich dich bitte, kleiner Théodule?«
»Das Herz sagt ja, die Marschroute nein. Die Sache ist einfach. Garnisonwechsel. Früher Melun, jetzt Gaillon. Halbenwegs Paris. Da dachte ich: Tante besuchen.«
»Hier hast du etwas für deine Mühe.«
Sie steckte ihm zehn Louisdor in die Hand.
»Sagen Sie doch für mein Vergnügen, Tantchen.«
Théodule umarmte sie noch einmal, und sie genoß das Vergnügen, sich den Hals von der Verschnürung seines Uniformkragens ritzen zu lassen.
»Reitest du zu Pferd mit dem Regiment?«
»Nein, Tante, ich habe eine besondere Route. Mein Diener führt das Pferd, ich reise mit der Post. Übrigens muß ich Sie etwas fragen.«
»Was denn?«
»Mein Vetter Marius Pontmercy reist auch?«
»Woher weißt du das?« fragte die Tante gespannt.
»Ich war gleich nach meiner Ankunft auf der Post und habe einen Platz belegt. Da sah ich auf der Liste seinen Namen.«
»Der schlechte Kerl! Ach, dein Vetter ist kein so ordentlicher Bursche wie du. Jetzt sitzt er die ganze Nacht in der Postkutsche!«
»Wie ich.«
»Aber du tust es, weil es deine Pflicht ist, er nur aus Lasterhaftigkeit.«
»Hoho«, sagte Théodule.
Jetzt hatte Fräulein Gillenormand eine Idee. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte sie sich vor die Stirn geschlagen.
»Weißt du, daß dein Vetter dich nicht kennt?« fragte sie.
»Ich habe ihn einmal gesehen, aber er hat mich damals nicht seiner Aufmerksamkeit gewürdigt.«
»Ihr reist also zusammen?«
»Er auf dem Verdeck, ich im Coupé.«
»Und wohin?«
»Nach Andelys.«
»Also dorthin fährt Marius?«
»Wenn er nicht halbenwegs aussteigt. Ich für meinen Teil verlasse die Post in Vernon. Seine Route kenne ich nicht.«
»Denke dir nur, Marius! Was für ein scheußlicher Name! Was für eine Idee, ihn so zu nennen. Da ist doch Théodule viel schöner!«
»Ich möchte gerne Alfred heißen.«
»Hör mal, Théodule!«
»Ich höre ja, Tantchen.«
»Marius bleibt oft von zu Hause fort. Macht Reisen.«
»Soso!«
»Er schläft außer Haus.«
»Oho!«
»Und wir möchten gerne wissen, was dahintersteckt.«
Mit tiefster Ruhe erwiderte Théodule:
»Irgendein Frauenzimmer.«
»Offenbar«, rief die Tante, die glaubte, Herrn Gillenormand zu hören. »Tu uns einen Gefallen. Geh dem Marius ein wenig nach. Er kennt dich ja nicht, du hast es leicht. Suche dieses Frauenzimmer zu sehen und sage uns, was es damit auf sich hat. Es wird dem Großvater Spaß machen.«
Théodule hatte keine große Neigung zu solchen Diensten, aber die zehn Louis hatten auf ihn einen großen Eindruck gemacht, und er dachte, man könne es auf eine Fortsetzung ankommen lassen. Darum nahm er den Auftrag an und sagte:
»Ganz wie Sie wünschen, Tante.«
Ich als Duenna, dachte er belustigt.
Fräulein Gillenormand schloß ihn in ihre Arme.
»Er ist nicht wie du, Théodule, du würdest so etwas nicht tun. Du folgst der Disziplin, hältst dich streng an die Vorschriften, bist ein Mann mit Gewissen und Pflichtgefühl. Du würdest nicht deiner Familie entlaufen, um solch ein Geschöpf zu sehen.«
Der Kavallerist schnitt ein Gesicht wie ein Gauner, der wegen seiner Ehrlichkeit gelobt wird.
Am selben Abend stieg Marius in die Postkutsche, ohne zu ahnen, daß er einen Wächter bekommen hatte. Dieser Wächter allerdings hatte zunächst nichts Wichtigeres zu tun, als einzuschlafen. Er gab sich dem Schlaf der Gerechten hin. Argus schnarchte eine Nacht lang.
Im Morgengrauen hörte er den Kondukteur rufen:
»Vernon! Pferdewechsel in Vernon! Die Reisenden für Vernon aussteigen!«
Er wurde munter.
»Richtig«, murmelte er, »hier muß ich ja heraus!«
Allmählich ordneten sich seine Gedanken, die Tante fiel ihm ein, er gedachte der zehn Louis und des Auftrags, über Marius Bericht zu erstatten. Er mußte lachen.
Wahrscheinlich ist er schon längst ausgestiegen, dachte er, während er seinen Uniformrock zuknöpfte. In Boissy, Triel, Meulan oder sonstwo. Lauf ihm nach, Tantchen! Was soll ich ihr nur schreiben, der braven Alten?
In diesem Augenblick wurden vor der Fensterscheibe des Coupés zwei schwarze Hosenbeine sichtbar, die gerade vom Verdeck herabkletterten.
Es war Marius.
Ein Bauernmädchen stand vor dem Wagen, zwischen Pferden und Postillons, und bot den Reisenden Blumen zum Kauf.
Marius trat zu ihr und kaufte die schönsten aus ihrem Korb.
Holla, dachte Théodule und sprang aus dem Coupé, das ist ja interessant! Was mag das nur für ein Weib sein, dem er solche Blumen bringt? Das muß ja ein Prachtexemplar sein, nach dem Bukett zu schließen. Das muß man sich anschauen!
Jetzt war es nicht mehr sein Auftrag, sondern die persönliche Neugierde, die ihn veranlaßte, Marius zu folgen; er war gewissermaßen ein Hund, der auf eigene Rechnung jagt.
Marius achtete nicht auf Théodule. Elegante Damen stiegen aus der Kutsche. Er würdigte sie keines Blickes. Er schien nichts zu sehen.
Er ist liebestoll, dachte Théodule.
Marius ging zur Kirche.
Fabelhaft, dachte Théodule, die Kirche! Ein Rendezvous, geschmackvoll mit einer Messe verbunden, läuft immer gut ab. Man macht den Frauen besonders schöne Augen, wenn der liebe Gott zusieht.
Aber Marius trat nicht ein. Er ging um die Kirche herum und verschwand hinter einem der Strebepfeiler der Apsis.
Aha, sie treffen sich draußen, meinte Théodule. Jetzt aufgepaßt!
Auf den Zehenspitzen schlich er näher. Plötzlich blieb er verblüfft stehen.
Marius kniete, den Kopf in den Händen vergraben, vor einem Grabhügel. Ein schwarzes Holzkreuz am Kopfende des Grabes zeigte die Aufschrift:
Oberst Baron Pontmercy.
Marius schluchzte.
Marmor gegen Granit
Leutnant Théodule verlor vollkommen die Fassung. Ein peinliches, unanalysierbares Gefühl bemächtigte sich seiner, eine Mischung aus Scheu vor dem Grabe und Respekt vor dem Oberst. Als er zurücktrat, war in seiner Bewegung etwas wie Disziplin. Hier trat ihm der Tod mit großen Epauletten gegenüber, fast hätte Théodule salutiert.
Er wußte nicht, was er der Tante schreiben sollte, und beschloß, überhaupt nichts zu tun. Vielleicht wäre aus Théodules Entdeckung gar nichts geworden, wenn nicht durch einen jener Zufälle, die das Schicksal so gern in das menschliche Leben streut, die Szene von Vernon fast unmittelbar in Paris eine Art Pendant gehabt hätte.
Marius kam am dritten Tage frühmorgens von Vernon zurück, ging in das Haus seines Großvaters und eilte sofort in sein Zimmer; zwei Nächte in der Postkutsche hatten ihn ermüdet, und er empfand das Bedürfnis, sich irgendwie, etwa durch einen Besuch in der Schwimmschule, zu erfrischen; darum nahm er sich nur knapp die Zeit, seinen Rock zu wechseln und das schwarze Band abzulegen, das er immer um den Hals trug; dann eilte er in das Bad.
Gillenormand stand wie alle rüstigen Greise frühzeitig auf. Er hatte seinen Enkel zurückkommen gehört und eilte, so rasch wie ihn seine alten Beine trugen, in das Zimmer Marius’ hinauf, um ihn zu begrüßen und ein wenig auszuhorchen.
Aber der Junge war schneller hinabgelaufen, als der Greis hinaufsteigen konnte, und als Vater Gillenormand in die Mansarde trat, war Marius schon fort. Das Bett war noch unberührt, der Rock und das schwarze Band lagen darauf. Offenbar hatte ihr Besitzer sie arglos hier liegenlassen.
Das ist mir noch lieber, dachte Gillenormand.
Einen Augenblick später trat er triumphierend in den Salon, in dem Fräulein Gillenormand saß und an einer Stickerei arbeitete, deren Muster an die Räder eines Kabrioletts erinnerten. In der einen Hand hielt er den Rock, in der anderen das Halsband.
»Wir haben gesiegt! Gleich werden wir in das Geheimnis eindringen: jetzt lernen wir die geheimen Wege des Lasters kennen! Hier haben wir den Roman, hier haben wir das Porträt!«
In der Tat hing an dem Bund ein kleines Täschchen aus schwarzem Leder, einem Medaillon nicht unähnlich.
Der Greis betrachtete es einige Zeit lang, ohne es zu öffnen, gierig, entzückt und mit der Wut eines armen verhungerten Teufels, vor dessen Augen ein wunderbares Souper angerichtet wird – aber nicht für ihn.
»Es ist bestimmt das Porträt. Auf solche Dinge verstehe ich mich. Das trägt man nun zärtlich auf dem Herzen. Sind diese Burschen blöde! Irgendeine alberne Stumpfnase jedenfalls, vor der einem übel wird – die jungen Leute haben heute gar keinen Geschmack mehr!«
»Laß sehen, Vater«, sagte die alte Jungfer.
Aber sie fanden nur ein sorgsam zusammengefaltetes Stück Papier darin.
»Sie an ihn«, lachte Gillenormand, »ein Billetdoux!«
»Ach, wir wollen es lesen«, sagte die Tante und setzte die Brille auf.
Sie entfalteten das Papier und fanden folgendes:
»An meinen Sohn!
Der Kaiser hat mich auf dem Schlachtfelde von Waterloo zum Baron gemacht. Da die Restauration mir den Titel, den ich mit meinem Blut erkauft habe, verweigert, soll mein Sohn ihn annehmen und tragen. Er wird gewiß seiner würdig sein.«
Was Vater und Tochter empfanden, läßt sich schwer wiedergeben. Es war ihnen zumute, als ob ihnen aus einem Totenkopf ein eisiger Hauch entgegenwehte. Sie sprachen kein Wort. Endlich murmelte Gillenormand:
»Es ist die Handschrift des Säbelraßlers.«
Die Tante prüfte das Schriftstück und steckte es dann wieder in das Etui.
Im selben Augenblick fiel ein kleines, rechteckiges Paketchen, in blaues Papier gewickelt, aus der Rocktasche. Fräulein Gillenormand hob es auf und nahm es aus dem Umschlag. Es waren die Visitenkarten Marius’. Gillenormand las:
Baron Marius Pontmercy.
Der Greis schellte. Nicolette trat ein. Gillenormand nahm das Band, das Etui und den Rock, warf alles mitten im Salon zu Boden und rief:
»Schaffen Sie das Zeug hinaus!«
Eine lange Stunde verstrich in tiefstem Schweigen. Vater und Tochter saßen in ihren Stühlen, kehrten einander den Rücken und dachten offenbar dasselbe. Nach einer Stunde sagte Tante Gillenormand endlich:
»Nette Sache, das!«
Kurz nachher erschien Marius. Schon auf der Schwelle bemerkte er, daß sein Großvater eine seiner Visitenkarten in Händen hielt; und im selben Augenblick begann der Alte mit dem ganzen überlegenen Hohn des Großbürgers zu schimpfen.
»Hoho, du bist jetzt Baron! Alle Achtung! Und was soll das bedeuten?«
Marius errötete leicht, dann antwortete er:
»Das bedeutet, daß ich der Sohn meines Vaters bin.«
Sofort hörte Gillenormand auf zu lachen und antwortete hart:
»Dein Vater bin ich.«
Mit niedergeschlagenen Augen und finsterer Miene antwortete Marius:
»Mein Vater war ein bescheidener und kühner Mann, der der Republik und Frankreich ruhmvoll gedient hat, Anteil genommen hat und groß war in dem herrlichsten Teil der Geschichte, der je von Menschen erlebt worden ist, ein Mann, der ein Vierteljahrhundert im Feldlager zugebracht hat, sich bei Tag dem Feuer der Gewehre und Kanonen, des Nachts dem Regen, Sturm und Schnee ausgesetzt hat, der zwei Fahnen eroberte, zwanzigmal verwundet wurde und elend und verlassen starb und der nur einen einzigen Fehler beging, nämlich den, zwei Undankbare allzusehr zu lieben, sein Land und seinen Sohn.«
Das war mehr, als Gillenormand ertragen konnte. Bei dem Wort Republik war er aufgestanden oder, besser gesagt, aufgefahren. Jedes Wort Marius’ übte auf das Gesicht dieses alten Royalisten dieselbe Wirkung aus wie ein Blasebalg auf glühende Kohlen. Er war purpurrot geworden.
»Marius«, brüllte er, »abscheulicher Junge, ich weiß nicht, wer dein Vater war, und ich will es nicht wissen! Nichts weiß ich, gar nichts, aber eins weiß ich, daß alle diese Kerle nur Schurken waren! Alle zusammen nur Bettler, Mörder, verfluchte Rotmützen, Diebsgesindel! Alle, sage ich, alle! Verstehst du? Du bist als Baron nicht mehr als mein Pantoffel! Alle waren sie Banditen, diese Schufte, die dem Robespierre dienten, alle Verräter, Verräter an ihrem rechtmäßigen König. Feiglinge, die vor den Preußen und Engländern in Waterloo davongerannt sind! Das weiß ich. Wenn dein Herr Vater einer von denen war, so will ich nichts davon wissen, und es ist schlimm genug.«
Jetzt war Marius Feuer und Gillenormand Blasebalg.
Der Junge zitterte an allen Gliedern, seine Stirn brannte. Endlich hob er die Augen, sah seinem Großvater starr ins Gesicht und brüllte:
»Nieder mit den Bourbons, nieder mit diesem fetten Schwein Ludwig XVIII.!«
Ludwig XVIII. war in diesem Augenblick bereits vier Jahre tot, aber das war ja gleichgültig.
Der Greis wurde jetzt ebenso weiß wie seine Haare. Zweimal ging er langsam und schweigend vom Kamin bis zum Fenster, so schwer, daß die Dielen krachten, wie eine Statue aus Stein. Jetzt neigte er sich zu seiner Tochter herab, die verschüchtert wie ein altes Schaf dasaß, und sagte mit einem fast ruhigen Lächeln:
»Ein Baron wie der Herr und ein Bürger wie ich können nicht unter dem gleichen Dach leben.«
Gleich darauf fuhr er wieder hoch und schrie, den Arm ausstreckend:
»Raus!«
Marius verließ das Haus.
Am nächsten Tage sagte Gillenormand zu seiner Tochter:
»Du schickst diesem Blutsauger halbjährlich sechzig Pistolen und sprichst niemals von ihm.«
Anwärter auf die Weltgeschichte
Jene Zeit war nur scheinbar apathisch. Überall regten sich revolutionäre Instinkte. Der Geist von neunundachtzig und zweiundneunzig war wieder in der Luft. In der Jugend regte es sich. Ohne es selbst zu merken, folgten die Menschen dem Drang der Zeit, eine Wandlung vollzog sich in ihnen. Der Uhrzeiger, der unaufhaltsam vorschreitet, bewegte sich auch in den Seelen. Jeder tat seinen Schritt vorwärts, die Royalisten wurden liberal, die Liberalen Demokraten.
Es gab damals in Frankreich noch nicht jene gewaltigen Geheimorganisationen wie den Tugendbund in Deutschland und die Carbonari in Italien; aber im Dunkel rührte es sich bereits. Die Cougourd wurde in Aix gegründet; in Paris gab es unter anderen ähnlichen Bruderschaften dieser Art die Gesellschaft der Freunde des ABC.
Wer waren diese ABC-Leute? Eine Gesellschaft, die es sich angeblich zum Ziele gesetzt hatte, für die Kindererziehung zu wirken, in Wirklichkeit aber die Erweckung der Erwachsenen betrieb. Es waren ihrer nicht viele; eine Geheimgesellschaft, gewissermaßen noch im Embryonalzustand. In Paris hatte sie zwei Versammlungslokale, bei den Halles, eine Kneipe namens Corinthe, am Panthéon ein kleines Café, das Café Musain; Corinthe war das Versammlungslokal der Arbeiter, Café Musain das der Studenten.
Die regelmäßigen Zusammenkünfte der Freunde des ABC fanden in einem Hinterzimmer des Café Musain statt. Dieser Raum lag ziemlich abseits und wurde nur durch einen langen Gang mit zwei Fenstern und einem Seitenausgang nach der Rue de Grès mit den Geschäftsräumen verbunden. Hier rauchte, trank, spielte und lachte man. Laut unterhielt man sich über allerlei, leise über anderes. An der Wand hing, genügend, um den Spürsinn eines Polizeiagenten zu wecken, eine Karte der Republik Frankreich.
Die meisten Freunde des ABC waren Studenten, die mit den Arbeitern auf gutem Fuß standen. Die wichtigsten wollen wir nennen, denn sie gehören ja gewissermaßen der Geschichte an: Enjolras, Combeferre, Jean Prouvaire, Feuilly, Courfeyrac, Bahorel, Lesgle, oder Laigle, Joly, Grantaire. Untereinander waren diese jungen Leute eine große Familie, zusammengehalten durch die Bande der Freundschaft. Alle außer Laigle stammten aus dem Süden.
Einer unter diesen jungen Leuten war ein Kahlkopf.
Der Marquis d’Avarai, den Ludwig XVIII. zum Herzog gemacht hatte, weil er ihm am Tage seiner Flucht in den Wagen geholfen, erzählt in seinen Memoiren, daß der König 1814, als er in Calais an Land ging, einen Mann mit einer Bittschrift in Audienz empfing.
»Was wollen Sie?« fragte der König.
»Sire, eine Bestallung als Postmeister.«
»Wie heißen Sie?«
»L’Aigle.«
Der König runzelte die Stirn und warf einen Blick auf die Bittschrift, auf der der Name Lesgle geschrieben war. Diese antibonapartistische Orthographie gefiel ihm, und er mußte lächeln.
»Sire«, sagte der Mann, »einer meiner Ahnen war ein Hundewärter, dem gab man den Spitznamen Lesgueules, die Mäuler. Daraus wurde ein Familienname. Ich heiße eigentlich Lesgueules, zusammengezogen Lesgle und entstellt l’Aigle.«
Wieder mußte der König lachen. Später bekam jener Mann das Postamt von Meaux.
Der Kahle unter den Freunden des ABC war ein Sohn jenes Lesgle oder Lègle. Seine Freunde nannten ihn Bossuet.
Bossuet war ein lustiger Bursche, der sehr viel Pech hatte. Seine besondere Geschicklichkeit war es, nichts zuwege zu bringen. Und immer lachte er über sein Mißgeschick. Schon als Siebenundzwanzigjähriger war er kahl. Sein Vater hatte es bis zum Besitzer eines Hauses und eines Stücks Ackerland gebracht, aber der Sohn brachte es zuwege, falsch zu spekulieren und Haus und Grund zu verlieren. Nichts war ihm geblieben. Er besaß Geist und Kenntnisse, aber er wußte nichts damit anzufangen. Alles trog, alles täuschte ihn. Wenn er Holz spalten wollte, traf er seinen Finger. Glaubte er eine Geliebte zu haben, so mußte er bald bemerken, daß er durch sie auch einen Freund hatte. Immer passierte ihm etwas, immer war er jovial und lustig. Er sagte selbst von sich:
»Ich wohne unter einem Dach, dessen Ziegel sehr locker sitzen.«
Bossuet hält eine Leichenrede auf Blondeau
Eines Nachmittags stand Laigle aus Meaux gemütlich an den Türpfosten des Café Musain gelehnt. Er sah aus wie eine Karyatide auf Urlaub. Er trug nichts als seine träumerischen Gedanken.
So blickte er auf den Platz Saint-Michel hinaus. Seine Nachdenklichkeit hinderte weder ein Kabriolett vorüberzufahren, noch ihn selbst, davon Kenntnis zu nehmen. Laigle sah hin. In dem Gefährt saß ein junger Mann, der einen ziemlich umfangreichen Reisesack vor sich liegen hatte, und auf diesem Reisesack stand so groß, daß jedermann es lesen konnte:
Marius Pontmercy.
Dieser Name veranlaßte Laigle, seine Stellung zu verändern. Er wandte sich um und rief:
»Herr Pontmercy!«
Das Kabriolett hielt an.
Der junge Mann, der darin saß, schien ebenfalls in Gedanken versunken; jetzt blickte er auf.
»Nun?«
»Sind Sie Herr Marius Pontmercy?«
»Ohne Zweifel.«
»Ich suche Sie …«
»Wieso denn?« fragte Marius. »Ich kenne Sie doch gar nicht.«
»Ich Sie auch nicht.«
Marius glaubte es mit einem Spaßvogel zu tun zu haben, der ihn mitten auf der Straße mystifizieren wollte. Er war augenblicklich nicht bei Laune und runzelte die Stirn. Aber Laigle ließ sich nicht einschüchtern.
»Sie waren vorgestern nicht im Kolleg?«
»Wohl möglich.«
»Es ist nicht nur möglich, es ist sogar sicher, Herr.«
»Sind Sie Student?«
»Ja, so gut wie Sie. Vorgestern war ich zufällig dort. Sie wissen, man kommt manchmal auf solche Einfälle. Da kam der Professor auf die Idee, die Namen zu verlesen. Sie wissen wohl, die Herren scheuen manchmal nicht, sich auf diese Weise lächerlich zu machen. Wer zum drittenmal fehlt, wird von den Listen gestrichen. Sechzig Franken Gebühren sind beim Teufel.«
Marius war aufmerksam geworden.
»Es war Blondeau, der die Namen verlas. Sie kennen doch diesen Blondeau, diesen spitznasigen Bosngl, der sich einen Spaß daraus macht, die Schwänzer zu erwischen. Tückischerweise begann er mit dem Buchstaben P. Ich hörte nicht zu, denn beim P kann ich mich nicht kompromittieren. Es ging ganz gut, alle Welt war da. Blondeau tief betrübt. Blondeau, dachte ich, Geliebtes, heute erwischst du nichts. Da rief er gerade: Marius Pontmercy! Niemand antwortet. Blondeau wiederholt hoffnungsvoll: Pontmercy! Schon greift er nach der Feder. Herr, ich habe ein Herz, ich dachte: da soll einer hereinspringen, Vorsicht! Das ist ein anständiger Kerl, der nicht auf die Ordnung achtet. Kein Musterjunge. Kein Bursche mit Blei im Hintern, nicht so ein Stucker, Streber. Das ist ein ehrenwerter Faulpelz, der spazierengeht, etwas für die Natur übrig hat, der Kultur der Grisetten dient, den Schönen den Hof macht und vielleicht eben bei seiner Mätresse liegt. Retten wir ihn. Nieder mit Blondeau!
Der hatte jetzt die Feder eingetaucht, ließ seine Tigeraugen durch das Auditorium schweifen und rief zum drittenmal: Marius Pontmercy! Da antwortete ich: ›Hier!‹ Und dadurch sind Sie auf der Liste geblieben.«
»Herr!« rief Marius.
»Dafür bin ich gestrichen worden«, versicherte Laigle aus Meaux.
»Das versteh ich nicht.«
»Nichts einfacher als das. Ich saß ganz vorn. Der Professor stierte mich an. Dieser Blondeau scheint eine Nase zu haben. Plötzlich springt er von P auf L über. L ist mein Buchstabe. Ich bin aus Meaux und heiße Lesgle.«
»Laigle«, unterbrach Marius, »welch schöner Name!«
»Kurz, dieser Blondeau kommt zu meinem schönen Namen und ruft: ›Laigle!‹ ›Hier!‹ rufe ich. Blondeau betrachtet mich mit jener Güte, die den Tigern eigentümlich ist, lächelt und sagt: ›Wenn Sie Pontmercy sind, sind Sie nicht Laigle.‹ Das ist eine Feststellung, an der Ihnen nichts liegen kann, für mich aber war sie unangenehm. Ich wurde gestrichen.«
»Aber, mein Herr, ich hin außer mir!«
»Vor allem«, unterbrach Laigle, »erbitte ich von Ihnen die Erlaubnis, über Herrn Blondeau einige Worte des Lobes äußern zu dürfen. Ich nehme an, daß er tot ist. Bei seiner Magerkeit und Blässe, bei seinem Geruch hat er nicht viel zu leisten, um diesen letzten Schritt zu tun. Und darum sage ich: Erudimini qui judicatis terram! Hier ruht Blondeau, Blondeau die Nase, Blondeau Nasica, der Disziplinochse, bos disciplinae, die Säule der Ordnung, der Engel der Namensverlesung, der gerecht, rechtschaffen, pünktlich, ehrenwert und abscheulich war. Gott hat ihn von der Liste gestrichen, wie er mich strich.«
»Aber ich bin verzweifelt …«
»Junger Mann«, sagte Laigle aus Meaux, »möge Ihnen dies eine Lehre sein, gehen Sie in Hinkunft pünktlicher ins Kolleg.«
»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung!«
»Setzen Sie sich in Zukunft nicht der Gefahr aus, daß Ihr Nächster gestrichen wird.«
»Ich bin verzweifelt …«
»Und ich bin entzückt«, erwiderte Laigle. »Schon war ich im Begriff, jenen Abhang hinunterzurollen, an dessen tiefster Stelle man Advokat wird. Diese Streichung rettet mich. Ich entsage den Triumphen der Advokatur! Ich werde weder Witwen verteidigen, noch Waisen schädigen. Adieu, Toga, adieu, lange Konzipientenzeit! Das verdanke ich Ihnen. Selbstverständlich werde ich Ihnen eine feierliche Dankvisite abstatten. Wo wohnen Sie?«
»In diesem Kabriolett.«
»Ein Zeichen von Verschwendungssucht«, erwiderte Laigle ruhig. »Ich gratuliere. Dieses Zimmer kostet neuntausend Franken jährlich.«
In diesem Augenblick trat Courfeyrac aus dem Café.
Marius lächelte traurig.
»Ich bin erst vor zwei Stunden hier eingezogen und hoffe bald wieder heraus zu können; es ist die alte Geschichte, ich weiß nicht, wo ich hin soll.«
»Kommen Sie zu mir«, schlug Courfeyrac vor.
»Ich habe ältere Rechte«, bemerkte Laigle, »aber ich kann sie nicht geltend machen, da ich selbst keine Wohnung habe.«
»Schweig doch, Bossuet!« erwiderte Courfeyrac.
»Bossuet?« fragte Marius, »ich dachte, Sie hießen Laigle.«
»Laigle aus Meaux; nur metaphorisch Bossuet.«
Courfeyrac stieg in den Wagen.
»Kutscher«, rief er, »Hôtel de la Porte-St.-Jacques!«
Und am selben Abend bezog Marius in jenem Hotel das Zimmer neben Courfeyrac.
Marius wundert sich
Schon nach wenigen Tagen war Marius Courfeyracs Freund. Die Jugend ist die Zeit rascher Brüche und schneller Heilungen. Bei Courfeyrac konnte Marius frei aufatmen, und das war ihm neu. Man fragte ihn nichts. Er brauchte nicht an irgend etwas zu denken. Übrigens sagen ja in diesem Alter die Gesichter alles. Worte sind unnütz.
Eines Morgens fragte Courfeyrac ihn unvermittelt:
»Apropos, haben Sie eigentlich eine politische Meinung?«
»Na, wissen Sie«, meinte Marius fast beleidigt.
»Was sind Sie denn?«
»Bonapartistischer Demokrat.«
»Die Farbe der Mäuschen, die sich nicht mehr vor der Katze fürchten«, meinte Courfeyrac.
Und am nächsten Tag führte er ihn im Café Musain ein.
»Ich muß Sie mit der Revolution in Fühlung bringen«, flüsterte er beim Eintreten.
Marius wurde den Freunden des ABC vorgestellt:
»Ein Schüler.«
Er geriet in ein Wespennest der Geister. Bisher war er ein Einsiedler gewesen, der den Monolog pflegte, und darum war er zunächst verschüchtert, als er so viele junge Leute um sich sah. Das erregte Auf und Ab der Ideen verwirrte ihn. Manchmal verstiegen sie sich in Regionen, in die er ihnen kaum folgen konnte. Er hörte von Philosophie, Literatur, Kunst, Geschichte und Religion auf eine Weise sprechen, die ihn überraschte. Als er die Ansichten seines Großvaters mit denen seines Vaters vertauscht hatte, war er der Meinung gewesen, jetzt habe er eine Grundlage für sein Leben geschaffen. Beunruhigt, und ohne es sich recht einzubekennen, merkte er jetzt, daß er voreilig gewesen war. Wieder verschob sich der Gesichtswinkel, in dem er die Dinge sah. Er litt fast darunter.
Übrigens schien es, daß es für diese jungen Leute nichts Heiliges gab. Über alles wurde höchst sonderbar und in einer Weise gesprochen, die Marius’ schüchternen Geist verletzte. Niemand sagte hier: der Kaiser. Jean Prouvaire nannte ihn Napoléon, die andern sagten Bonaparte, Enjolras sogar Buonaparte. Marius wunderte sich. Initium sapientiae.
Res angusta
Die Wirklichkeit des Lebens ließ sich nicht verdrängen. Mit erstaunlicher Ellbogenkraft machte sie sich geltend.
Eines Morgens trat der Hotelwirt in Marius’ Zimmer und sagte:
»Herr Courfeyrac hat für Sie gebürgt.«
»Ja.«
»Aber ich brauche Geld.«
»Bitten Sie Courfeyrac zu mir.«
Marius erzählte Courfeyrac, daß er so ziemlich allein in der Welt stünde und keine Verwandten habe; bisher hatte er nicht daran gedacht, es ihm zu sagen.
»Nun, was soll werden?« fragte Courfeyrac.
»Ich weiß nicht.«
»Was wollen Sie tun?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Haben Sie Geld?«
»Fünfzehn Franken.«
»Soll ich Ihnen welches leihen?«
»Gott bewahre!«
»Haben Sie Kleider?«
»Was Sie hier sehen.«
»Schmuck?«
»Eine Uhr.«
»Ist sie von Silber?«
»Von Gold, sehen Sie.«
»Ich weiß einen Händler, der Ihnen Ihren Rock und Ihre Hosen abnehmen wird.«
»Gut.«
»Aber Sie haben dann nur mehr eine Hose, eine Weste, einen Hut und einen Stock.«
»Und meine Schuhe.«
»Was, nicht einmal barfuß müssen Sie laufen? Welch ein Luxus!«
»Es wird reichen.«
»Und einen Uhrmacher weiß ich, der Ihre Uhr kaufen wird.«
»Gut.«
»Nein, das ist gar nicht gut. Was werden Sie nachher tun?«
»Alles, was notwendig ist. Zumindestens alles, was anständig ist.«
»Können Sie Englisch?«
»Nein.«
»Deutsch?«
»Nein.«
»Schade.«
»Warum?«
»Einer meiner Freunde, ein Verleger, gibt eine Art Lexikon heraus, für das Sie deutsche und englische Artikel übersetzen könnten. Übersetzungen werden schlecht bezahlt, aber man lebt davon.«
»Gut, ich werde Englisch und Deutsch lernen.«
»Und bis dahin?«
»So lange kann ich meine Kleider und meine Uhr aufessen.«
Man ließ den Händler kommen. Er zahlte für die Kleider zwanzig Franken. Der Uhrmacher gab für die Uhr fünfundvierzig.
»Ist nicht einmal übel«, meinte Marius zu Courfeyrac, »mit meinen fünfzehn Franken macht das achtzig.«
»Und die Hotelrechnung?«
»Holla, die habe ich vergessen!«
Der Wirt präsentierte seine Rechnung, die sofort beglichen werden mußte. Sie belief sich auf siebzig Franken.
»Jetzt bleiben mir noch zehn.«
»Hol’s der Teufel«, meinte Courfeyrac, »fünf, um Englisch zu lernen, und fünf für Deutsch. Sie werden die Sprachen entweder sehr rasch lernen oder mit einem Hundertsousstück sehr lang leben müssen.«
Inzwischen hatte Tante Gillenormand Marius’ Wohnung ausfindig gemacht. Als Marius eines Morgens von der Universität nach Hause kam, fand er einen Brief und die sechzig Pistolen, also sechshundert Franken in Gold, in einer versiegelten Schachtel.
Marius schickte das Geld seiner Tante zurück und richtete einen sehr höflichen Brief an sie, in dem er behauptete, seine Existenz sei gesichert und er könne sich von nun an selbst erhalten. Er besaß damals gerade noch drei Franken.
Und damals verließ Marius das Hotel, um nicht noch tiefer in Schulden zu sinken.
Marius in Not
Das Leben wurde hart für Marius. Seine Kleider und seine Uhr aufessen, ist das Schlimmste nicht, aber bald mußte er auch diese Nahrung gegen das Hungertuch eintauschen. Wie schrecklich sind Tage ohne Brot, Nächte ohne Schlaf, Abende ohne Kerze, ungeheizte Zimmer, Wochen ohne Arbeit, eine hoffnungslose Zukunft, durchgescheuerte Ellbogen, alte Hüte, über die junge Mädchen lachen, eine Türe, die man des Abends verschlossen findet, weil man die Miete nicht bezahlt hat, unverschämte Bemerkungen des Portiers und des Wirts, Hohn der Nachbarn, Demütigungen, peinliche Arbeiten, die man übernommen hat, Ekel, Bitterkeit, Kummer. Marius lernte, wie man alles das hinunterschluckt – und wie es oft das einzige ist, was man zu schlucken hat. Gerade in jenem Alter, in dem der Mensch den Stolz braucht, weil er die Liebe sucht, fühlt er, daß man sich über ihn lustig macht, weil er schlecht gekleidet ist, und ihn verlacht, weil er Not leidet. Es ist eine furchtbare und herrliche Probe, aus der die Schwachen vernichtet, die Starken veredelt hervorgehen.
Es gab in Marius’ Leben eine Zeit, da kehrte er selbst den Boden seines Zimmers, kaufte für einen Sou Käse aus Brie bei der Gemüsehändlerin, wartete bis Einbruch der Nacht, um zu einem Bäcker zu eilen und ein einziges Brötchen zu kaufen, das er scheu forttrug, als ob er es gestohlen hätte.
Er trug noch Trauer um seinen Vater, als diese Zeit anfing. Später hatte er die Gewohnheit beibehalten, in Schwarz zu gehen. Aber die schwarzen Gewänder blieben nicht bei ihm. Es kam der Tag, da alles fehlte. Nur die Hose ging noch. Was tun? Courfeyrac, dem er seinerzeit einige Dienste geleistet hatte, gab ihm einen alten Rock. Den ließ Marius von einem Portier für dreißig Sous wenden, so hatte er einen neuen. Aber dieser Rock war grün. Darum ging Marius jetzt nur mehr nach Dunkelheit aus. Dann war sein Rock auch schwarz. Er wollte in Trauer gehen, also kleidete er sich in die Nacht.
Trotz allem erlangte er den Advokatenrang. Er hatte vorgetäuscht, daß er Courfeyracs Zimmer bewohnte, das einigermaßen anständig aussah und in dem einige Rechtshandbücher und Romane herumstanden: das war die Bibliothek, die das Reglement verlangte.
Auch seine Post ließ er dahin richten.
Marius arm
Mit dem Elend ist es wie mit allem. Schließlich wird es erträglich. Es nimmt eine bestimmte Form an. Man vegetiert, man entwickelt sich auf eine bestimmte jämmerliche Weise, aber dem Leben geschieht Genüge.
Und so richtete Marius Pontmercy sich ein.
Durch Fleiß, Mut und Zähigkeit war es ihm gelungen, sich ein Einkommen von etwa siebenhundert Franken jährlich zu schaffen. Er hatte Deutsch und Englisch gelernt. Dank Courfeyrac, der ihn mit seinem Freunde, dem Verleger, bekannt gemacht hatte, konnte er kleinere Arbeiten bekommen. Er verfaßte Prospekte, übersetzte Zeitungsartikel, versah Neuausgaben mit Anmerkungen, kompilierte Biographien – kurz, er verdiente schlecht und recht seine siebenhundert Franken. Davon lebte er. Wie? Nicht so schlecht! Man wird gleich sehen.
Er bewohnte im Gorbeauschen Hause ein Loch ohne Kamin, das sich Kabinett nennen ließ und in dem es an Möbeln nur das Unentbehrlichste gab; dafür zahlte er jährlich dreißig Franken. Die Möbel gehörten ihm. Drei Franken monatlich gab er der alten Vermieterin, damit sie die Aufwartung besorgte, ihm jeden Morgen ein wenig warmes Wasser, ein frisches Ei und ein Brot für einen Sou brachte. Dieses Brot und dieses Ei waren sein Frühstück. Der Preis schwankte zwischen zwei und vier Sous, je nach der Jahreszeit, ob die Eier gerade billig oder teuer waren. Um sechs Uhr abends ging er in die Rue Saint-Jacques und speiste bei Rousseau, gegenüber von Basset, dem Kupferstichhändler, an der Ecke der Rue des Marthurins. Die Suppe ließ er aus. Er nahm ein Fleischgericht zu sechs Sous, eine halbe Portion Gemüse zu drei Sous und ein Dessert für drei Sous. Brot nach Belieben für drei Sous. Statt Wein Wasser. Wenn er am Büfett, wo Frau Rousseau immer noch fett und frisch residierte, seine Rechnung beglich, gab er noch einen Sou für den Kellner, was Frau Rousseau mit einem Lächeln quittierte. Dann ging er. Für sechzehn Sous ein Diner und einmal Lächeln.
Dieses Restaurant Rousseau, in dem so viele Wasserkaraffen und so wenig Weinflaschen geleert wurden, existiert heute nicht mehr. Der Besitzer hatte einen hübschen Spitznamen, er hieß allgemein der Wasserrousseau.
Frühstück vier Sous, Diner sechzehn Sous – macht zwanzig Sous täglich für Ernährung; also dreihundertfünfundsechzig Franken im Jahr. Dazu dreißig Franken Miete und sechsunddreißig für die Alte und einige Nebenausgaben; für vierhundertfünfzig Franken war Marius ernährt, quartiert und bedient. Seine Kleidung kostete ihn jährlich hundert Franken, die Wäsche fünfzig, die Waschfrau ebensoviel. Alles zusammen sechshundertfünfzig. Blieben fünfzig. Er war reich. Konnte gelegentlich einem Freund mit zehn Franken aushelfen. Courfeyrac hatte einmal von ihm fünfzig Franken entliehen. Was die Heizung betraf, hatte Marius die Sache sehr einfach – mangels eines Kamins.
Marius erwachsen
Er zählte damals zwanzig Jahre. Seit drei Jahren hatte er das Haus seines Großvaters verlassen. Seither war keine Annäherung, kein Versöhnungsversuch erfolgt. Übrigens, wozu hätte er ihn sehen sollen? Marius war ein Gefäß aus Erz, aber Gillenormand ein Topf aus Eisen.
Und dabei müssen wir offen eingestehen, daß Marius sich in seinem Großvater täuschte. Er bildete sich ein, Gillenormand habe ihn niemals geliebt, dieser kurze, harte, spöttische Mann, der immer fluchte, schrie, tobte und mit dem Stock drohte, habe für ihn höchstens eine flüchtige Zuneigung empfunden. Aber er irrte. Es gibt Väter, die ihre Söhne nicht mögen, aber es gibt keinen Großvater, der seine Enkel nicht liebt. Und Gillenormand vergötterte Marius. Er tat es auf seine Art, mit Püffen und Ohrfeigen, aber jetzt, da der Junge fort war, fühlte er eine düstere Leere in seinem Herzen. Er verlangte, daß von dem Burschen nicht mehr geredet werde, aber insgeheim ärgerte er sich, daß man ihm gehorchte. Anfangs hoffte er auch wohl, dieser Bonapartist, Jakobiner, Terrorist würde zurückkommen. Aber es vergingen Wochen und Monate, ja sogar Jahre, und zur größten Verzweiflung Gillenormands blieb der Blutsauger aus. Ich konnte doch nichts anderes tun, dachte er, ich mußte ihn hinauswerfen. Oder er überlegte: wenn ich mich noch einmal zu entscheiden hätte, täte ich es wieder? Sein Stolz antwortete rasch bejahend, aber dann schüttelte er traurig den alten Kopf und gestand leise, daß er es doch nicht getan hätte. Es kamen Stunden der Niedergeschlagenheit. Marius fehlte ihm.
Was die Tante betraf, so dachte sie viel zu wenig, um lieben zu können; für sie war Marius nur etwas Vages, Unbestimmtes; schließlich beschäftigte sie sich mit ihm weniger als mit der Katze oder mit dem Papagei; denn wir nehmen ohne weiteres an, daß sie einen besaß.
Während der Alte bedauerte, von seinem Enkel getrennt zu sein, freute Marius sich darüber. Ihm ging es wie allen guten Herzen, das Unglück befreite ihn von der Bitterkeit. Er dachte ohne Zorn an Gillenormand, aber er bestand darauf, nichts von dem Manne anzunehmen, der seinen Vater so schlecht behandelt hatte.
Als er aus dem Hause des Großvaters gejagt worden war, hatte er noch keinen Mann abgeben können. Jetzt aber war er erwachsen. Die Armut ist vor allem der Jugend nützlich, denn sie strafft den Willen zu Kraftleistungen und inspiriert die Seele. Sie zeigt das materielle Leben in seiner schrecklichen Nacktheit und lenkt alle Kräfte auf das Ideal. Ein reicher junger Mann findet hundert glänzende und grobe Zerstreuungen, Pferderennen, die Jagd, Hunde, Tabak, das Spiel, opulente Mahlzeiten und anderes mehr; Befriedigungen der niedrigen Instinkte auf Kosten der hohen. Ein armer junger Mann plagt sich um sein Brot, ißt sich gerade satt und überläßt sich dann der Träumerei. Er genießt die Schauspiele, zu denen Gott kostenlosen Eintritt gewährt, sieht den Himmel, die Sterne, die Kinder, alle die Menschen, unter denen er leidet. Er träumt, denkt an seine Größe, überwindet den Egoismus des Leidenden und läutert sich zum denkenden Wesen, das Mitleid empfindet. Jetzt wird ein erhabenes Gefühl in ihm wach, er vergißt sich selbst und empfindet für die andern. Bald wird er, der Millionär der Empfindungen, die Millionäre des Geldes beklagen. Im Ausmaß, in dem es in seiner Seele licht wird, schwindet der Haß. Das Elend eines jungen Menschen ist kein Elend. So furchtbaren Entbehrungen er auch ausgesetzt sein mag, mit seiner Gesundheit, seiner Kraft, seinem lebhaften Gang, seinen glänzenden Augen, seinem heißen Blut, seinen weißen Zähnen und seinem reinen Atem wird er immer noch einem alten Kaiser Neid einflößen. Tag für Tag verdient er sein Brot, wird aufrechter und stolzer, indessen sein Gehirn sich mit Gedanken bereichert. Ist sein Tagewerk vollendet, so gibt er sich seinen Freuden und Betrachtungen hin. Mit den Füßen steht er auf dem Boden der Kümmernis, der Hindernisse, aber seine Stirn ist von Licht überstrahlt.
So geschah es auch mit Marius. Vielleicht gab er sich ein wenig zu sehr den Freuden der Träumerei hin. Seit er ein sicheres Auskommen gefunden hatte, war er bescheiden geworden, fand es gut, arm zu sein, und suchte nicht mehr Arbeit, um ganz seinen Gedanken leben zu können. Manchmal verbrachte er Tage damit, nachzusinnen und wie ein Visionär den Stimmen seines Inneren zu lauschen. Er bemerkte nicht, daß die Besinnlichkeit die Formen der Faulheit annehmen kann; daß er sich vorzeitig begnügt hatte, nur die dringendsten Lebensbedürfnisse zu decken.
Zweifellos bedeutete dieser Zustand für eine energische und hochherzige Natur wie die seine nur einen Übergang; auf den ersten Anhieb würde er erwachen und sich aufraffen.
Obwohl er Advokat war, klagte er niemand, klagte nicht einmal über sein eigenes Leben. Statt des Plädoyers übte er die Träumerei. Gründe austüfteln, zu den Gerichten laufen, das war langweilig. Wozu sollte er es auch? Er hatte keinen Grund, einen anderen Broterwerb zu suchen. Sein Verleger, ein Winkelverleger, bot ihm immerhin sichere Arbeit und einen Ertrag, der genügte.
Ein anderer, ich glaube, es war Magimel, bot ihm freie Station und fünfzehnhundert Franken jährlich an, wenn er eine regelmäßige Arbeit leistete. Eine angenehme Wohnung! Fünfzehnhundert Franken! Das waren ohne Zweifel Vorteile. Aber sollte er seiner Freiheit entsagen! Ein Gehaltsempfänger werden?
Nach Marius’ Meinung mußte sich seine Lage, wenn er annähme, verbessern und zugleich verschlechtern, denn er gewann an materiellen Gütern, verlor aber an Würde; an Stelle schöner Not würde etwas Häßliches, Lächerliches treten. Er lehnte ab.
Insgesamt hatte er nur zwei Freunde, einen jungen, Courfeyrac, und einen alten, Mabeuf. Den alten zog er vor. Er war es, der den Anstoß zu seiner ganzen Entwicklung gegeben hatte, durch ihn hatte er seinen Vater kennen- und liebengelernt.
Er hat mir den Star gestochen, sagte er.
Spitznamen werden zu Familiennamen
Zur Zeit seines tiefsten Elends hatte Marius beobachtet, daß die Mädchen sich umwandten, wenn er vorüberging; dann lief er davon oder versteckte sich, den Tod in der Seele. Er glaubte, man sähe ihm wegen seiner alten Kleider nach und verlache ihn; in Wirklichkeit aber warf man ihm Blicke zu, weil er gefiel.
Dieses stumme Mißverständnis hatte ihn menschenscheu gemacht. Er wählte sich keine Geliebten, aus dem zwingenden Grund, weil er alle mied. Er lebte gleichgültig oder, wie Courfeyrac sagte, blöde vor sich hin.
Wenn Courfeyrac ihm begegnete, begrüßte er ihn oft:
»Tag, Herr Abbé!«
Und doch gab es auf dieser Welt zwei Frauen, die Marius nicht mied und vor denen er sich nicht versteckte. Er wäre auch höchst verwundert gewesen, wenn man ihn darauf hingewiesen hätte, daß es Frauen waren. Die eine war die bärtige Alte, die sein Zimmer fegte, die andere ein ganz junges Mädchen, das er oft sah und dem er keinen Blick schenkte.
Seit mehr als einem Jahr bemerkte Marius in einer verlassenen Allee des Luxembourg-Gartens, in der Allee, die an der Baumschule entlang läuft, einen Mann und ein sehr junges Mädchen; fast immer saßen sie auf der Bank am Ende der einsamen Allee. Und sooft der Zufall, der ja die Spaziergänge der Träumer lenkt, Marius in diese Allee führte, und das geschah fast täglich, begegnete er diesem Paar. Der Mann mochte sechzig Jahre zählen. Er sah traurig und ernst aus. Seine kräftige und zugleich müde Gestalt ließ darauf schließen, daß er ein pensionierter Offizier wäre. Um Marius in dieser Überzeugung zu stärken, hätte er nur einen Orden tragen müssen. Er sah gütig, aber unnahbar aus, und nie ließ er seinen Blick auf jemand ruhen. Er trug blaue Hosen, einen blauen Rock und einen breitkrempigen Hut, ein schwarzes Halstuch und ein blendend weißes, aber grobes Quäkerhemd.
Als er das junge Mädchen das erstemal neben dem Greis sitzen sah, mochte sie dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein; sie war mager, fast häßlich, linkisch und unbedeutend; vielleicht hatte sie schöne Augen, doch hielt sie diese mit einer Sicherheit, die mißfallen konnte, immer nach unten gerichtet. Gekleidet war sie kindlich und doch alt, wie Klosterzöglinge; ein schlechtgeschnittenes Kleid aus grober, schwarzer Merinowolle. Die beiden mochten wohl Vater und Tochter sein.
Zwei- oder dreimal sah Marius diesen alten Mann, der noch kein Greis, und dieses junge Mädchen, das noch keine Frau war, an, dann achtete er nicht mehr auf die beiden. Sie ihrerseits schienen ihn gar nicht bemerkt zu haben. Sie plauderten friedlich und fast gleichgültig miteinander. Das Mädchen plapperte heiter und ohne Unterlaß, der Alte sprach wenig, streifte das Kind aber zuweilen mit einem zärtlich-väterlichen Blick.
Obwohl diese beiden niemandes Blicke auf sich ziehen wollten, oder vielleicht gerade darum, hatten sie die Aufmerksamkeit von fünf oder sechs Studenten erregt, die zuweilen in jener Allee spazierengingen. Courfeyrac hatte sie einige Zeit beobachtet, fand das Mädchen aber häßlich und beeilte sich, aus ihrer Nähe zu verschwinden. Wie ein Parther war er aber nicht geflohen, ohne einen Pfeil auf sie abzuschießen: einen Spitznamen. Da ihn nur das schwarze Kleid der Kleinen und die weißen Haare des Alten interessiert hatten, nannte er das Mädchen Mademoiselle Lanoire und den Mann Monsieur Leblanc; und da niemand wußte, wie die beiden wirklich hießen, trat der Spitzname an die Stelle des echten. Die Studenten sagten wohl: »Ach, Herr Leblanc ist auf seiner Bank!«, und auch wir wollen der Bequemlichkeit halber diesen Namen beibehalten.
Marius begegnete diesen beiden ein Jahr lang fast täglich, fand den Mann angenehm, das Mädchen aber abstoßend.
Lux facta est
Im nächsten Jahr, also zu jenem Zeitpunkt, bis zu welchem wir den Leser bereits begleitet haben, geschah es, daß Marius, ohne dessen recht zu achten, nicht mehr nach dem Luxembourg ging; sechs Monate lang mied er seine Allee. Eines Tages kam er doch wieder dahin, an einem heiteren Sommermorgen, und er war vergnügt, wie man es nur bei gutem Wetter sein kann.
Sofort eilte er nach seiner Allee, und als er ankam, gewahrte er, immer noch auf derselben Bank, sein Paar. Doch war nur der Mann derselbe geblieben, das Mädchen schien ausgetauscht worden zu sein. Jetzt sah er ein erwachsenes, hübsches Geschöpf, das bereits die reizenden Formen der Frau zeigte, ohne indessen die naive Anmut der Kindheit verloren zu haben; dieser flüchtige Augenblick war gekommen, den man nur mit zwei Worten umschreiben kann: fünfzehn Jahre. Wunderschönes, kastanienbraunes Haar, das golden schimmerte, eine Stirn von Marmor, Wangen, die Rosenblättern glichen, ein unendlich blasser, zarter Teint, ein köstlicher Mund, von dem ein Lächeln wie ein Licht aufstrahlte, kurz, ein Kopf, den Raffael einer Maria und Jean Gojon einer Venus aufgesetzt hätte. Und damit nichts an diesem reizenden Gesichtchen fehlte, war die Nase nicht schön, sondern hübsch, weder gerade noch gebogen, weder italienisch noch griechisch, sondern eine echte Pariser Nase, etwas Feines, Geistvolles, Unregelmäßiges, das die Maler in Verzweiflung und die Dichter in Entzücken versetzt.
Als Marius an ihr vorüberkam, konnte er ihre Augen nicht sehen, denn sie blickte zu Boden. So bemerkte er nur ihre langen kastanienbraunen, schamhaften Wimpern.
Zunächst dachte Marius, es sei eine andere Tochter desselben Mannes, eine Schwester der ersten. Aber als die gewohnte Ordnung des Spaziergangs ihn ein zweites Mal an jener Bank vorüberführte, erkannte er, daß es dieselbe war. In sechs Monaten war das kleine Mädchen ein junges Mädchen geworden – eine sehr häufige Erscheinung. Denn es gibt einen Augenblick im Leben der Mädchen, wo sie sich plötzlich verwandeln und entfalten. Gestern waren sie noch Kinder, heute stören sie uns bereits in unserer Ruhe.
Diese war nicht nur größer, sondern auch schöner. Wie im April drei Tage genügen, um gewisse Bäume mit Blüten zu bedecken, so hatten ihr sechs Monate genügt, um sich in Schönheit zu kleiden. Ihr April war gekommen.
Wirkung des Frühlings
Eines Tages war die Luft lau, der Luxembourg-Garten lag freundlich in der Sonne, unter einem reinen Himmel, als ob die Engel den Morgen sauber gewaschen hätten; zwitschernd flogen die Sperlinge in den Kronen der Kastanienbäume hin und her.
Marius hatte seine ganze Seele der Natur aufgetan, dachte an nichts und atmete glücklich das strahlende Leben in sich ein, als er an jener Bank vorüberging; da sah das junge Mädchen auf, und die Blicke der beiden begegneten einander.
Was war nur diesmal in den Augen des jungen Mädchens? Marius hätte es nicht angeben können. Da war nichts, und doch alles: ein seltsames Licht.
Sofort blickte sie wieder nieder, und er setzte seinen Weg fort.
Was er gesehen hatte, war nicht das ahnungslose Auge eines Kindes gewesen, sondern eine geheimnisvolle Tiefe, die sich vor ihm öffnete und sofort wieder schloß.
Als Marius am selben Abend nach Hause kam, warf er einen Blick auf seine Kleider und bemerkte zum erstenmal, daß es höchst unpassend, ja sogar unerhört blöde sei, in diesem Alltagsaufzug zum Luxembourg zu gehen; mit einem zerbeulten Hut, plumpen Kutscherstiefeln, an den Knien blankgescheuerten Hosen und einem Rock, durch dessen Ärmel die Ellenbogen durchschauten.
Beginn einer schweren Krankheit
Am nächsten Morgen entnahm Marius zur gewohnten Stunde seinem Schrank den neuen Rock, die neue Hose, den neuen Hut und die neuen Stiefel; dann kleidete er sich in diese vollendete Tracht, zog, um den Luxus vollkommen zu machen, Handschuhe an und spazierte in den Luxembourg-Garten.
Unterwegs begegnete er Courfeyrac und tat, als ob er ihn nicht sähe. Zu Hause erzählte Courfeyrac seinen Freunden:
»Soeben begegnete ich Marius’ neuem Rock und Hut; Marius war drin. Offenbar ging er zum Examen. Er sah furchtbar dumm aus.«
Im Luxembourg angekommen, ging Marius zunächst um das Bassin herum und beobachtete die Schwäne; lange Zeit blieb er betrachtend vor einer Statue stehen, deren Kopf vom Moose geschwärzt und deren eine Hüfte ausgebrochen war. Endlich, nach einem neuen Rundgang um das Bassin, wandte er sich zu seiner Allee, langsam und fast widerstrebend. Es sah aus, als ob er gleichzeitig gezwungen und behindert sei, dahin zu gehen. Aber er legte sich nicht darüber Rechenschaft ab und glaubte nichts anderes zu tun, als was er alle Tage tat.
Als er in seine Allee einbog, gewahrte er sofort am anderen Ende »auf ihrer Bank« Herrn Leblanc und das junge Mädchen. Er knöpfte seinen Rock bis oben zu, zog ihn über seinem Körper straff, damit er keine Falten bilde, prüfte mit einem gewissen Wohlgefallen den Spiegel seiner Hosen und ging dann auf die Bank zu. In der Art, wie er auf sie zuschritt, lag etwas von Eroberertum. Er marschierte, möchte ich sagen, auf diese Bank zu, wie Hannibal auf Rom.
Im übrigen vollzog sich alles ganz mechanisch, es waren die gewöhnlichen Gedanken, die ihn beschäftigten. Er dachte in diesem Augenblick an das »Handbuch zur Erlangung des Baccalaureats« und kam zu dem Schluß, es sei dumm und offenbar von seltenen Idioten redigiert worden, da es zwar drei Tragödien des Racine, aber nur eine Komödie des Molière ausführlich behandelte. In den Ohren hatte er ein eigentümliches Pfeifen. Als er der Bank näher kam, zupfte er noch einmal seinen Rock zurecht, und seine Blicke richteten sich auf das junge Mädchen. Er hatte den Eindruck, als ob dieser ganze Teil der Allee in ein seltsam bläuliches Licht getaucht sei.
Je näher er kam, um so langsamer wurde sein Gang. Als er nur mehr ein wenig von der Bank entfernt war, bei weitem noch nicht am Ende der Allee, blieb er stehen, und er wußte selbst nicht wie, aber plötzlich machte er kehrt. Ihm wurde nicht einmal bewußt, daß er nicht bis an das Ende der Allee gelangt war. Kaum hatte ihn das junge Mädchen bemerkt und seine neuen Kleider erkennen können. Doch ging er sehr aufrecht, um eine gute Figur zu machen, falls zufällig jemand hinter ihm gehe und ihn beobachte.
Ein Blitzschlag trifft Frau Bougon
Am nächsten Tage bemerkte die Keif-Alte (Mame Bougon, wie der Spötter Courfeyrac Marius’ Wirtin nannte, obwohl sie eigentlich Frau Burgon hieß), daß Herr Marius wieder in seinen Feiertagskleidern ausging.
Sie war verwundert.
Er ging in den Luxembourg, wagte sich aber nicht weiter als bis zur Hälfte seiner Allee. Dort setzte er sich auf eine Bank und beobachtete aus der Ferne den weißen Hut, das schwarze Kleid und insbesondere den blauen Lichtschimmer. Er rührte sich nicht, ging nicht einmal, als die Tore des Luxembourg verschlossen wurden. Als Herr Leblanc mit seiner Tochter aufbrach, bemerkte er nichts. Später kam er zu der Ansicht, die beiden müßten wohl durch das Tor an der Rue de l’Ouest den Park verlassen haben. Noch Wochen nachher konnte er sich nicht erinnern, wo er an jenem Abend gesessen hatte. Und auch am nächsten, dem dritten Tag, war Mame Bougon wie vom Blitzschlag getroffen. Wieder ging Marius in seinen Feiertagskleidern aus.
»Dreimal nacheinander!« rief sie entsetzt. Sie wollte ihm folgen; aber Marius ging so schnell und mit großen Schritten, es war, als ob ein Nilpferd einer Gemse nachlaufen wollte. Nach zwei Minuten hatte sie ihn aus den Augen verloren und kam, ganz außer Atem und wütend, nach Hause.
»Ob das nun einen Sinn hat«, murrte sie, »täglich seine besten Kleider anzuziehen und die Leute so in Schweiß zu bringen?«
Marius war wieder im Luxembourg.
Das junge Mädchen und Herr Leblanc waren da. Der junge Mann ging so nahe heran, als irgendwie anging, indem er vortäuschte, er sei in sein Buch vertieft; dann bezog er wieder auf seiner Bank Posten und beobachtete vier Stunden lang in der Allee die Sperlinge, die sich benahmen, als machten sie sich über ihn lustig.
Gefangen
An einem der letzten Tage der zweiten Woche saß Marius wieder wie gewöhnlich auf seiner Bank und hielt das aufgeschlagene Buch in der Hand, obwohl er seit zwei Stunden kein Blatt umgewendet hatte. Plötzlich begann er zu zittern. Am Ende der Allee ging etwas vor. Herr Leblanc und seine Tochter waren aufgestanden, das Mädchen hatte den Arm des Vaters genommen, und beide näherten sich langsam dem Platze Marius’. Er klappte sein Buch zu, schlug es wieder auf und begann krampfhaft zu lesen. Er zitterte. Das Licht kam geradeswegs auf ihn zu.
Großer Gott, dachte er, ich habe nicht einmal Zeit, mich in eine anständige Haltung zu bringen!
Inzwischen kamen der Mann mit dem weißen Haar und das junge Mädchen näher. Marius schien es, als ob dieser Gang ein Jahrhundert dauerte, und doch war alles nur eine Sache von Sekunden.
Was wollen sie nur hier? dachte er. Oh, sie werden hier vorüberkommen.
Er war außer sich, wollte recht hübsch aussehen, hätte gern in diesem Augenblick das Kreuz an der Brust getragen. Schon hörte er ihre Schritte im Sande knirschen. Er dachte, daß Herr Leblanc ihn mißmutig ansehe. Will er mit mir sprechen, fragte er sich. Er senkte den Kopf. Als er wieder aufblickte, waren die beiden fast vor ihm. Das junge Mädchen ging vorüber und sah ihn fest an, mit einer sanften Nachdenklichkeit, die Marius von Kopf bis zu Fuß erschauern ließ. Ihm war, als ob sie ihm Vorwürfe mache, daß er so lange ferngeblieben sei, und ihm sage: gut, also komme ich. Er war geblendet vom Glanz ihrer tiefen Augen.
Sein Gehirn glühte wie ein Feuerbecken. Sie war zu ihm gekommen! Und wie sie ihn angesehen hatte! Sie schien ihm schöner als je. Schön auf eine zugleich weibliche und engelhafte Art, von jener Schönheit, die ein Petrarca besungen und vor der ein Dante niedergekniet wäre. Ihm war zumute, als ob er im blauen Himmel schwebe. Und gleichzeitig war es ihm höchst unangenehm, daß seine Stiefel staubig waren.
Gewiß hatte sie auch seine Stiefel bemerkt.
Er blickte ihr nach, bis sie verschwunden war. Dann begann er im Luxembourg auf und ab zu laufen wie ein Narr. Es ist sogar wahrscheinlich, daß er laut lachte und sprach. So nachdenklich blieb er bei den Kindermädchen schließlich stehen, daß jede meinte, er wäre in sie verliebt.
Zuletzt verließ er den Park, in der Hoffnung, den beiden auf der Straße zu begegnen.
Unter den Arkaden des Odéon stieß er auf Courfeyrac und sagte zu ihm:
»Kommen Sie mit mir essen.«
Sie gingen zu Rousseau und gaben sechs Franken aus. Marius aß wie ein Wolf. Dem Kellner gab er sechs Sous. Beim Dessert fragte er Courfeyrac:
»Hast du die Zeitung gelesen? Dieser Audry de Puyraveau hat eine herrliche Rede gehalten.«
Er war bis über die Ohren verliebt.
Nach dem Essen sagte er zu Courfeyrac:
»Ich lade dich ein, gehen wir ins Theater.«
Sie gingen nach der Porte Saint-Martin und sahen Frédéric in der »Auberge des Andrets«. Marius amüsierte sich köstlich.
Dabei war er menschenscheuer als je. Als sie aus dem Theater kamen, wollte er nicht das Strumpfband einer Modistin sehen, die gerade über den Rinnstein stieg, und als Courfeyrac sagte: »Die Kleine möchte ich gern für meine Kollektion«, graute ihm fast.
Abenteuer um den Buchstaben U
Ein langer Monat verstrich, und täglich ging Marius in den Luxembourg. Nichts konnte ihn, wenn die Stunde gekommen war, zurückhalten. »Er hat Dienst«, meinte Courfeyrac. Marius lebte in einem Meer des Entzückens. Jetzt konnte er nicht mehr daran zweifeln, daß das Mädchen seine Blicke erwiderte.
Er war kühner geworden und näherte sich der Bank, doch wollte er nicht an ihr vorbeigehen, vielleicht aus Schüchternheit, vielleicht aus Vorsicht. Er wollte nicht die Aufmerksamkeit des Vaters auf sich lenken. Mit einem Macchiavellismus sondergleichen hatte er sich von Baum zu Baum, von Statue zu Statue einen Weg ausgerechnet, der es ihm ermöglichte, dem jungen Mädchen so nahe zu kommen und doch für den alten Herrn unsichtbar zu bleiben. Manchmal blieb er eine halbe Stunde lang reglos im Schatten irgendeines Leonidas oder Spartacus, ein Buch in Händen, über dessen Rand seine Augen, sanft gehoben, nach dem schönen Mädchen ausschauten; und auch sie gönnte ihm ein ungefähres, reizendes Lächeln. Während sie aufs natürlichste und harmloseste mit dem Weißhaarigen plauderte, gab ihr zugleich jungfräulicher und doch leidenschaftlicher Blick Marius Anlaß zu endloser Träumerei. Das war die uralte und ewig neue Technik, die Eva am ersten Tage ersann und die noch heute jeder Frau am Tage ihrer Geburt vertraut ist. Ihr Mund antwortet dem einen, ihr Blick dem anderen.
Doch hatte es den Anschein, als ob Herr Leblanc schließlich etwas gemerkt hätte, denn oft, wenn Marius kam, stand er auf und ging spazieren. Auch hatte er seinen alten Platz aufgegeben und am anderen Ende der Allee die Bank neben dem Gladiator gewählt, als ob er in Erfahrung bringen wolle, ob Marius ihm dahin folgen werde. Marius begriff nicht und beging diesen Fehler. Jetzt begann der Vater unpünktlich zu werden und brachte seine Tochter nicht mehr täglich hin. Manchmal kam er allein. Dann blieb Marius nicht. Auch das war ein Fehler.
Und Marius beachtete diese Symptome nicht. Einem schicksalhaften und naturgemäßen Fortschritt entsprechend, war er aus dem Stadium der Schüchternheit in das der Blindheit übergegangen. Seine Liebe wuchs. Nächtelang träumte er vor sich hin. Und endlich geschah ihm ein unerwartetes Glück, Öl auf sein Feuer, um ihn vollends zu verblenden. Eines Abends in der Dunkelheit fand er auf der Bank, von der Herr Leblanc und seine Tochter eben aufgestanden waren, ein Taschentuch, ein ganz gewöhnliches, unbordiertes Taschentuch, aber weiß und zart; ihm wenigstens schien es, als ob es einen herrlichen Duft ausströme. Begeistert steckte er es ein.
Dieses Taschentuch zeigte die Buchstaben U. F. Marius wußte nichts über dieses schöne Mädchen, weder ihren Namen noch ihre Wohnung; diese beiden Initialen waren das erste, was er von ihr erfuhr, wunderbare Initialen, auf die er allsogleich ein ganzes Gerüst der Vermutungen aufzurichten begann. U war offenbar der Vorname. Ursule, dachte er, wie köstlich ist dieser Name! Er küßte das Taschentuch, atmete seinen Duft ein und trug es an seinem Herzen, auf bloßer Brust, um es nachts an seine Lippen zu drücken.
Ihre ganze Seele duftet mir aus diesem Tuch entgegen, dachte er.
Es gehörte dem alten Herrn, dem es ganz einfach aus der Tasche gefallen war.
In den nächstfolgenden Tagen erschien Marius im Luxembourg nur mit jenem Taschentuch, das er immer wieder küßte und ans Herz drückte. Das schöne Kind begriff nicht und gab es ihm durch fast unmerkliche Zeichen zu verstehen.
Wie süß ist sie in ihrer Schamhaftigkeit, dachte er.
Mondfinsternis
Der Leser hat gesehen, wie Marius entdeckte oder entdeckt zu haben glaubte, daß sie Ursule hieß.
Liebende werden nie satt. Ihren Namen zu wissen, schien sehr wichtig, aber es war doch recht wenig. In drei oder vier Wochen hatte er das Glück aufgezehrt und wollte ein neues. Jetzt wollte er auch wissen, wo sie wohnte.
Schon hatte er einen Fehler begangen, als er in den Hinterhalt fiel und den beiden zu dem Gladiator folgte. Dann beging er einen zweiten: er blieb nicht im Luxembourg, wenn Herr Leblanc allein kam. Und jetzt den dritten, den ungeheuerlichsten: er ging Ursule nach.
Sie wohnte in der Rue de l’Ouest, in einer verkehrsarmen Gegend, in einem neuen, dreistöckigen, recht einfachen Hause.
Von jetzt an brauchte sich Marius nicht mehr darauf zu beschränken, ihr im Luxembourg zu begegnen, er konnte ihr auch nachgehen.
Er wurde immer hungriger. Er wußte, wie sie hieß, den Vornamen wenigstens, er wollte aber auch wissen, wer sie war.
Eines Abends, nachdem er ihr bis zu ihrem Hause gefolgt war, trat er ein und fragte tapfer den Portier:
»War das der Herr aus dem ersten Stock, der eben nach Hause kam?«
»Nein, der Herr aus dem dritten.«
Wieder ein Schritt vorwärts. Marius wurde kühner.
»Vorn heraus?«
»Das Haus hat keine Hinterfront.«
»Was ist der Herr?«
»Ein Rentner. Ein sehr guter Mensch, denn er hilft den Armen, obwohl er selbst nicht reich ist.«
»Wie heißt der Herr?«
Der Portier blickte auf.
»Sind Sie ein Spitzel?«
Marius zog verblüfft ab, war aber doch entzückt. Er hatte Fortschritte gemacht.
Gut, dachte er, sie heißt Ursule, ist die Tochter eines Rentners und wohnt hier, Rue de l’Ouest, im dritten Stock.
Am nächsten Tag kamen Herr Leblanc und seine Tochter nur für ganz kurze Zeit nach dem Luxembourg. Noch bei hellichtem Tage gingen sie wieder. Marius folgte ihnen wie gewöhnlich. Bevor Herr Leblanc eintrat, hieß er seine Tochter vorausgehen, wandte sich um und sah Marius starr an.
Am nächsten Tag kamen sie nicht in den Luxembourg. Marius wartete vergeblich bis zum Abend.
Als es dunkel war, ging er in die Rue de l’Ouest und sah Licht im dritten Stock. Nun ging er unter den Fenstern auf und ab, bis das Licht ausgelöscht wurde.
Am nächsten Tag – im Luxembourg nichts. Wieder Posten unter den Fenstern, Das dauerte bis zehn Uhr. Das Abendessen fiel unter den Tisch. Den Kranken nährt das Fieber, den Verliebten die Liebe.
So vergingen acht Tage. Marius erging sich in den traurigsten Vermutungen. Er wagte nicht, untertags das Haus zu beobachten. Nur nachts erkühnte er sich, bis in den rötlichen Schimmer der Fenster vorzudringen. Manchmal gewahrte er einen Schatten, und sein Herz schlug heftig.
Als er am achten Tag unter den Fenstern vorüberkam, bemerkte er kein Licht.
Ach, sie haben die Lampe noch nicht angezündet, meinte er, und doch ist es schon finster. Sollten sie ausgegangen sein?
Er wartete bis zehn. Bis Mitternacht. Bis ein Uhr morgens. Kein Licht erschien in den Fenstern des dritten Stocks, niemand betrat das Haus.
Trostlos ging er heim.
Als er am nächsten Tag wieder kein Licht sah, sogar bemerkte, daß die Jalousien herabgelassen waren, klopfte er an das Haustor und fragte den Portier:
»Der Herr aus dem dritten Stock –?«
»Ist ausgezogen.«
Marius taumelte.
»Seit wann denn nur?«
»Seit gestern.«
»Und wo wohnt er jetzt?«
»Ich weiß nicht.«
»Hat er denn nicht seine neue Adresse hinterlassen?«
»Nein.«
Jetzt erkannte der Portier Marius.
»Ach Sie sind es! Sie sind also doch ein Spitzel!«
Marius sucht ein Mädchen mit einem Hut und findet einen Mann mit einer Mütze
Der Sommer verging, der Herbst; es wurde Winter.
Weder Leblanc noch das junge Mädchen hatten den Fuß wieder in den Luxembourg-Garten gesetzt. Marius dachte nur mehr darüber nach, wie er dieses sanfte, anbetungswürdige Gesicht wiedersehen könnte. Immer und überall suchte er, aber er fand nichts. Jetzt war er nicht mehr Marius der Schwärmer, der Enthusiast, der das Schicksal kühn in die Schranken forderte, der Mann, in dessen Kopf es schwirrte von Plänen, Ideen und Wünschen; jetzt war er wie ein Hund ohne Herrn. Er versank in düstere Traurigkeit. Es war aus. Die Arbeit widerte ihn an, das Spazierengehen ermüdete ihn, die Einsamkeit war langweilig; selbst die Natur, früher so überreich an Formen, Gestalten und Stimmen, schien ihm jetzt leer. Alles, dachte er, war verschwunden.
Wohl machte er sich Vorwürfe. Warum bin ich ihr nachgegangen, fragte er. War ich nicht glücklich, sie auch nur zu sehen? Sie erwiderte meinen Blick. War das nicht ein großes Glück? Es schien, sie liebte mich. Ist das nicht alles?
Ich war von Sinnen. Alles ist meine Schuld. –
Er hatte Courfeyrac nicht ins Vertrauen gezogen, das wäre nicht seine Art gewesen, aber der Student erriet fast alles – und das war seine Art –, und erst hatte er ihn beglückwünscht zu seiner Verliebtheit, dann aber, als Marius melancholisch wurde, hatte er gesagt:
»Aha, du hast die Sache dumm angefangen!«
Einmal hatte Marius eine Begegnung, die auf ihn einen tiefen Eindruck machte. Er hatte die Straßen rings um den Boulevard des Invalides durchquert und war einem Menschen begegnet, der wie ein Arbeiter angezogen war und eine Mütze mit langem Schirm trug, so daß man seine schneeweißen Haare kaum sehen konnte. Und doch war Marius betroffen gewesen von der Schönheit dieser weißen Haare und betrachtete aufmerksam den Mann, der langsam und wie in traurige Gedanken versunken einherging. Seltsam, er glaubte Herrn Leblanc zu erkennen. Es waren seine Haare, es war sein Profil, ja sogar die gleiche Haltung, nur trauriger. Was aber bedeuteten diese Arbeiterkleider? War das eine Verkleidung?
Marius war sehr erstaunt.
Als er wieder Fassung gewann, wollte er zunächst jenem Manne folgen, denn vielleicht war er doch auf der richtigen Fährte. Zum mindesten wollte er den Mann aus der Nähe ansehen und das Rätsel lösen. Aber dieser Gedanke kam ihm zu spät, der Mann war schon verschwunden. Er mußte in irgendeine Seitenstraße eingebogen sein. Einige Tage lang stand Marius unter dem Eindruck dieser Begegnung, dann vergaß er sie wieder.
Ein Fund
Noch immer wohnte Marius im Gorbeauschen Hause. Er achtete auf niemand.
Zu jener Zeit waren übrigens außer ihm und jener Familie Jondrette, mit der er bisher direkt noch nicht in Verbindung gekommen war, keine Mieter in dem Hause. Alle anderen waren fortgezogen, gestorben oder ausgemietet.
Auch den Jondrettes hatte 1831 das gleiche Schicksal gedroht; aber Frau Burgon hatte damals Marius davon erzählt, und er hatte den Leuten mit fünfundzwanzig Franken aus der Verlegenheit geholfen, jedoch unter der Bedingung, daß sein Name nicht genannt werde.
An einem Winternachmittag, an dem die Sonne sich ein wenig hervorgewagt hatte, verließ Marius sein Heim. Es war an der Zeit, zum Essen zu gehen, denn – Gebrechlichkeit der idealen Leidenschaften – auch der Körper fordert sein Recht.
Nachdenklich spazierte er den Boulevard zum Tore hinunter, um zur Rue Saint-Jacques zu gelangen. Plötzlich stieß ihn jemand an; er wandte sich um und sah zwei zerlumpte junge Mädchen, ein langes, mageres und ein anderes kleineres; atemlos und verängstigt liefen sie an ihm vorbei; er hatte den Eindruck, daß sie vor jemand flohen. Offenbar hatten sie ihn nicht gesehen. In der hereinbrechenden Dämmerung konnte er ihre Gesichter, ihre zerzausten Köpfe, ihre elenden Hüte, jämmerlichen Kleider und bloßen Füße immerhin noch wahrnehmen. Im Laufen sprachen die beiden miteinander. Die Größere sagte zu der Kleineren:
»Und schon war die Polente da. Aber bei mir haben sie vorbeigehauen.«
»Ich hab sie gleich gerochen. Dann bin ich abgeschaukelt.«
Marius erriet aus diesen Worten, so unbekannt ihm auch die Sprache war, daß die Gendarmen hinter den beiden Mädchen her gewesen waren, aber ohne sie zu fangen.
Die beiden verschwanden unter den Bäumen des Boulevards. Einen Augenblick lang sah Marius ihnen nach.
Eben wollte er weitergehen, als er zu seinen Füßen ein graues, kleines Paket liegen sah. Er bückte sich und hob es auf. Es war eine Art Karton, in dem allerlei Papiere zu stecken schienen.
Ah, sagte er, das haben diese armen Geschöpfe verloren!
Er wandte sich um und rief, aber vergeblich; offenbar waren sie schon weit. Also steckte er das Paket in die Tasche und ging essen.
Bald schlugen seine Gedanken wieder ihre gewöhnliche Richtung ein, und er träumte wieder von jenen sechs Monaten des Glücks und der Liebe, die er unter den schönen Bäumen des Luxembourg verbracht hatte.
Vierköpfig
Als er sich abends entkleidete, um zu Bett zu gehen, griff er in seine Rocktasche und fand darin das Paket, das er auf dem Boulevard aufgelesen hatte. Längst hatte er es vergessen. Er dachte, daß es nützlich sein werde, es zu öffnen, da er vielleicht so die Adresse der beiden jungen Mädchen erfahre und in die Lage versetzt würde, ihnen ihr verlorenes Eigentum zurückzubringen.
Also öffnete er den Karton. Er war nicht versiegelt und enthielt vier ebenfalls noch offene Briefe. Alle vier rochen nach scheußlichem Tabak.
Der erste war adressiert an die Frau Marquise de Grucheray, vis-à-vis dem Abgeordnetenhaus …
Marius dachte, daß er vielleicht in dem Brief die nötigen Anhaltspunkte finden werde, die er suchte, und daß er das Schreiben, das ja noch unverschlossen sei, wohl lesen dürfe. Das Schreiben hatte folgenden Wortlaut:
»Frau Marquise,
die Tugend der Milde und Barmherzigkeit ist es, die die menschliche Gesellschaft zusammenhält. Betätigen Sie Ihr christliches Gefühl und werfen Sie einen Blick des Mitleids auf einen unglücklichen Spanier, der ein Opfer seiner Königstreue und Anhänglichkeit an die geheiligte Sache der Gesetzlichkeit ist, wofür er mit seinem Blut bezahlt, sein Vermögen eingesetzt und verloren hat, alles um diese Sache zu verteidigen, und jetzt in unangenehmsten Verhältnissen ist. Er zweifelt nicht, daß Euer Gnaden ihm eine Unterstützung gewähren werden, eine Existenz weiterzuführen, die schon genug Unangenehmes für einen wohlerzogenen und ehrenhaften Offizier, gar mit Wunden bedeckt, und er zählt schon im voraus auf die Menschlichkeit, die in Ihnen lebendig ist, und auf das Interesse, welches die Frau Marquise für eine so unglückliche Nation empfindet. Unsere Bitte wird nicht vergeblich sein, und möge Ihnen unsere Dankbarkeit angenehm in Erinnerung bleiben.
Sehr ergeben habe ich die Ehre zu sein, Frau Marquise,
Ihr
Don Alvarez, spanischer Kavalleriehauptmann, flüchtiger Royalist auf Reisen im Interesse seines Vaterlandes, und augenblicklich ohne die Mittel, diese Reise fortzusetzen.«
Dieser Unterschrift war keine Adresse beigefügt. Marius hoffte, sie immerhin noch in dem zweiten Brief zu finden, der an die Frau Gräfin de Montvernet, Rue Cassette Nr. 9, gerichtet war. Marius las folgendes:
»Frau Gräfin,
es handelt sich um eine unglückliche Familienmutter von sechs Kindern, deren letztes erst acht Monate alt ist. Und dabei ich selber krank seit meiner letzten Niederkunft, seit fünf Monaten verlassen von meinem Mann, ohne Hilfe in schrecklicher Not.
In der Hoffnung auf die Frau Gräfin habe ich die Ehre, zu sein Ihre respektvollste
Frau Balizard.«
Jetzt las Marius den dritten Brief, der wie die andern eine Bittschrift enthielt: »Herrn Pabourgeot, Wähler, Strumpfwaren en gros, Rue Saint-Denis, Ecke Rue aux Fers.
Ich erlaube mir diesen Brief an Sie zu richten, um die Gunst Ihrer Simpatie und Ihr Interesse zu gewinnen für einen Schriftsteller, der eben ein Drama beim Théâtre Français eingereicht hat. Der Stoff davon ist historisch, und die Handlung spielt im Auvergne in der Kaiserzeit. Der Stil ist, glaube ich, natürlich, lakonisch, sehr verdienstvoll. An vier Stellen gibt es Sachen zum Singen. Komisches, Ernstes und Unvorhergesehenes mischen sich mit der Verschiedenheit der Charaktere, und die ganze Intrige, die recht misteriös vor sich geht, ist leicht romantisch, so daß durch verblüffende Überraschungen in effektvollen Szenen der Schluß herbeigeführt wird.
Mein besonderes Ziel ist, dem Bedürfnis der jetzigen Menschen nach der Art unseres Jahrhunderts zu dienen, also der Mode zu folgen, dieser launischen Wetterfahne, die sich immer nach jedem Wind dreht.
Trotz dieser Vorzüge habe ich Grund zu fürchten, daß die Eifersucht und der Egoismus der privilegierten Schriftsteller mir den Weg zum Theater verschließt, denn ich weiß, wie schwer man es den neuen Autoren macht.
Herr Pabourgeot, Ihr verdienter Ruf als Gönner der Lideraten macht mich so kühn, Ihnen meine Tochter zu schicken, die Ihnen unsere schwierige Situation erklären wird, denn es fehlt an Brot und Feuer, trotz Winter. Sie soll Ihnen sagen, daß Sie die Ehre annehmen sollen, mein Drama von mir gewidmet zu bekommen, und auch alle andern, die ich noch machen werde, und das wird Ihnen beweisen, wieviel ich von der Ehre halte, unter Ihrer Beschützung herauszukommen und meine Schriften mit Ihrem Namen zu zieren. Wenn Sie mich nur mit einer kleinen Unterstützung begünstigen wollen, werde ich auch ein Stück in Reimen schreiben, um Ihnen zu zeigen, wie dankbar ich bin. Es soll so schön wie möglich werden, und ich werde es Ihnen zuschicken, bevor es in Szene geht.
Herrn und Frau Pabourgeot ergebenster
Genflot, Schriftsteller.
P. S. Und wenn es auch nur vierzig Sous sind. Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen meine Tochter schicke und mich nicht selbst vorstelle, aber ach, meine schlechten Toilettezustände erlauben es mir nicht.« Endlich öffnete Marius noch den vierten Brief. Er war an den wohltätigen Herrn aus der Kirche Saint-Jacques du Haut-Pas gerichtet.
»Wohltätiger Mann, wenn Sie meine Tochter begleiten wollen, werden Sie ein furchtbares Elend sehen, und ich zeige Ihnen auch meine Zeugnisse. Beim Anblick dieser Zeilen wird Ihre großmütige Seele wohlwollend gestimmt werden, denn die wahren Filosofen sind immer weichherzig. Geben Sie zu, mitleidiger Mann, daß man in gräßlicher Not sein muß und daß es peinlich ist, eine Unterstützung zu erbitten und sich von Amts wegen bestätigen zu lassen, daß man nichts hat, als ob es nicht jedermanns Recht wäre, zu leiden und zu hungern, bis einer uns hilft. Das Schicksal ist für manche sehr verschwenderisch und für die andern recht fatal.
Ich erwarte Ihren Besuch oder Ihre milde Gabe, wenn Sie mir eine geben wollen, indem ich Sie bitte, meiner Hochachtung versichert zu sein, Ihr ergebener Diener
P. Favantou,
dramatischer Schauspieler.«
Nachdem Marius diese vier Briefe gelesen hatte, wußte er nicht viel mehr als zu Anfang. Keiner dieser Absender nannte seine Adresse. Und wenn deren auch viere genannt waren, ein Don Alvarez, eine Frau Balizard, ein Dichter Genflot und ein Schauspieler Favantou, war doch allen ein gemeinsamer schlechter Stil und die gleiche Handschrift eigen. Mußte man daraus nicht schließen, daß sie von einer einzigen Person herrührten?
Noch dazu waren alle auf demselben groben, gelblichen Papier geschrieben, rochen gleicherweise nach Tabak, und obwohl der Stil offensichtlich verschieden sein sollte, hatte sich doch der Schriftsteller Genflot ebensowenig von Schnitzern freihalten können wie der spanische Hauptmann.
Indessen war es wohl unnötige Mühe, über dieses kleine Geheimnis nachzudenken. Vielleicht hätte man die Briefe, wären sie nicht ein Fund gewesen, für einen schlechten Scherz halten können. Marius war in seiner Seele zu traurig, um sich an einem Scherz zu beteiligen, den er von der Straße aufgelesen hatte. Nichts deutete darauf hin, daß diese vier Briefe den jungen Mädchen gehörten, denen Marius auf dem Boulevard begegnet war. Offenbar war es belangloses Geschreibsel. Marius steckte es in den Karton, warf es in eine Ecke und legte sich zu Bett.
Gegen sieben Uhr morgens, als er aufstand und sich anschickte zu frühstücken, wurde leise an seine Türe geklopft.
»Herein!« rief Marius.
Die Tür ging auf.
»Was gibt es, Frau Burgon?« fragte Marius, ohne von dem Buch aufzublicken, das vor ihm aufgeschlagen lag.
Eine fremde Stimme antwortete ihm:
»Verzeihung, mein Herr …«
Es war eine heisere, schwache, gepreßte Stimme, die einem alten Mann gehören mochte, die Stimme eines Branntweintrinkers …
Marius wandte sich um und sah ein junges Mädchen vor sich.
Eine Rose im Elend
Ein blutjunges Mädchen stand in der Tür. Es war ein schwächliches, abgezehrtes, mageres Geschöpf; nur ein Hemd und ein Unterrock schützte seine Nacktheit gegen die Kälte. Spitze Schultern standen aus dem Hemde hervor, die Haut war blaß wie die von Schwindsüchtigen, das Schlüsselbein zeichnete sich deutlich ab; die Hände waren gerötet, der halbgeöffnete Mund zeigte Zahnlücken: so machte dieses junge Mädchen doch auch zugleich den Eindruck einer verderbten Frau.
Marius war aufgestanden, fast erschrocken über den Anblick dieser Erscheinung, die eher einem Schatten als einem lebenden Wesen glich.
Den tiefsten Eindruck vermittelte ihm vielleicht die Empfindung, daß dieses junge Mädchen nicht häßlich zur Welt gekommen war. In ihrer ersten Jugend mochte sie hübsch gewesen sein. Die Anmut ihres Alters rang noch mit dem abstoßenden, vorzeitigen Alter, das durch Not und Laster heraufbeschworen wird. Ein Rest der Schönheit einer Sechzehnjährigen war noch in diesem Gesicht.
Marius kannte es nicht. Doch glaubte er sich zu erinnern, daß er es irgendwann einmal gesehen hatte.
»Was wollen Sie?« fragte er.
Mit ihrer rauhen Stimme einer Trinkerin antwortete sie:
»Ein Brief für Sie, Herr Marius.«
Sie redete ihn mit Namen an; er konnte nicht daran zweifeln, daß sie wirklich ihn meinte, aber wer war sie? Und woher wußte sie seinen Namen?
Sie wartete nicht, bis er sie einlud, näher zu treten, sondern drang entschlossen und mit einer Sicherheit, die Marius unangenehm berührte, in das Zimmer ein; ihr Blick fiel auf das noch ungemachte Bett. Ihre Füße waren unbekleidet, und durch die Löcher in dem Unterrock konnte man ihre langen Beine und mageren Knie sehen. Sie zitterte vor Kälte.
Jetzt reichte sie Marius ihren Brief.
Als er ihn öffnete, bemerkte er, daß die Oblate noch feucht war. Offenbar kam diese Botschaft nicht aus weiter Ferne.
Er las:
»Liebenswürdiger Nachbar, junger Mann! Ich habe erfahren, daß Sie vor sechs Monaten so gütig waren, meine Miete für mich zu bezahlen. Ich segne Sie dafür, junger Mann. Meine ältere Tochter wird Ihnen sagen, daß wir seit zwei Tagen keinen Bissen Brot im Hause haben, und dabei sind wir vier Leute – und meine Frau ist krank. Wenn mich meine Hoffnung nicht trügt, darf ich von Ihrem großherzigen Sinn erwarten, daß diese Nachricht in Ihnen den Wunsch erregt, uns neuerlich einer kleinen Gabe zu würdigen.
Ich bin mit der ganzen Hochachtung, die man den Wohltätern der Menschheit schuldet
Jondrette. P. S. Meine Tochter erwartet Ihre Befehle, werter Herr Marius.« Dieser Brief war wie ein Licht in der Finsternis. Plötzlich lag das ganz dunkle Abenteuer, das Marius seit gestern abend beschäftigte, aufgehellt vor ihm. Offenbar kam dieses Schreiben aus derselben Quelle wie die andern vier. Die gleiche Handschrift, das gleiche Papier, derselbe Tabaksgeruch. Hier handelte es sich um fünf Sendschreiben, fünf verschiedene Geschichten, fünf Namen, fünf Unterschriften, und um einen einzigen Absender. Der spanische Hauptmann Don Alvarez, die beklagenswerte Mutter Balizard, der dramatische Dichter Genflot, der alte Schauspieler Favantou – sie alle waren nur Jondrette, sofern nämlich Jondrette wirklich Jondrette hieß. Alles war klar. Marius begriff, daß sein Nachbar Jondrette in seiner Not ein Gewerbe daraus machte, die Mildtätigkeit wohlwollender Leute auszunützen. Offenbar verschaffte er sich Adressen und schrieb unter allen möglichen Namen an Leute, die er für reich und mitleidig hielt; seine Töchter mußten diese Briefe auf eigene Gefahr bestellen, denn der Vater begriff wohl, daß er damit seine Töchter aufs Spiel setzte; er hatte seine Partie mit dem Schicksal und wollte sie offenbar als Trümpfe benützen.
Marius begriff auch, wenn er sich ihrer Flucht von gestern erinnerte, daß diese unglücklichen Geschöpfe irgendeinen dunklen Beruf ausübten und daß er es hier mit zwei Opfern der menschlichen Gesellschaftsordnung, zwei armen Geschöpfen zu tun hatte, die weder Kinder noch Mädchen, noch Frauen waren, sondern zugleich unreine Kreaturen und unschuldige Ausgeburten der Not. Namenlose ohne Alter und Geschlecht, unfähig zum Guten und zum Bösen, die bereits im Ausgang des Kindesalters weder Freiheit noch Tugend, noch Verantwortlichkeit besitzen. Gestern entfaltete Seelen, die heute schon welk sind und die Blumen gleichen, die man in den Straßenkot geworfen hat, und die da warten, bis das Wagenrad sie vollends zermalmt.
Während Marius sie mit einem verwunderten und zugleich schmerzlichen Blick betrachtete, ging das junge Mädchen mit seltener Unverfrorenheit in dem Zimmer auf und ab. Daß sie halb nackt war, schien sie kaum zu stören. Zuweilen rutschte ihr das zerrissene und elende Hemd fast bis zum Gürtel herab. Sie schob Stühle beiseite, nahm Toilettegegenstände, die auf der Kommode lagen, in die Hand, betastete Marius’ Kleider und durchsuchte die Winkel.
»Ach, Sie haben einen Spiegel!« rief sie.
Und sie begann vor sich hin zu singen. Aber unter ihrer Unverfrorenheit schimmerte doch etwas wie Unruhe und Beschämung durch. Ihre Frechheit war ihre Art sich zu schämen.
Marius ließ sie gewähren.
Endlich trat sie an den Tisch.
»Ach, Bücher!« sagte sie. »Ich kann auch lesen.« Und sie bückte sich über den aufgeschlagenen Band. »General Bauduin erhielt Befehl, mit den fünf Bataillonen seiner Brigade das Schloß Haugomont zu nehmen, das inmitten der Ebene von Waterloo … ach Waterloo«, unterbrach sie sich, »das kenne ich. Das war einmal eine Schlacht dort. Mein Vater war auch dabei. Der hat auch als Soldat gedient. Wir sind brave Bonapartisten, unter uns gesagt. Damals ging’s gegen die Engländer, in Waterloo.« Sie schlug das Buch zu und nahm eine Feder. »Schreiben kann ich auch. Wollen Sie sehen? Ich schreib hier etwas auf das Blatt, Sie sollen gleich sehen!«
Bevor er antworten konnte, hatte sie auf das Blatt geschrieben:
»Die Polente ist da.«
Dann legte sie die Feder wieder hin.
»Ganz ohne orthographische Fehler, das sehen Sie doch. Wir haben unsere Erziehung gehabt, meine Schwester und ich. Es war nicht immer so wie jetzt. Damals …«
Sie stockte, richtete einen erloschenen Blick auf Marius und sagte schließlich auflachend:
»Ach was! Ja, Sie gehen wohl auch manchmal ins Theater, Herr Marius? Ich auch. Ich habe einen kleinen Bruder, der steht mit den Schauspielern gut und schenkt mir manchmal Karten. Aber auf die Galerie geh ich nicht gern. Da sitzt es sich nicht gut. Oder man hat ganz dicke Leute neben sich, oder gar solche, die schlecht riechen. Sie sind übrigens recht hübsch, Herr Marius, wissen Sie das auch?«
Beide dachten im Augenblick wohl dasselbe, sie lächelte, und er errötete.
»Allerdings«, sagte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter, »Sie sehen mich ja nicht an, aber ich kenne Sie wohl, Herr Marius. Manchmal treffe ich Sie auf der Treppe, oder manchmal, wenn Sie ausgehen, zum Beispiel zu diesem Herrn Mabeuf. Da komme ich auch vorbei. Die Wuschelhaare stehen Ihnen recht gut, wahrhaftig.«
Sie bemühte sich offenbar, ihre Stimme sanft klingen zu lassen, aber es gelang ihr nur, leise zu sprechen. Manche Worte gingen zwischen Kehlkopf und Lippen verloren, wie Töne auf einem Klavier, dem einige Tasten fehlen.
Marius war zurückgetreten.
»Fräulein«, sagte er kühl, »ich habe hier ein Paket, das, wie ich glaube, Ihnen gehört. Gestatten Sie, daß ich es Ihnen zurückgebe.«
Und er reichte ihr den Karton mit den vier Briefen.
Sie klatschte in die Hände und rief:
»Und wir haben es überall gesucht! Und Sie haben es gefunden! Auf dem Boulevard, nicht wahr? Im Laufen haben wir es verloren. Meine Schwester, dieses dumme Geschöpf, hat es verloren. Zu Hause haben wir es dann gesucht. Natürlich haben wir gesagt, daß wir die Briefe bestellt haben, denn sonst hätte es Prügel gesetzt, und das ist unnütz, ganz unnütz, vollkommen unnütz. Und wir haben gesagt, daß alle Leute uns geantwortet haben: Nix! Da sind jetzt die Briefe! Woraus haben Sie nur erkannt, daß sie mir gehören? Ach, an der Schrift wohl?«
Inzwischen hatte sie den Brief, der an den wohltätigen Herrn in der Kirche Saint-Jacques du Haut-Pas gerichtet war, entfaltet.
»Ach, das ist der an den alten Kirchgänger. Na, da komm ich ja noch zurecht. Ich werd ihn noch bestellen. Vielleicht springt dabei ein Frühstück heraus.«
Bei diesen Worten erinnerte sich Marius des Umstandes, dem er wohl den Besuch dieses Mädchens verdankte. Er griff in seine Tasche und fand darin fünf Franken und sechzehn Sous, alles, was er im Augenblick besaß. Nun, ich behalte mir etwas für ein Abendbrot, morgen wird man ja weitersehen, dachte er. Und er reichte dem jungen Mädchen die fünf Franken.
»Holla«, rief sie, »volle fünf Franken! In so einer Bude – Sie sind ja wirklich ein guter Junge. Bravo! Das ist ja eine ganze Menge! Das gibt was zu trinken, und Fleisch und alles mögliche noch!«
Sie zog das Hemd über die Schulter, verneigte sich tief vor Marius, winkte ihm dann vertraulich und wandte sich zur Tür.
»Guten Tag, mein Herr«, sagte sie, »meinen Alten werde ich ja auch noch erreichen.«
Dann ging sie.
Die Vorsehung läßt Marius einen Blick in ein fremdes Zimmer tun.
Gewiß hatte Marius in den letzten fünf Jahren in Not und Entbehrung gelebt, aber jetzt begriff er, daß er das wahre Elend noch nicht kannte. Das wahre Elend hatte er jetzt zu sehen bekommen.
Denn eines Mannes Elend kann nie vollständig sein, und wer ermessen will, was Elend ist, muß das furchtbare Elend einer Frau sehen, oder, noch furchtbarer, das des Kindes.
Marius machte sich Vorwürfe, daß er so lange seiner Träumerei nachgehangen hatte, ohne sich um seine Nachbarn zu kümmern. Daß er damals ihre Miete bezahlte, war eine mechanische Regung gewesen, deren sich auch ein anderer nicht erwehrt hätte; er, Marius, hätte mehr tun müssen. Ach, nur eine Wand trennte ihn von diesen Verlassenen, die tastend in der Nacht des Elends lebten, täglich ging er an ihnen vorüber, streifte sie fast, war vielleicht der einzige Mensch, mit dem sie in Berührung kamen, der ihren Atem, ihr Röcheln hörte – und er hatte ihrer nicht geachtet. Täglich, stündlich hatte er durch diese Mauer gehört, wie sie auf und ab gingen, sprachen, berieten – und hatte nicht gelauscht. Vielleicht waren ihre Worte Seufzer gewesen, er hatte sie nicht gehört. Seine Gedanken weilten anderswo, in unerreichbaren Sphären, bei Traumgebilden; und während diese menschlichen Geschöpfe, seine Brüder in Christo, seine Brüder aus dem Volke, neben ihm im Todeskampf lagen, in einem sinnlosen Ringen um das Leben, hatte er geträumt! Er war mitschuldig an ihrem Elend, er hatte es noch schlimmer gemacht. Hätten sie einen anderen Nachbarn gehabt, einen, der aufmerksamer war und nicht in Phantasien schwelgte, einen gewöhnlichen Menschen mit einem gesunden Herzen im Leibe, gewiß wäre ihr Jammer bemerkt worden, längst hätte man sie aus der Gosse aufgelesen und gerettet! Gewiß waren sie erniedrigt, verdorben, gemein, scheußlich sogar, aber wie selten verfallen Menschen der Not, ohne sich zu beschmutzen? Es gibt einen Zustand, in dem Schmach und Unglück dasselbe sind, und dieses eine Wort ›Die Elenden‹ bedeutet ja schon beides. Wessen Schuld ist das? Und muß nicht, je tiefer der Fall, um so größer auch das Mitleid sein?
Während Marius sich dies alles vorhielt und dabei, wie alle wahrhaft edlen Herzen, härter mit sich zu Gericht ging, als er verdiente, betrachtete er die Mauer, die ihn von den Jondrettes trennte, als ob sein Blick voll Mitleid durch diese Wand zu ihnen dringen und die Unglücklichen wärmen könnte. Es war eine dünne Wand aus Brettern und Balken, durch die man Geräusch und Stimmen aus dem Nachbarraum sehr wohl verstehen konnte. Man mußte ein Träumer wie Marius sein, um es nicht längst bemerkt zu haben. Fast unbewußt betrachtete Marius die Mauer. Plötzlich bemerkte er oben in der Wand, knapp unter der Decke, ein dreieckiges Loch, das zwischen drei Brettern freigeblieben war. Die dürftige Mörtelverkleidung war abgebröckelt, so daß Marius, wenn er auf seine Kommode stieg, bequem in das Zimmer der Jondrettes hinabblicken konnte.
Das Mitleid hat zuweilen das Recht, neugierig zu sein. Es ist erlaubt, das Elend zu belauschen, wenn man ihm zu Hilfe kommen will.
Marius stieg auf die Kommode und blickte durch das Loch in den Nachbarraum.
Das Raubtier in seiner Höhle
Die Höhlen der Raubtiere sind zuweilen denen der Menschen vorzuziehen.
Marius blickte in ein schmutziges Loch.
Er selbst war arm, sein Quartier war dürftig; doch war seine Armut edel, sein Unterschlupf sauber. Das Loch aber, in das er jetzt sah, war verlottert, schmutzig, dunkel, widerwärtig. Das Mobiliar bestand aus einem Strohsessel, einem wackeligen Tisch, einigen alten Töpfen, zwei elenden Bettgestellen; dem Fenster dienten wohl die Spinnweben als Vorhänge. Durch diese Luke drang gerade genug Licht ein, um die Menschen in diesem Raum gespenstisch erscheinen zu lassen. Die Wände waren unrein wie die Haut eines Leprakranken, bedeckt mit Narben und Rissen. Klebrige Feuchtigkeit haftete an ihnen. Irgend jemand hatte mit einem Kohlenstift obszöne Skizzen darauf gezeichnet.
Doch gab es in diesem Zimmer einen Kamin – darum kostete es auch vierzig Franken jährliche Miete. Und in dem Kamin war alles mögliche zu bemerken, ein kleiner Kochherd, ein Topf, zerbrochene Bretter, Fetzen, die an Nägeln hingen, ein Vogelkäfig, Asche, und sogar ein kleines Feuer. Zwei Scheite brannten darin.
Die eine der Pritschen stand an der Tür, die andere am Fenster. Beide berührten den Kamin und standen an der Wand, die Marius gegenüber lag. In einem Winkel hing an der Wand eine farbige Gravüre in einem schwarzen Holzrahmen, unter der mit großen Lettern geschrieben stand:
»Der Traum«.
Sie stellte eine schlafende Frau und ein schlafendes Kind dar; über ihr in einer Wolke schwebte ein Adler, der eine Krone im Schnabel trug; die Schlafende hatte die Krone offenbar, ohne aufzuwachen, von dem Kopf des Kindes zurückgeschoben. Im Hintergrund Napoléon im Glorienschein, gestützt auf eine waschblaue Säule mit einem vergoldeten Kapitell, das folgende Inschrift zeigte:
Marengo
Austerlitz
Jena
Wagram
Eylau
Unter diesem Bild stand, an die Wand gelehnt, ein großes Holzschild. Die bemalte Seite war offenbar der Wand zu gerichtet.
An dem Tisch, auf dem Marius eine Feder, Papier und ein Tintenfaß bemerkte, saß ein Mann von etwa sechzig Jahren: klein, mager, blaß, mit einem grausamen, unsteten Gesicht – ein widerwärtiger Kerl.
Er hatte einen langen, grauen Bart. Seine Kleidung bestand aus einem Frauenhemd, das seine zottige Brust und seine behaarten Arme bloß ließ, ferner aus einer mit Kot bespritzten Hose und Schuhen, aus denen seine Zehen hervorstanden.
Er hatte eine Pfeife im Mund und rauchte.
Wahrscheinlich schrieb er gerade wieder einen jener Bettelbriefe, die Marius schon kannte.
Am Kamin hockte eine dicke Frau, die ebensogut vierzig wie hundert Jahre alt sein konnte; sie hatte fröstelnd ihre bloßen Füße an den Leib gezogen.
Auch sie trug nur ein Hemd und einen Unterrock, der mit zahlreichen Flicken besetzt war. Eine Schürze aus grober Leinwand verdeckte die Hälfte dieses Unterrocks. Obwohl diese Frau gebückt saß, konnte man sehen, daß sie sehr hochgewachsen war. Gegen ihren Gatten konnte sie eine Riesin darstellen. Sie hatte rötliche, ergrauende Haare, die sie zuweilen mit ihren plumpen Händen zurückstrich.
Auf einer der Pritschen bemerkte Marius ein hochgewachsenes junges Mädchen, das fast nackt war und im Sitzen die Beine baumeln ließ; sie schien weder zuzuhören noch zu sehen oder überhaupt zu leben.
Offenbar war es die jüngere Schwester des Mädchens, das zu Marius gekommen war. Sie schien elf oder zwölf Jahre alt, aber wenn man näher zusah, konnte man sie auf vierzehn schätzen.
Geraume Zeit blickte Marius in diesen ungemütlichen Raum hinab, der ihm abstoßender erschien als ein Grab, denn in dieser Gruft atmeten und lebten Menschen.
Der Mann schwieg, die Frau döste vor sich hin, das Mädchen war vollkommen regungslos. Man hörte, wie die Feder auf dem Papier kratzte.
Strategie und Taktik
Bedrückt wollte Marius eben von seinem Beobachtungsposten herabsteigen, als ein unerwartetes Geräusch seine Aufmerksamkeit neu weckte und ihn bewog zu bleiben.
Die Tür wurde jäh aufgerissen, die ältere der beiden Töchter erschien auf der Schwelle. Jetzt hatte sie grobe Holzschuhe an den Füßen und war in eine alte zerlumpte Mantille gehüllt, die Marius vorher nicht bemerkt hatte; offenbar hatte das Mädchen sie, um erbarmungswürdiger auszusehen, vorher abgelegt und im Weggehen wieder umgenommen. Jetzt trat sie ein, schlug die Tür hinter sich zu, verschnaufte – denn sie war ganz außer Atem – und rief dann triumphierend:
»Er kommt!«
Vater und Mutter wandten sich ihr zu, nur die Kleine blieb reglos.
»Der Philanthrop?«
»Ja.«
»Der von Saint-Jacques?«
»Ja.«
»Und er kommt bestimmt?«
»Ja, in einer Droschke.«
»In einer Droschke! Es ist Rothschild selbst.«
Der Vater stand auf.
»Aber woher weißt du so bestimmt, daß er kommt? Wieso bist du früher da als er, wenn er eine Droschke genommen hat? Hast du ihm denn die richtige Adresse gegeben? Hast du ihm gesagt: die letzte Türe rechts im Korridor? Hoffentlich verirrt er sich nicht. Hast du ihn in der Kirche getroffen? Was hat er zu meinem Brief gesagt?«
»Babababa«, sagte die Tochter, »du hast es aber eilig! Also ich bin in die Kirche gekommen, er war natürlich da, wie immer, und habe gegrüßt. Dann habe ich ihm den Brief gegeben, und er hat gesagt: Wo wohnen Sie, mein Kind? Ich wollte ihn gleich führen, aber er verlangte nur die Adresse, denn seine Tochter hatte noch Einkäufe zu besorgen, und er wollte dann eine Droschke nehmen. Er sagte, er würde gleichzeitig mit mir hier sein. Als ich ihm die Adresse angab, war er überrascht und schien zu zögern, dann aber sagte er: ›Gut, ich komme.‹ Ich sah ihn nach der Messe aus der Kirche weggehen und in den Fiaker einsteigen. Das war in der Rue du Petit Banquier. Dann bin ich gelaufen.«
»Gut, du bist ein gescheites Mädchen.«
In dem Gesicht des Mannes leuchtete es auf.
»Frau«, sagte er, »der Philanthrop kommt. Feuer löschen!«
Die verblüffte Mutter rührte sich nicht.
Gewandt wie ein Seiltänzer langte der Vater einen Topf ohne Henkel vom Kamin herab und goß das Wasser auf die brennenden Scheite. Dann sagte er zu seiner älteren Tochter:
»Schlag den Stuhl entzwei.«
Sie begriff nicht.
Dann nahm er den Stuhl und stieß mit dem Fuß so heftig in das Strohgeflecht, daß das ganze Bein durchkam.
Während er es wieder herauszog, wandte er sich an seine Tochter:
»Ist es kalt draußen?«
»Sehr kalt, es schneit.«
Der Vater wandte sich zu der jüngeren Tochter, die noch immer auf der Pritsche saß, und brüllte sie an:
»Rasch, herunter von dem Bett, Nichtstuerin! Du betätigst dich gar nicht im Haushalt! Schlag eine Fensterscheibe ein!«
Die Kleine sprang von der Pritsche herunter.
»Eine Fensterscheibe sollst du einschlagen!«
Das Kind blieb betroffen stehen.
»Hörst du nicht?«
In ihrem verschüchterten Gehorsam stellte sich die Kleine auf die Zehenspitzen und schlug mit der Faust in eine Scheibe. Laut klirrend fiel das Glas heraus.
»Gut«, sagte der Vater.
Nun warf er einen prüfenden Blick auf das Zimmer. Man hätte ihn für einen General halten können, der vor der Schlacht die letzten Vorbereitungen trifft.
Die Mutter hatte bis jetzt noch nichts geäußert. Langsam und dumpf fragte sie:
»Liebling, was willst du tun?«
»Leg dich aufs Bett«, antwortete der Mann.
Der Ton, in dem dieser Befehl erteilt wurde, erlaubte keine Widerrede. Die Mutter gehorchte und fiel schwer auf die Pritsche. Aus der Ecke war Schluchzen zu hören.
»Was ist denn los?« fragte der Vater.
Die Jüngere von den beiden Schwestern streckte, ohne aus ihrer Ecke hervorzukommen, ihre blutige Hand vor. Sie hatte sich an der zerschlagenen Fensterscheibe verletzt.
Nun begann die Mutter zu schreien.
»Da siehst du, was für Dummheiten du machst! Jetzt hat die Kleine sich geschnitten!«
»Um so besser.«
»Wieso um so besser?«
»Ruhe! Ich unterdrücke die Freiheit der Meinungsäußerung.«
Dann riß er von seinem Frauenhemd einen Lappen ab und verband damit die blutige Hand der Kleinen.
Sein prüfender Blick fiel auf sein Hemd.
»Das Hemd geht«, sagte er, »es hat Stil.« Dann lehnte er sich an den Kamin:
»So, jetzt können wir den Philanthropen empfangen.«
Ein Lichtstrahl fällt in ein dunkles Loch
Jetzt herrschte längere Zeit Stillschweigen in der Höhle. Die ältere Tochter schabte mit sorgloser Miene den Kot von ihrer Mantille, die junge weinte vor sich hin. Die Mutter hatte ihren Kopf in die Hände genommen, küßte ihn und flüsterte:
»Still, Schatz, es ist nicht schlimm, weine nicht, Papa wird sonst böse.«
»Ganz und gar nicht«, sagte der Vater, »weine nur. Das ist ganz gut.«
Dann wandte er sich an die Ältere:
»Siehst du, er kommt nicht. Jetzt hab ich das Feuer ausgelöscht, den Stuhl ruiniert, mein Hemd zerrissen und die Scheibe eingeschlagen – alles für nichts.«
In demselben Augenblick wurde leise an die Tür geklopft.
Sofort öffnete der Alte und empfing seinen Gast mit tiefen Verneigungen und liebenswürdigem Lächeln.
»Treten Sie ein, mein Herr. Geruhen Sie einzutreten, mein edler Wohltäter, und auch Sie, treten Sie ein, reizendes Fräulein!«
Ein bejahrter Mann und ein junges Mädchen erschienen auf der Schwelle.
Marius hatte seinen Platz noch nicht verlassen. Was er in diesem Augenblick empfand, läßt sich nicht beschreiben.
Es war sie.
Sie! Kaum hatte Marius sie erkannt, als sich ein lichter Schleier über seine Augen legte. Das war dieses entzückende Gesicht, das verschwunden war, um ihn in düsterer Nacht zurückzulassen. Jetzt ging die verfinsterte Sonne wieder auf!
Und hier in dieser Höhle, an diesem Ort des Schreckens sollte er sie wiederfinden!
Er zitterte. Er fühlte, daß er in Tränen ausbrechen werde. Ihm war, als ob er seine verlorene Seele wiederfände.
Sie war unverändert, nur ein wenig blasser; ihr reizendes Gesichtchen wirkte unter dem violetten Samthut schöner als je. Sie trug einen schwarzen Atlaspelz. Ihre kleinen Füße steckten in Seidenschühchen.
Noch immer war sie in Begleitung Herrn Leblancs. Sie hatte einige Schritte in das Zimmer hineingetan und ein ziemlich großes Paket auf den Tisch gelegt.
Die ältere Tochter Jondrette hatte sich hinter die Tür zurückgezogen und betrachtete düster den Samthut, den Seidenmantel und das strahlende, glückliche Antlitz.
Jondrette weint fast
»Mein Herr«, sagte Leblanc zu Jondrette, »Sie finden in diesem Paket einige Kleidungsstücke, Strümpfe und Wolldecken.«
»Unser edler Wohltäter überhäuft uns mit gütigen Geschenken«, antwortete Jondrette und verneigte sich tief. Dann flüsterte er seiner älteren Tochter, während die beiden Besucher sich in dem kläglichen Raum umsahen, zu:
»Lumpenzeug, aber kein Geld. Immer dasselbe. Übrigens, wie war der Brief an diesen alten Trottel unterschrieben?«
»Favantou.«
»Aha, dramatischer Schauspieler!«
Jondrette hatte Glück, denn in diesem Augenblick wandte sich Leblanc zu ihm und sagte mit der Miene eines Mannes, der in seinem Gedächtnis nach einem Namen sucht:
»Ich sehe, es geht Ihnen sehr schlecht, Herr …«
»Favantou«, antwortete Jondrette eifrig.
»Richtig, Herr Favantou. Jetzt erinnere ich mich.«
»Ich bin dramatischer Schauspieler, mein Herr, ich habe meine Erfolge gehabt!«
Offenbar glaubte Jondrette den Augenblick gekommen, um dem Philanthropen zu sagen, wer er war. Mit der Mimik eines Jahrmarktclowns und der Demut eines Straßenbettlers sprach er weiter:
»Ich bin ein Schüler Talmas, mein Herr! Einst hat mir das Glück gelächelt. Ach, und jetzt hat sich alles zum Bösen gewandt. Sie sehen, mein Wohltäter – kein Brot, kein Feuer im Kamin! Meine armen Kinder müssen frieren! Der einzige Stuhl ist verdorben, die Fensterscheibe zerbrochen! Und das bei diesem furchtbaren Wetter! Meine Gattin im Bett – krank!«
»Die arme Frau«, sagte Leblanc.
»Und mein Kind verwundet!«
Die Kleine heulte noch immer vor sich hin.
»Sie sehen, schönes Fräulein«, fuhr Jondrette fort, »ihre Hand blutet! Sie arbeitet an der Maschine, um täglich sechs Sous zu verdienen. Dabei ist ihr nun dieses Unglück zugestoßen. Vielleicht wird man ihr den Arm abnehmen müssen.«
»Im Ernst?« fragte der Greis erschrocken.
Das junge Mädchen schien diese Prophezeiung ernst zu nehmen, denn es begann noch lauter zu jammern.
»Ach, so ist es, mein Wohltäter«, schloß Jondrette.
Er hatte inzwischen den Philanthropen mit eigenartigen Blicken verfolgt. Während er sprach, schien er aufmerksam nachzudenken, als ob er eine Erinnerung wachzurufen suchte. Jetzt benützte er einen Augenblick, da die Fremden die Hand der Tochter betrachteten, um an das Bett seiner Frau zu treten und zu flüstern:
»Sieh dir den Mann an!«
Dann wandte er sich wieder zu Leblanc und fuhr fort zu klagen:
»Sie sehen, mein Herr, ich habe nichts anderes anzuziehen als ein Hemd meiner Frau, und es ist ganz zerrissen! Und mitten im Winter! Ohne Rock kann ich nicht ausgehen. Wenn ich auch nur einen einfachen Rock hätte, ginge ich zu Fräulein Mars, die mich kennt und schätzt. Sie wohnt doch noch Rue de la Tour-des-Dames? Kennen Sie sie? Wir haben früher in der Provinz miteinander gespielt, und ich habe ihre Lorbeeren teilen dürfen. Célimène würde mir zu Hilfe kommen, mein Herr. Elmira würde Belisar ein Almosen geben. Aber nein, es ist unmöglich. Keinen Sou habe ich im Hause! Meine Frau ist krank, und ich habe keinen Sou! Meine Tochter gefährlich verwundet – kein Geld im Hause! Meine Frau leidet unter Erstickungsanfällen. Das liegt wohl an ihrem Alter. Und ihre Nerven sind vollkommen verdorben. Ihr und meiner Tochter wäre Hilfe nötig. Aber der Arzt?! Und wie soll ich ohne einen Pfennig in der Tasche den Apotheker bezahlen? Ach, so weit hat mich die Kunst gebracht, und wie tief sind heutzutage die Künste gesunken! Und begreifen Sie wohl, mein reizendes Fräulein, und auch Sie, mein großmütiger Förderer, der Sie Tugend und Güte ausatmen und jene Frömmigkeit der Kirche, in der meine Tochter Ihnen täglich begegnet: ich erziehe meine Töchter religiös. Ich habe nicht erlaubt, daß sie zum Theater gehen. Daß ich sie nicht auf Abwegen treffe! Da laß ich mit mir nicht spaßen! Ich erziehe sie im Geiste der Ehre, der Moral und der Tugend. Fragen Sie die Mädchen nur selbst! Der gerade Weg ist der einzig anständige. Diese Kinder haben einen Vater. Das sind nicht Unglückliche, die keine Familie haben und später aller Welt zu Willen sind. Wer als Fräulein Niemand anfängt, wird alsbald jedermanns Freund. So etwas darf in der Familie Favantou nicht passieren. Ich will sie in Ehren großziehen, und sie sollen sittsam und gottergeben sein, heilig sei sein Name! Wissen Sie aber auch, was morgen geschieht? Morgen ist der vierte Februar, der Schicksalstag, die letzte, äußerste Frist, die mir der Hauswirt gegeben hat, und wenn ich heute abend nicht bezahle, wird morgen meine ältere Tochter, meine fiebernde Frau, mein verwundetes Kind – alle vier werden wir morgen aus diesem Hause gejagt, auf die Straße geworfen, ohne Schutz, in Regen und Schnee! So steht’s mit uns, mein Herr. Ich schulde vier Mieten, ein ganzes Jahr, volle sechzig Franken!«
Jondrette log. Denn erstens waren vier Mieten nur vierzig Franken, und zweitens konnte er nicht vier schuldig sein, denn Marius hatte ja vor sechs Wochen zwei für ihn bezahlt.
Leblanc zog ein Fünffrankenstück aus der Tasche und legte es auf den Tisch.
Jondrette flüsterte seiner Tochter zu:
»Der Geizkragen! Was soll ich mit seinen fünf Franken anfangen? Das reicht nicht einmal für den Stuhl und die Scheibe. Mit so etwas macht man sich noch Spesen!«
Inzwischen hatte Herr Leblanc seinen braunen Überrock ausgezogen und über die Lehne des Stuhls gelegt.
»Herr Favantou«, sagte er, »ich habe nur fünf Franken bei mir, aber ich will jetzt meine Tochter nach Hause bringen und noch heute abend wiederkommen. Heute abend sollen Sie doch zahlen, nicht wahr?«
Ein seltsamer Ausdruck erschien auf Jondrettes Gesicht.
»Ja«, erwiderte er lebhaft, »mein ehrenwerter Herr. Um acht Uhr muß ich bei dem Hauswirt sein.«
»Gut, ich komme um sechs und bringe Ihnen die sechzig Franken.«
»Mein Wohltäter!«
Leblanc hatte den Arm des jungen Mädchens genommen und wandte sich zur Tür.
»Auf heute abend also, meine Freunde!«
Jetzt bemerkte die ältere Tochter Jondrettes den Rock, der auf dem Stuhl hängengeblieben war.
»Sie vergessen Ihren Überrock, mein Herr!«
Ein furchtbarer Blick des Vaters traf sie.
Leblanc wandte sich um und sagte lächelnd:
»Ich habe ihn nicht vergessen, ich lasse ihn gern hier.«
Droschkentarif: zwei Franken die Stunde
Marius stürzte aus seinem Zimmer. An der Ecke des Boulevard angelangt, sah er die Droschke in voller Fahrt in die Rue Mouffetard einbiegen. Wie sollte er sie einholen? Nachlaufen? Das war unmöglich. Auch würde man aus dem Wagen sehen, daß jemand hinterherliefe, so rasch ihn die Beine trugen, und der Vater würde ihn erkennen.
In diesem Augenblick kam eine Droschke vorüber, und Marius entschloß sich – erstaunlicher und unerhörter Mut! –, einzusteigen und dem Fiaker zu folgen. Das war sicher, wirksam und gefahrlos.
Also winkte er dem Kutscher und rief:
»Auf eine Stunde.«
Marius war ohne Halstuch und trug seinen alten Arbeitsrock, dem die Knöpfe fehlten; das Hemd war vorn an der Fältelung des Bruststücks zerrissen.
Der Kutscher hielt, zwinkerte, streckte die Linke aus und rieb mit vielsagender Miene Zeigefinger und Daumen aneinander.
»Was wollen Sie?«
»Zahlen Sie im voraus!«
Marius erinnerte sich, daß er nur sechzehn Sous bei sich hatte.
»Wieviel macht das?«
»Vierzig Sous.«
»Ich bezahle, wenn wir zurück sind.«
Der Kutscher antwortete nur, indem er pfiff und mit der Peitsche schnalzte.
Erschrocken sah Marius der Droschke nach, die sich entfernte. Für vierundzwanzig Sous, die ihm fehlten, verlor er seine Freude, sein Glück, seine Liebe! Wieder versank er in tiefe Nacht! Er hatte gesehen und sollte wieder blind werden.
Verzweifelt kehrte er in das Haus zurück.
Als er die Treppe hinaufsteigen wollte, sah er auf der andern Seite des Boulevards Jondrette stehen. Der Mann trug den Rock des Philanthropen und sprach mit einem Kerl von beunruhigendem Äußern; einem Menschen, der aussah wie ein böser Gedanke, einem von jenen, die tagsüber schlafen, woraus man wohl schließen darf, daß sie des Nachts am Werke sind.
So schmerzlichen Gedanken er auch nachhing, wurde er sich doch in diesem Augenblick bewußt, daß dieser Partner Jondrettes einem gewissen Panchaud, genannt Bigrenaille, den ihm Courfeyrac einmal gezeigt hatte, sehr ähnlich sah. Und dieser Panchaud war einer der berüchtigtsten Verbrecher von Paris.
Das Elend bietet dem Kummer seine Dienste an
Marius stieg langsam die Treppe hinauf. Als er in seine Stube eintreten wollte, sah er die ältere Jondrette neben sich. Sie war ihm offenbar gefolgt.
Ihr Anblick war ihm verhaßt, denn ihr hatte er die fünf Franken gegeben, die er jetzt nicht mehr zurückverlangen konnte und deren Verlust ihm zugleich alle Hoffnung genommen hatte, jenem Wagen zu folgen. Jetzt würde sie ihm das Verlorene gewiß nicht wiederbringen können. Auch sie wußte offenbar die Adresse nicht, denn sonst hätte sie ja den Brief des vorgeblichen Favantou nicht an den Wohltäter aus der Kirche Saint-Jacques du Haut-Pas gerichtet.
Er trat in sein Zimmer und schlug die Türe hinter sich zu.
Aber er stieß auf Widerstand. Eine Hand hatte sich in den Spalt geschoben.
»Was gibt’s?« fragte er, »wer ist da? Ach Sie sind es? Schon wieder? Was wollen Sie denn?«
Sie sah nachdenklich aus und hielt die Blicke zu Boden gerichtet. Jetzt war sie nicht so sicher wie am Morgen. Sie trat nicht ein, sondern blieb im Schatten des Korridors stehen.
»Antworten Sie doch, was wollen Sie denn?«
Etwas leuchtete in ihrem trüben Auge, als sie sagte:
»Herr Marius, Sie sehen so traurig aus. Was haben Sie denn?«
»Ich? Nichts.«
»O doch.«
»Nein, wirklich nichts. Lassen Sie mich in Ruhe.«
Wieder wollte er die Türe schließen, aber sie hielt ihn zurück.
»Halt, das ist nicht recht von Ihnen. Obwohl Sie nicht reich sind, waren Sie heute morgen gut zu mir. Seien Sie es auch jetzt. Erst haben Sie mir zu essen gegeben, jetzt sagen Sie mir, was Sie haben. Ich sehe es ja, ein Kummer bedrückt Sie. Ich will nicht, daß Sie traurig sind. Kann ich etwas für Sie tun? Vielleicht kann ich Ihnen einen Dienst leisten? Sagen Sie es mir nur. Ich will keine Geheimnisse erforschen, Sie brauchen mir nichts zu sagen, aber vielleicht kann ich Ihnen nützlich sein. Auch Ihnen kann ich helfen, denn ich helfe ja auch meinem Vater. Wenn es nur darauf ankommt, Briefe zu bestellen oder etwas ausfindig zu machen, von Haus zu Haus etwas zu erfragen oder jemand nachzugehen, so kann ich das sehr gut. Oft kann man wichtige Dinge erfragen, und dann geht alles gut.«
Eine Idee kam Marius. Greift man nicht nach jedem Zweig, wenn man fällt?
»Höre«, sagte er.
In ihren Augen war etwas wie Freude.
»Ja, duzen Sie mich, das habe ich lieber.«
»Du hast diesen Herrn mit seiner Tochter hierhergeführt.«
»Ja.«
»Weißt du ihre Adresse?«
»Nein.«
»Dann suche sie zu erfahren.«
Wenn ihr stumpfes Auge erst freudig geworden war, so wurde es jetzt traurig.
»Also das wollen Sie?«
»Ja.«
»Kennen Sie die Leute?«
»Nein.«
»Also Sie kennen das Mädchen nicht, aber Sie wollen es kennenlernen?«
In der Art, wie sie von »den Leuten« zu »dem Mädchen« kam, war etwas Bitteres.
»Also, kannst du?«
»Sie sollen die Adresse des schönen Fräuleins haben.«
In der Art, wie sie von dem schönen Fräulein sprach, war etwas für Marius Unangenehmes.
»Die Adresse des Vaters oder der Tochter. Kurz ihre Adresse.«
Sie sah ihn scharf an.
»Und was bekomme ich dafür?«
»Was du willst.«
»Gut, Sie sollen die Adresse haben.«
Sie senkte den Kopf, machte eine rasche Bewegung, zog die Tür zu und ging.
Marius ließ sich in den Stuhl fallen und wurde von einer Flut von Gedanken, in denen er sich nicht zurechtzufinden vermochte, fortgerissen. Alles, was an diesem Tage vorgefallen war, die Erscheinung jenes Engels, sein Verschwinden, alles schwebte unklar vor seinem Auge.
Plötzlich wurde er jäh aus seiner Nachdenklichkeit gerissen.
Er hörte die laute, harte Stimme Jondrettes, und seine Worte waren für Marius von einem seltsamen Interesse.
»Und ich sage dir, daß ich meiner Sache sicher bin und ihn erkannt habe.«
Von wem sprach Jondrette? Wen hatte er wiedererkannt? Herrn Leblanc, den Vater »seiner Ursule«? Jondrette kannte ihn?
Marius sprang mehr auf die Kommode, als er sie erstieg, und im nächsten Augenblick hatte er seinen Beobachtungsposten wieder bezogen.
Erkannt …
»Wirklich? Du bist deiner Sache sicher?«
Es war die Frau, die so fragte.
»Vollkommen sicher. Es sind acht Jahre her, aber ich habe ihn wiedererkannt. Oh, ob ich ihn wiedererkannt habe! Sofort! Daß dir das nicht gleich in die Augen gesprungen ist?!«
»Nein.«
»Und ich hab dir doch gesagt: paß auf! Dieselbe Figur, dasselbe Gesicht, kaum gealtert, denn manche Leute werden ja nicht älter, weiß der Teufel, wie sie das anstellen. Und auch dieselbe Stimme. Nur ist er besser angezogen. Hinter diesem alten Teufel steckt ein Geheimnis.«
Jetzt wandte er sich an seine beiden Töchter:
»Raus mit euch beiden – komisch, daß es dir nicht gleich aufgefallen ist.«
Die beiden Mädchen waren aufgestanden.
»Soll sie mit der kranken Hand hinausgehen?« fragte scheu die Mutter.
»Die Luft wird ihr guttun. Marsch!«
Offenbar war das ein Mann, dem man nicht widerspricht. Die beiden Mädchen gingen. Im Augenblick, in dem sie die Türe schließen wollten, rief der Vater der Älteren nach:
»Um fünf Uhr pünktlich seid ihr hier. Alle beide. Ich werde euch brauchen.«
Die Aufmerksamkeit Marius’ verdoppelte sich.
Drei- oder viermal ging Jondrette schweigend auf und ab.
Plötzlich wandte er sich nach seiner Frau um, kreuzte die Arme und rief:
»Und soll ich dir noch etwas sagen? Dieses Fräulein …«
»Nun?«
Marius konnte nicht zweifeln, daß von ihr die Rede war. Gierig lauschte er. Es war, als ob sein Leben daran hänge.
Aber Jondrette hatte sich zu seiner Frau herabgeneigt und flüsterte.
Jetzt war er wieder besser zu verstehen.
»Sie ist es. Dieselbe.«
»Diese?«
»Dieselbe.«
Kein Wort kann ausdrücken, mit welcher Betonung die Mutter »diese?« gefragt hatte. In ihrem Tonfall war Überraschung, Wut und Haß.
»Unmöglich«, sagte sie jetzt. »Wenn ich bedenke, daß meine Töchter barfuß und ohne Kleid herumlaufen! Ein Atlaspelz, ein Samthut, Schuhe – Zeug für zweihundert Franken hat sie auf dem Leibe. Man sollte sie für eine Dame halten! Nein, du irrst dich. Übrigens war sie häßlich, und diese ist nicht so übel. Sie kann es nicht sein.«
»Und ich sage dir, daß sie es ist. Du wirst ja sehen.«
Die Jondrette schien Marius in diesem Augenblick schrecklicher als ihr Gatte. Sie glich einer Wildsau mit den Augen einer Tigerin.
»Was, dieses Geschöpf, diese Bettlerin wagt es, mitleidig auf meine Töchter herabzublicken? Ich möchte ihr die Därme aus dem Leib treten!«
Sie sprang von ihrer Pritsche auf und blieb einen Augenblick stehen, zerzaust, mit geblähten Nasenflügeln, halboffenem Mund und geballten Fäusten. Dann ließ sie sich wieder auf die Pritsche zurückfallen.
Der Mann ging auf und ab, ohne auf seine Frau zu achten.
Endlich blieb er wieder vor ihr stehen, kreuzte die Arme, wie er es eben erst getan hatte, und sagte:
»Und soll ich dir noch etwas sagen?«
»Nun?«
»Diesmal habe ich mein Glück gemacht«, sagte er leise.
Aus ihrem Blick sprach die Befürchtung, er sei verrückt geworden.
»Donnerschlag!« rief er, »lang genug wohne ich in der Pfarrei Stirbhungers im Sprengel Kalterherd! Jetzt habe ich genug von dem Jammer. Jetzt bin ich an der Reihe! Jetzt meine ich es todernst, jetzt sehe ich die Dinge gar nicht mehr komisch an. Genug gekalauert! Keine Späßchen mehr, himmlischer Vater! Jetzt will ich mich satt essen und trinken nach meinem Durst! Fressen will ich! Schlafen! Nichts tun! Bevor ich krepiere, will auch ich ein bißchen den Millionär spielen – wie die andern.«
»Was willst du damit sagen?«
Er schüttelte den Kopf, zwinkerte und begann wie ein Kurpfuscher zu predigen:
»Was ich sagen will? Gut, so höre mich an!«
»Still!« murmelte die Jondrette, »nicht so laut, wenn es Dinge sind, die nicht jedermann hören soll.«
»Pah, wer hört uns denn? Der Nachbar? Der ist ausgegangen. Übrigens versteht er doch nichts, dieser Trottel!«
Glücklicherweise dämpfte der dichtfallende Schnee das Rasseln der Wagen auf dem Boulevard, so daß Marius jedes Wort verstehen konnte.
»Paß auf, er ist gefangen, der Krösus. Alles ist in Ordnung. Schon gemacht. Ich habe Leute gesehen. Er kommt um sechs. Die sechzig Franken bringen. Schweinehund! Hast du gesehen, wie ich sie ihm herausgeholt habe, diese sechzig Franken? Ach, war er blöd! Nun, er kommt um sechs. Um diese Zeit geht unser Nachbar essen. Frau Burgon ist in der Stadt mit ihren Wascharbeiten beschäftigt. Niemand im Haus. Der Nachbar kommt vor elf Uhr nie zurück. Die Mädchen können Schmiere stehen. Du kannst uns helfen. Er wird schon kirre werden.«
»Und wenn er nicht kirre wird?«
»Dann machen wir ihn kirre.«
Jondrette lachte unheimlich.
Marius sah ihn zum erstenmal lachen und schauderte.
Jondrette öffnete einen Schrank neben dem Kamin, zog eine alte Mütze heraus und setzte sie, nachdem er sie mit dem Ärmel abgerieben hatte, auf.
»So, jetzt gehe ich. Ich muß noch Leute sehen. Verläßliche Leute. Du wirst schon sehen, wie sich das alles entwickelt. Paß inzwischen auf das Haus auf.«
Er versenkte seine Fäuste in den Hosentaschen und blieb einen Augenblick nachdenklich stehen.
»Ein Glück ist es nur, daß er mich nicht erkannt hat. Wenn er mich wiedererkannt hätte, käme er nicht wieder! Der wäre uns durch die Finger gerutscht. Mein Bart, mein romantischer Bart hat mich gerettet.«
Wieder lachte er.
Er war ans Fenster getreten.
»Hundewetter!«
Er knöpfte seinen Rock zu.
»Die Kluft ist mir zu breit. Immerhin, es war eine verdammt gute Idee von ihm, ihn mir hier zu lassen. Sonst könnte ich jetzt nicht ausgehen, und alles wäre verpatzt. An solchen Dingen hängt oft alles.«
Er zog die Mütze tief ins Gesicht und ging.
Solus cum solo, in loco remoto, non cogitabuntur orare pater noster
Trotz seines Hanges zur Träumerei war Marius, wie wir schon gesagt haben, ein fester, energischer Charakter. Seine Sonderlingsgewohnheiten hatten ihn wohl verfänglich gemacht für Regungen der Sympathie und des Mitleids, vielleicht auch seine Empfindlichkeit herabgemindert, doch war er immerhin noch imstande, sich zu empören. Er war gütig wie ein Brahmane und zugleich streng wie ein Richter; mit einer Kröte konnte er Mitleid haben, aber eine Viper zertrat er. Darum war er jetzt, da er in ein Vipernnest geraten war, zu allem entschlossen.
»Ich werde diesem Elenden den Fuß auf die Stirn setzen«, sagte er.
Von all den Rätseln, die plötzlich vor ihm standen, war keines gelöst worden; im Gegenteil, er tappte mehr denn je im finstern. Nichts wußte er über das hübsche Kind aus dem Luxembourg, nichts über den Mann, den er Leblanc nannte, außer der einzigen Tatsache, daß Jondrette ihn kannte. Aus dem ganzen Wirrwarr der Worte, die er gehört hatte, begriff er nur eines, daß hier ein Hinterhalt gelegt werden sollte; daß vielleicht alle beide, gewiß aber ihr Vater in großer Gefahr schwebte.
Einen Augenblick lang beobachtete er die Jondrette, dann stieg er von seiner Kommode so geräuschlos wie möglich herab. Er fühlte jetzt Freude bei dem Gedanken, daß er vielleicht ihr, die er liebte, einen so bedeutsamen Dienst erweisen könne. Aber was konnte er tun? Die Bedrohten warnen? Wo sollte er sie finden? Er wußte ja die Adresse nicht. Sie waren einen Augenblick vor seinen Augen aufgetaucht, dann wieder verschwunden in den unendlichen Tiefen von Paris. Sollte er Herrn Leblanc am Abend um sechs Uhr an der Türe abpassen? Jondrette und seine Leute würden ihn bemerken, die Gegend war öde, unschwer konnten sie ihn überwinden und beiseite schaffen; dann war er, den Marius retten wollte, vollends verloren.
Jetzt war es ein Uhr. Um sechs Uhr würde alles vorüber sein. Marius hatte also noch fünf Stunden vor sich.
Ihm blieb nur ein einziger Ausweg übrig.
Er zog seinen Rock an, band sich das Halstuch um, setzte den Hut auf und schlich sich fort, leiser, als ob er barfuß über Moos gegangen wäre.
Sobald er das Haus verlassen hatte, eilte er nach der Rue du Petit Banquier.
Er war schon in der Mitte jener Straße, an einer sehr niedrigen Mauer, die man an gewissen Stellen leicht überspringen kann; langsam, in Gedanken versunken, ging er einher; der Schnee dämpfte das Geräusch seiner Schritte. Plötzlich hörte er ganz nahe, hinter der Mauer, sprechen. Er wandte den Kopf um, sah aber niemand, obwohl es heller Tag war.
Schon wollte er über die Mauer schauen. Er warf einen Blick über die Brüstung und gewahrte zwei Männer, die an die Mauer gelehnt standen und leise sprachen.
Die beiden waren ihm unbekannt. Der eine war bärtig und trug eine Arbeiterbluse, der andere war in Lumpen gehüllt. Der Bärtige trug eine Griechenmütze, der andere war barhäuptig und hatte Schnee in den Haaren.
Der in Lumpen stieß den anderen mit dem Ellbogen an und sagte:
»Wenn Patron-Minette mittut, kann es nicht schiefgehen.«
»Meinst du?« fragte der Bärtige.
Jeder bekommt fünfhundert ab, und die äußerste Gefahr sind fünf Jahre, sechs Jahre, höchstens zehn.«
Zögernd antwortete der mit der Griechenmütze:
»Das ist eine Stange Geld. So was findet man nicht alle Tage.«
»Und ich sage dir, daß es nicht schiefgehen kann. Der Wagen von Papa Dingsda ist schon angespannt.«
Dann wechselten sie das Thema.
Marius setzte seinen Weg fort. Ein Gefühl sagte ihm, daß die dunklen Anspielungen der Männer, die er da hinter der Mauer gehört hatte, vielleicht mit Jondrettes scheußlichen Plänen zusammenhingen.
Er wandte sich nach dem Faubourg Saint-Marceau und erkundigte sich in dem erstbesten Laden nach dem nächsten Polizeikommissariat. Man wies ihn nach der Rue de Pontoise Nr. 14. Dorthin ging Marius.
Ein Polizeiagent und ein Advokat
Der Polizeikommissar war nicht da. Aber da die Sache eilig war, konnte Marius einen Inspektor treffen.
Es war ein hochgewachsener Mann, der an einem Ofen lehnte. Sein Gesicht war breitknochig, zeigte dünne, energische Lippen, einen starken, struppigen, bereits angegrauten Bart und einen Blick, der einem die Taschen umdreht.
Dieser Mensch sah nicht weniger wild und bedrohlich aus als Jondrette. Man begegnet zuweilen der Dogge ebenso ungern wie dem Wolf.
»Was wollen Sie?« fragte er Marius, ohne ihn erst »Herr« anzusprechen.
»Der Herr Polizeikommissar?«
»Ist abwesend. Ich vertrete ihn.«
»Es handelt sich um eine Sache, die streng geheim bleiben muß.«
»Dann sprechen Sie.«
»Und es eilt sehr.«
»Dann sprechen Sie rasch.«
Die Ruhe und Kürze des Mannes war zugleich beunruhigend und doch vertrauenerweckend. Marius erzählte ihm, was er wußte, daß nämlich ein Mann, den er nur vom Sehen kenne, heute abend in einen Hinterhalt gelockt werden sollte, daß er, Marius Pontmercy, Advokat, als Bewohner des Nebenzimmers durch die Wand das Komplott mit angehört habe, daß der Lump, der alles ausgeheckt, ein gewisser Jondrette sei und viele Komplizen habe, wahrscheinlich berüchtigte Verbrecher; unter anderem scheine ein gewisser Panchaud, der auch Bigrenaille genannt werde, in die Sache verwickelt zu sein. Und Jondrettes Töchter stünden Schmiere. Es sei unmöglich, den bedrohten Mann zu warnen, da man ja nicht einmal seinen Namen wisse; und alles das solle heute abend um sechs an einer besonders öden Stelle des Boulevard de l’Hôpital Nr. 50 bis 52 stattfinden.
Jetzt blickte der Inspektor auf und fragte ruhig:
»Das Zimmer am Ende des Korridors?«
»Genau dort. Kennen Sie das Haus?«
Der Inspektor schwieg einen Augenblick lang, dann sagte er: »Es scheint wohl.«
Dabei wärmte er seine Stiefelabsätze an der Ofentür. Mehr als ob er mit sich selbst spräche, fuhr er fort:
»Da ist sicher wieder Patron-Minette ein wenig im Spiel.«
Marius war verblüfft.
»Patron-Minette, ja, diesen Namen hörte ich nennen.«
Und er erzählte dem Inspektor von dem Gespräch zwischen dem Bärtigen und dem Mann in der Arbeiterbluse hinter der Mauer der Rue du Petit-Banquier.
»Der Bärtige ist wohl Demi-Liard, genannt Deux-Milliards, und der andere Wuschelkopf Brujon.«
Er dachte wieder nach.
»Und was den Papa Dingsda betrifft, so weiß ich schon, was es damit auf sich hat. Holla, ich verbrenne mir ja meinen Rockärmel. Haben sie doch wieder den Ofen geheizt. Nr. 50 bis 52. Früherer Besitz Gorbeau. Ich kenne die Baracke. Drinnen können wir uns nicht verstecken, ohne daß diese Fachleute uns entdecken. Dann rücken die Schauspieler aus, bevor das Vaudeville in Szene geht. Die Leute sind so bescheiden. Publikum ist ihnen immer unangenehm. Ich will sie aber doch singen hören und tanzen sehen.«
Dann wandte er sich wieder Marius zu.
»Sind Sie furchtsam?«
»Wovor soll ich mich fürchten?«
»Vor diesen Burschen.«
»Ebensowenig wie vor Ihnen«, antwortete Marius brüsk, denn es war ihm unangenehm, daß der Spitzel ihn nicht Herr nannte.
Der Inspektor sah ihn scharf an und sagte dann fast feierlich:
»Sie sprechen da wie ein tapferer und ein ehrenwerter Mann. Der Mutige fürchtet nicht das Verbrechen, der Ehrenhafte nicht die Obrigkeit.«
»Gut«, unterbrach ihn Marius, »aber was wollen Sie tun?«
»Die Bewohner dieses Hauses haben alle Hausschlüssel. Sie müssen auch einen haben.«
»Ja.«
»Haben Sie ihn bei sich?«
»Ja.«
»Dann geben Sie ihn mir.«
Marius zog den Schlüssel aus seiner Weste und reichte ihn dem Inspektor. »Wenn Sie auf mich hören wollen«, fuhr er fort, »so kommen Sie nicht allein.«
Der Inspektor sah Marius an, wie Voltaire wohl einen Provinzlehrer angesehen hätte, der ihm etwa einen Reim vorschlug; dann vergrub er seine beiden mächtigen Hände in den gewaltigen Taschen seines Rocks und zog zwei kleine Pistolen hervor, Pistolen von jener Art, die man Faustschläger nennt. Er reichte sie Marius und sagte lebhaft und kurz:
»Nehmen Sie diese beiden da. Gehen Sie nach Hause. Verbergen Sie sich in Ihrem Zimmer. Man muß glauben, Sie wären ausgegangen. Die Pistolen sind geladen. Jede hat zwei Schüsse. Sie können durch das Loch in der Wand, von dem Sie sprachen, alles beobachten. Lassen Sie die Sache erst in Gang kommen. Wenn Sie glauben, daß sie soweit gediehen ist, geben Sie einen Schuß ab. Nicht zu spät. Das Weitere besorge ich. Schießen Sie in die Luft, in die Decke, wohin Sie wollen. Jedenfalls nicht zu spät! Warten Sie, bis die Sache in Gang ist, Sie sind Advokat und müssen es ja verstehn.«
Marius steckte die Pistolen in seine Rocktasche.
»Da sieht man sie«, sagte der Inspektor, »tun Sie sie lieber in die Hosentaschen.«
Marius gehorchte.
»So, und jetzt wollen wir keine Minute mehr verlieren. Wenn Sie vorher noch etwas Weiteres mitzuteilen haben, kommen Sie selbst oder schicken Sie jemand. Wenden Sie sich an den Inspektor Javert.«
Marius versteckt sich
Glücklicherweise war das Haus noch nicht verschlossen, als Marius ankam. Auf den Fußspitzen stieg er die Treppe hinan und schlich in sein Zimmer. Es war die höchste Zeit, denn kurz nachher hörte er Frau Burgon fortgehen und das Haustor abschließen.
Er setzte sich auf sein Bett. Sein Puls schlug so laut, daß er ihn wie das Ticken einer Uhr hören konnte. Furcht empfand er nicht, aber er dachte nicht ohne Zittern an die Dinge, die da kommen sollten.
Die Zeit verstrich. Es hatte aufgehört zu schneien. Es dunkelte. Bei Jondrettes war Licht angezündet worden. Marius sah durch das Loch in der Wand einen roten Schimmer, der ihm blutig schien. Jedenfalls konnte er nicht von einer Kerze herrühren. Übrigens rührte sich nebenan niemand, kein Wort wurde gewechselt.
Vorsichtig zog Marius seine Schuhe aus und stellte sie unter das Bett.
Wieder verstrich einige Zeit. Marius hörte die Tür in den Angeln kreischen. Rasch und schwer stieg jemand die Treppe herauf. Es war Jondrette, der nach Hause kam.
Alle begannen zugleich zu sprechen. Offenbar war die ganze Familie in der Stube versammelt. Nur hatte sie bisher geschwiegen, wie es im Wolfsbau still ist, solange der alte Wolf fort ist.
»Guten Tag, Papachen!« riefen die Mädchen.
»Nun?« fragte die Mutter.
»Alles geht wie geschmiert«, erwiderte Jondrette, »aber mir ist schandbar kalt an den Füßen. Du hast recht gehabt, Frau, daß du dich so angezogen hast. Du wirst Vertrauen einflößen müssen.«
»Ich bin fertig und kann sofort gehen.«
»Und du hast nichts vergessen?«
»Sei unbesorgt.«
»Ja«, sagte jetzt Jondrette, »die Falle ist bereit, die Katzen warten«, und etwas leiser: »Legt dies da ins Feuer.«
Marius hörte ein Klirren, wie wenn ein Eisengegenstand auf Kohlen gelegt wird.
»Sind die Türangeln gut geölt?«
»Ja.«
»Wie spät ist es?«
»Bald sechs. In Saint-Médard hat es schon halb geschlagen.«
»Hol’s der Teufel, die Kleinen müssen auf Posten gehen. Hört ihr da!«
Ein Flüstern folgte.
Dann fragte Jondrette laut:
»Also die Burgon ist fort?«
»Jawohl.«
»Und du bist sicher, daß niemand bei dem Nachbarn ist?«
»Er war den ganzen Tag außerhalb. Und um diese Zeit geht er immer essen.«
»Na … immerhin, es wird sich empfehlen, einmal nachzuschauen. Kleine, nimm mal die Kerze und geh herüber.«
Marius ließ sich auf Hände und Knie fallen und kroch unter das Bett.
Er war kaum in seinem Versteck angelangt, als er schon Licht durch den Türspalt sah.
»Papa, er ist schon fort!«
Es war die Stimme der älteren Tochter.
»Bist du drin?«
»Nein, aber der Schlüssel steckt in der Tür.«
»Geh doch hinein.«
Die Türe wurde weit geöffnet, und Marius sah die ältere Tochter Jondrettes mit einer Kerze in der Hand eintreten. Sie ging geradeswegs auf das Bett zu. Marius erlebte einen Augenblick seltsamer Angst. Aber sie blieb vor dem Spiegel stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen und sah hinein. Dann trat sie zum Fenster, sah hinaus und sagte laut und in dem Tonfall halben Irrsinns, der ihr eigentümlich war:
»Wie Paris häßlich ist im weißen Hemd!«
Wieder trat sie vor den Spiegel und betrachtete sich genau.
»Holla«, schrie der Vater, »was treibst du da drüben?«
»Ich schau unter das Bett und unter die Möbel«, erwiderte das Mädchen und fuhr fort, sich die Haare zurechtzustreichen.
»Idiotin!« brüllte der Vater, »sofort kommst du hierher. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
»Ich komm schon. In dieser Bude hat man zu nichts Zeit.«
Dann warf sie einen letzten Blick in den Spiegel und ging.
Gleich darauf hörte Marius die beiden Barfüßigen den Korridor entlanglaufen. Jondrette rief ihnen nach:
»Aufgepaßt! Eine gegen das Tor zu, die andere an der Ecke der Rue du Petit-Banquier. Verliert nicht das Haustor aus dem Auge. Sobald ihr etwas merkt, lauft ihr hierher. Schlüssel habt ihr.«
Die Ältere murrte:
»Barfuß im Schnee Schmiere stehen!«
»Morgen habt ihr Seidenschuhe.«
Jetzt waren nur mehr Marius und die beiden Jondrettes im Haus; oder vielleicht auch die geheimnisvollen Gestalten, die Marius hinter der Mauer gesehen hatte.
Man achte auf den Hintergrund!
Jondrette hatte seine Pfeife angebrannt und sich auf den durchlöcherten Stuhl gesetzt.
Wenn Marius Courfeyrac gewesen wäre, also einer von jenen Menschen, die bei jeder Gelegenheit etwas zu lachen finden, hätte er laut herausplatzen müssen, wenn er durch sein Guckloch die Jondrette sah. Sie trug einen schwarzen Federhut, wie ihn die Herolde Karls X. zu tragen pflegten, einen ungeheuerlichen Schal und Männerstiefel. Das war die Toilette, die Jondrette zu dem Ausruf veranlaßt hatte.
»Du hast recht gehabt, Frau, daß du dich so angezogen hast. Du wirst Vertrauen einflößen müssen.«
Plötzlich begann Jondrette wieder zu sprechen.
»Apropos, er kommt ja in einer Droschke. Ohne Zweifel. Zünde deine Laterne an und geh damit hinunter. Erwarte ihn hinter der Türe. Wenn der Wagen vorfährt, machst du auf und leuchtest dem Philanthropen auf der Treppe. Sobald er im Korridor ist, gehst du zurück und bezahlst den Kutscher, damit er wegfährt.«
»Und das Geld?« fragte die Frau.
Jondrette wühlte in seinen Hosentaschen und holte ein Fünffrankenstück hervor.
»Wo ist denn das her?« fragte die Frau.
»Von unserm Nachbarn, heute früh geschenkt.«
Dann fuhr er fort:
»Wir brauchten auch noch zwei Stühle.«
»Wozu?«
»Mein Gott, zum Sitzen.«
Marius erschauerte, als er die Jondrette gemächlich antworten hörte:
»Na, dann holen wir eben die von unserem Nachbarn.«
Und schon öffnete sie die Tür und trat in den Korridor.
Marius hatte nicht mehr Zeit, von der Kommode herabzuspringen und unter das Bett zu fliehen.
»Nimm die Kerze!« rief ihr Jondrette nach.
»Wie kann ich denn, wenn ich zwei Stühle tragen soll.«
Marius hörte, wie Mutter Jondrette an seinem Schlüssel herumtastete. Die Tür ging auf. Er blieb wie angewachsen an seinem Platz stehen.
Die Jondrette trat ein. Sie konnte Marius in der Dunkelheit nicht sehen, nahm sofort die beiden Stühle, die einzigen, die Marius besaß, und ging wieder; die Tür fiel laut ins Schloß.
»So«, hörte er von drüben sagen, »hier hast du die Laterne, jetzt geh hinunter.«
Jondrette blieb allein zurück.
Er stellte die beiden Stühle an den Tisch, so daß sie einander gegenüberstanden, und trat dann an den Kamin. Marius sah am Boden eine Menge Seile und die Holzsprossen einer Strickleiter liegen.
Offenbar waren diese Geräte unter Tage erst hierhergebracht worden.
In dem Kaminfeuer lagen ein Meißel und eine große Feile.
Schmiedewerkzeug, dachte Marius. Inzwischen hatte Jondrette seine Pfeife ausgehen lassen. Das bewies, daß er intensiv nachdachte. Zuweilen zog er die Augenbrauen hoch und machte mit der rechten Hand Bewegungen, als ob er mit sich selbst spräche. Einmal, wohl in Erwiderung auf eine Frage in diesem Monolog, zog er die Tischlade heraus, entnahm ihr ein langes Küchenmesser und prüfte seine Schärfe an seinem Nagel. Dann warf er es wieder in die Lade zurück, die er zustieß.
Plötzlich erschütterten aus der Ferne sechs schwere Glockenschläge die Fensterscheiben. Die Turmuhr von Saint-Médard zeigte die sechste Stunde.
Jondrette quittierte jeden Schlag mit einem Nicken. Beim sechsten schneuzte er die Kerze mit den Fingern.
Da ging die Tür auf, Mutter Jondrette hatte sie geöffnet und stand auf der Schwelle; sie hatte ein scheußliches Gesicht aufgesetzt, das liebenswürdig sein sollte.
»Treten Sie ein, mein Herr.«
»Treten Sie ein, mein Wohltäter«, wiederholte Jondrette und sprang auf.
Leblanc erschien. In seinem Gesicht war jener Ausdruck edler Heiterkeit, der ihn so ehrwürdig erscheinen ließ.
Er zählte vier Louis auf den Tisch.
»Dies hier, Herr Favantou, für Ihre Miete und Ihre dringlichsten Bedürfnisse. Später werden wir weitersehen.«
»Gott möge es Ihnen vergelten, mein großmütiger Wohltäter«, sagte Jondrette, der sich gleichzeitig seiner Frau genähert hatte.
»Kutscher wegschicken«, flüsterte er ihr zu.
Sie verschwand, während ihr Gatte sich in Begrüßungsförmlichkeiten erging und Herrn Leblanc nötigte, Platz zu nehmen.
Gleich darauf kam sie wieder und sagte leise zu ihrem Mann:
»Abgemacht.«
Es hatte den ganzen Tag über geschneit, und hoher Schnee lag auf der Straße; man hatte den Wagen nicht kommen gehört, und jetzt war er lautlos verschwunden.
Kaum hatte Leblanc sich gesetzt, als er sich auch schon nach den beiden leeren Pritschen umwandte.
»Wie geht es der armen Verwundeten?«
»Schlecht«, antwortete Jondrette mit dankbarem und untertänigem Lächeln, »sehr schlecht, mein edler Herr. Die Ältere hat sie nach dem Spital gebracht, damit sie verbunden wird. Die beiden werden bald zurückkommen.«
»Und auch Frau Favantou scheint es besser zu gehen?« fragte Leblanc und betrachtete die komisch aufgetakelte Person, die zwischen ihm und der Tür stand, als ob sie den Ausgang zu bewachen hätte.
»Ihr ist sterbenselend«, sagte Jondrette, »aber was wollen Sie, mein Herr, sie hat Mut, diese Frau, sie ist kein Weib, sie ist ein Stier.«
»Du bist aber höflich, Jondrette«, rief seine Frau und zog ein schnippisches Mäulchen.
»Jondrette?« fragte Leblanc, »ich dachte Favantou?«
»Favantou, genannt Jondrette«, erwiderte der Gatte lebhaft. Jondrette ist nur der Künstlername.«
Ohne daß Leblanc es merken konnte, gab er seiner Frau zu verstehen, wie wenig er ihre Ungeschicklichkeit schätzte; gleichzeitig aber fuhr er mit zärtlicher Stimme und emphatisch fort:
»Oh, wir haben immer zusammengelebt wie Täubchen und Täuberich, wir beide! Was bliebe uns denn übrig, wenn wir nicht den häuslichen Frieden hätten! Ach, wir sind ja so unglücklich, bester Herr. Man hat gesunde Arme – aber keine Arbeit! Mut zu arbeiten, aber keine Gelegenheit. Ich weiß nicht, wie die Regierung sich das denkt, und auf Ehre, mein Herr, ich bin kein Jakobiner, aber wenn ich Minister wäre und wenn mein Wort gälte, wäre es anders. Sehen Sie, zum Beispiel, ich wollte meine Töchter Kartonagearbeit lernen lassen. Vielleicht werden Sie sagen: wie, ein gewöhnliches Handwerk? Doch! Einen Broterwerb. Ja, es ist ein großer Sturz, ein tiefer Sturz. Welche Erniedrigung, wenn man bedenkt, was wir früher waren. Aber ach, uns bleibt nichts aus vergangenen guten Tagen. Nur dieses einzige Bild da, das ich nie habe aus den Händen geben wollen und das ich jetzt doch verkaufen werde, denn man muß ja schließlich leben!«
Während Jondrette unzusammenhängend drauflossprach, ohne indessen seine gewöhnliche verschmitzte Miene zu verändern, hielt Marius Umschau und bemerkte im Hintergrund eine Person, die er bisher noch nicht gesehen hatte. Jemand war eingetreten, und zwar so leise, daß man die Tür nicht gehen gehört hatte. Er trug eine Weste aus violettem Wollstoff, ein altes, vielfach zerschnittenes Kleidungsstück, dann breite Samthosen und Stiefel, aber kein Hemd. Der Hals war nackt, und die Arme zeigten ihre Tätowierung. Das Gesicht war rußgeschwärzt. Der Unbekannte saß schweigend und mit gekreuzten Armen auf der Pritsche, und da er sich hinter Jondrette hielt, konnte man ihn kaum sehen.
Aber vermöge jenes Instinkts, der den Blick lenkt, wandte sich Leblanc fast gleichzeitig mit Marius nach jener Richtung. Er konnte sich einer gewissen Überraschung nicht erwehren, die auch Jondrette nicht entging.
»Ach«, sagte Jondrette und knöpfte stolz seinen Rock zu, »Sie sehen wohl Ihren Rock an? Er paßt mir. Meiner Treu, er paßt mir ausgezeichnet!«
»Wer ist denn dieser Mann?« fragte Leblanc.
»Der? Ein Nachbar. Achten Sie nicht weiter auf ihn.«
Dieser Nachbar sah recht sonderbar aus. Aber in der Vorstadt Saint-Marceau gibt es viele chemische Fabriken, und schwarze Gesichter sind in Arbeiterquartieren keine Seltenheit. Überdies schien Leblancs ganze Person Furchtlosigkeit und Vertrauen auszuatmen.
»Verzeihung«, sagte er, »aber wovon sprachen Sie gerade, Herr Favantou?«
»Ich erlaubte mir, zu erwähnen, mein Herr und Gönner«, fuhr Jondrette fort, indem er sich auf den Tisch stützte und Leblanc zärtlich wie eine Boa constrictor ansah, »daß ich ein Bild verkaufen möchte.«
Von der Türe her war ein leichtes Geräusch zu vernehmen. Ein zweiter Mann trat ein und setzte sich auf das Bett hinter die Jondrette. Auch er hatte nackte Arme und ein rußgeschwärztes Gesicht.
So leise er auch eingetreten war, hatte er nicht verhindern können, daß Leblanc ihn bemerkte.
»Achten Sie nicht darauf«, sagte Jondrette, »das sind Leute aus dem Haus. Ich sagte also, daß ich noch dieses wertvolle Bild … sehen Sie, bitte!«
Er stand auf, trat an die Wand, an der jenes Schild lehnte, von dem wir bereits sprachen, und drehte es um. Marius konnte es nicht deutlich erkennen.
»Was bedeutet denn das?« fragte Leblanc.
»Oh, es ist ein Meisterwerk«, versicherte Jondrette, »ich hänge daran, wie an meinen eigenen Kindern, es ist für mich so reich an Erinnerungen. Aber ich habe es Ihnen schon gesagt, es geht mir so schlecht, daß ich mich jetzt dieses Besitzes entschlagen muß.« Sei es aus Zufall, sei es, daß ein erstes Mißtrauen sich in ihm regte, Leblanc hielt, während er scheinbar das Bild betrachtete, im Zimmer Umschau. Jetzt waren schon vier Männer da. Drei saßen auf einer Pritsche, der vierte lehnte am Türpfosten. Einer von denen, die auf der Pritsche saßen, lehnte sich gegen die Wand und hatte die Augen geschlossen. Es war ein Alter, und man hätte glauben können, er schlafe. Sein geschwärztes Gesicht hob sich unheimlich von seinem weißen Haar ab.
Jondrette fing Leblancs Blick auf.
»Lauter Freunde von mir. Nachbarn. Es sind Ofenarbeiter, die Leute haben viel mit Ruß zu tun. Achten Sie nicht weiter auf sie, Sie sollen ja mein Bild kaufen. Erbarmen Sie sich meines Elends, Sie sollen nicht zuviel dafür zahlen. Was halten Sie davon?«
»Aber das ist ein gewöhnliches Wirtshausschild«, meinte Leblanc und fixierte Jondrette, »es ist knapp drei Franken wert.«
Jondrette antwortete liebenswürdig:
»Haben Sie Geld bei sich? Mit tausend Talern würde ich mich begnügen.«
Leblanc stand auf, lehnte sich an die Wand und durchstreifte mit einem raschen Blick das Zimmer. Zur Linken, gegen das Fenster zu, hatte er Jondrette, zur Rechten, gegen die Tür, jene vier Männer. Sie rührten sich nicht und taten, als ob sie ihn nicht sähen. Jondrette begann wieder in kläglich winselndem Ton weiterzureden. Leblanc mußte aus seiner Sprechweise schließen, daß er es mit einem Mann zu tun habe, den die Not eben vor seinen Augen verrückt gemacht hatte.
»Ach, wenn Sie mein Bild nicht kaufen, bester Herr«, sagte Jondrette, »so bleibe ich ohne Hilfsmittel und muß mich einfach in den Fluß werfen. Mir bleibt nichts übrig, als ins Wasser zu springen. Wenn ich bedenke, daß ich doch meine beiden Töchter Kartonagearbeiten lernen lassen wollte. Jetzt kann ich nichts anderes tun, als ins Wasser springen. Neulich bin ich an der Austerlitzer Brücke drei Stufen hinabgestiegen und habe ins Wasser geschaut …«
Plötzlich aber glühte sein erloschenes Auge schrecklich auf, dieser kleine Mann fuhr auf, trat einen Schritt auf Herrn Leblanc zu und schrie:
»Aber um all das handelt es sich nicht: erkennen Sie mich?«
Der Hinterhalt
Plötzlich ging die Türe auf und drei Männer in blauen Leinenblusen wurden sichtbar. Sie trugen Masken aus schwarzem Papier. Der erste, ein magerer Bursche, trug einen eisenbeschlagenen Stock, der zweite, ein wahrer Riese, hielt eine Hacke, wie man sie beim Rinderschlachten gebraucht, am Schaft, der dritte, weniger mager als der erste und doch nicht so plump wie der zweite, trug einen riesenhaften Torschlüssel, der zu einer Gefängnistür gehören mochte.
Offenbar hatte Jondrette noch auf das Erscheinen dieser drei Leute gewartet. Jetzt entspann sich zwischen ihm und dem Mann mit dem eisenbeschlagenen Stock ein kurzes Gespräch:
»Alles bereit?«
»Ja.«
»Wo ist Montparnasse?«
»Der Steiger quatscht draußen mit deiner Tochter.«
»Mit welcher?«
»Mit der älteren.«
»Ist mein Wagen unten?«
»Ja.«
»Wartet er am richtigen Platz?«
»Ja.«
»Gut«, sagte Jondrette.
Leblanc war sehr blaß. Er blickte um sich, prüfte alle diese Gesichter wie einer, der seine Lage erfaßt, aber er schien sich nicht zu fürchten. Schon hatte er sich hinter den Tisch zurückgezogen; wenn er eben erst wie ein alter Biedermann ausgesehen hatte, so war jetzt der Athlet zum Vorschein gekommen, der seine furchtbare Faust vielsagend auf die Stuhllehne legte.
Marius war in diesem Augenblick stolz auf ihn.
Die drei, die Jondrette als Ofensetzer vorgestellt hatte, waren an den Kamin getreten und hatten sich mit den vorbereiteten Schmiedewerkzeugen bewaffnet. Der Alte saß neben der Jondrette auf dem Bett, hatte aber nun die Augen aufgeschlagen.
Jetzt war der Augenblick gekommen, da Marius handeln mußte. Er richtete eine seiner Pistolen nach der Decke.
Jondrette hatte sein Gespräch mit dem Stockträger beendet und wandte sich jetzt wieder Leblanc zu. Lachend fragte er:
»Sie kennen mich also nicht?«
Leblanc sah ihn ruhig an und antwortete:
»Nein.«
Jetzt trat Jondrette an den Tisch. Er beugte sich vor, kreuzte die Arme und rief:
»Ich heiße nicht Favantou, ich heiße auch nicht Jondrette, mein Name ist Thénardier! Ich bin der Gastwirt aus Montfermeil. Verstehen Sie? Thénardier! Erkennen Sie mich jetzt?«
Eine kaum bemerkbare Röte glitt über Leblancs Stirn, aber er antwortete, ohne Zittern der Stimme, ruhig wie immer:
»Noch immer nicht.«
Marius hörte diese Antwort nicht mehr. Wer ihn jetzt beobachtet hätte, dem wäre er als eine Statue des Entsetzens, der Starrheit erschienen. Als Jondrette gesagt hatte »Ich heiße Thénardier«, begann Marius zu zittern und lehnte sich an die Wand, als ob eine Degenklinge sein Herz durchbohrt hätte. Dann fiel die Hand, die die Pistole hielt, herab. Fast wäre ihr die Pistole entglitten.
Jondrette hatte mit seiner Erklärung zwar nicht Leblanc, aber Marius getroffen. Wenn auch Leblanc diesen Namen Thénardier nicht zu erkennen schien, Marius kannte ihn. Und was bedeutete ihm dieser Name! Er hatte ihn immer an seinem Herzen getragen, im Testament seines Vaters. Ein Thénardier hatte seinem Vater das Leben gerettet, und wenn er, Marius, ihn träfe, sollte er alles für ihn tun. Dieser Name war seinem Herzen heilig. Er trieb mit ihm fast den gleichen Kult wie mit der Erinnerung an den Toten.
Das also war dieser Thénardier, dieser Wirt aus Montfermeil, den er so lange vergeblich gesucht hatte! Und so mußte er ihn finden! Der Mann, der seinen Vater gerettet hatte, war ein Bandit, der Mann, dem Marius jeden Dienst leisten wollte, ein Scheusal! Jetzt war der Retter des Obersten Pontmercy im Begriff, ein Verbrechen zu begehen, das Marius nicht ganz verstand, das aber einem Mord sehr ähnlich sah. Und einen Mord an wem? Welche Fügung des Schicksals! Welch bitterer Hohn des Schicksals! Sein Vater rief ihm aus dem Sarge zu, er solle alles Erdenkliche für Thénardier tun, seit vier Jahren hatte Marius keinen anderen Gedanken gehabt, als diese Schuld seines Vaters einzulösen, und jetzt, da er einen Verbrecher auf frischer Tat der Justiz überliefern wollte, rief ihm das Schicksal zu: dies ist Thénardier! Er mußte das Leben seines Vaters, das jener auf den heroischen Gefilden von Waterloo gerettet hatte, bezahlen – mit dem Schafott bezahlen! Er hatte sich vorgesetzt, er wolle diesem Thénardier zu Füßen fallen, wenn er ihn fände, und jetzt sollte er ihn dem Henker ausliefern! Die Stimme seines Vaters befahl ihm: Eile Thénardier zu Hilfe! und gleichzeitig wollte er, Marius, Thénardier vernichten.
Wenn er schoß, war Leblanc gerettet und Thénardier verloren. Schoß er nicht, so war Leblanc geopfert und Thénardier entkam vielleicht.
Marius’ Knie zitterten; ihn schwindelte. Einen Augenblick lang fürchtete er, in Ohnmacht zu fallen.
Inzwischen ging Thénardier triumphierend vor dem Tisch auf und ab.
Jetzt nahm er den Leuchter, stellte ihn heftig auf den Kamin, wandte sich Leblanc zu und schrie:
»Reingefallen! Verkohlt! Angeflogen!«
Dann begann er wieder auf und ab zu gehen.
»Also ich finde Sie wieder, Herr Philanthrop! Herr Millionär in der Bettlerkluft! Puppenverschenker! Alter Trottel! Sie erkennen mich nicht? Sie waren nicht vor acht Jahren in meiner Herberge in Montfermeil, zu Weihnachten 1823? Sie haben nicht das Kind der Fantine verschleppt? Und Sie haben nicht einen gelben Rock angehabt? Und nicht dieses Paket voll Lumpenzeug mitgebracht wie heute morgen? Sag doch, Frau – das ist wohl sein Schick, daß er überall Pakete mit Wollstrümpfen hinträgt?! Alter Wohltäter! Sie sind wohl Strumpfwirker, Sie? Verschenken Ihre Ladenhüter an die Armen, Sie heiliger Mann? Sie Schwindler! Sie erkennen mich nicht? Na, ich erkenne Sie! Gleich hab ich Sie erkannt, als Sie Ihre Nase hier hereinsteckten. Na, jetzt sieht man wenigstens, daß man nicht überall hineinkriechen darf, als Schnorrer verkleidet, die Leute beschwindeln, den Wohltäter spielen und dann im Walde den wilden Mann herauskehren! So einfach ist das nicht auf der Welt! Wenn man die Leute ruiniert hat, kann man sich nicht mit einem Überrock, der zu weit ist, und zwei elenden Spitaldecken loskaufen. Sie Kinderdieb! Damals haben Sie wohl gelacht über mich? Sie sind schuld an meinem Unglück! Für dreckige fünfzehnhundert Franken haben Sie sich das Mädel erschwindelt, das gewiß reicher Leute Kind war! Die Kleine hatte mir schon Geld eingebracht, und ich hätte von ihr leben können! Das Kind hätte mich entschädigt für alles, was ich in dieser verdammten Kaschemme verloren habe! Aber damals, im Wald, hatten Sie den Stock! Damals waren Sie der Stärkere! Jetzt kommt die Rache. Heute kann ich meine Trümpfe ausspielen, heute hängen Sie, mein Bester! Zum Lachen ist das! Schön ist er hereingefallen! Ich habe ihm erzählt, daß ich der Schauspieler Favantou bin und früher mit der Mars gespielt habe und daß der Hauswirt am vierten Februar seinen Zins haben will. Er hat nicht einmal bemerkt, daß man am achten Januar zahlt, nicht am vierten Februar! Ein unglaublicher Idiot! Dafür bringt er mir diese vier albernen Louis! Schwein! Nicht einmal hundert Franken wollte er herausrücken! Wie er auf mein dummes Gequassel hereinfiel – wirklich zum Lachen! Na, dachte ich mir, du Trottel, dich habe ich. Vormittag Katzenpfötchen, am Abend steig ich dir auf den Bauch.«
Thénardier schwieg. Der Atem war ihm ausgegangen. Seine schmale Brust keuchte.
Leblanc hatte ihn nicht unterbrochen. Erst jetzt sagte er:
»Ich weiß nicht, was Sie wollen. Sie verkennen mich. Ich bin ganz und gar kein Millionär. Ich kenne Sie nicht. Sie verwechseln mich.«
»Ach Spaß!« schrie Thénardier, »damit kommen Sie nicht weit, Alter! Sie erinnern sich nicht? Sie sehen nicht, wer ich bin?«
»Verzeihung, Herr«, antwortete Leblanc mit einer Höflichkeit, die ebenso überraschend wie zwingend war, »ich sehe sehr wohl, wer Sie sind. Sie sind ein Bandit.«
Es ist eine Tatsache, daß auch die Lumpen ihre Empfindlichkeit haben. Bei dem Wort Bandit sprang die Thénardier vom Bett, und ihr Mann griff nach dem Stuhl, als ob er ihn in seinen Händen zerbrechen wollte.
»Rühr dich nicht!« schrie er seiner Frau zu. Dann wandte er sich wieder an Leblanc.
»Bandit? Oh, ich weiß, daß ihr uns so nennt, ihr reichen Leute! Na, es ist ja wahr, ich habe Bankrott gemacht, ich muß mich verstecken, habe kein Brot, kein Geld, also bin ich ein Bandit! Habe seit drei Tagen nichts gegessen: Bandit. Ah, ihr wärmt eure Füße, habt Pelzstiefel und wattierte Röcke wie die Erzbischöfe, ihr wohnt im ersten Stock, freßt Trüffel und Spargelbünde zu vierzig Franken im Januar, ihr besauft euch, und wenn ihr wissen wollt, ob es kalt ist, schaut ihr in der Zeitung nach, was das Thermometer sagt. Wir sind unsere eigenen Thermometer! Wir müssen nicht auf dem Boulevard, im Wetterhäuschen, nachsehen, wieviel Grade es hat, wir spüren, daß uns das Blut in den Adern gefriert und daß das Eis bis zum Herzen steigt. Und dann kommt ihr in unsere Höhlen und nennt uns Banditen! Herr Millionär, ich war Inhaber eines Geschäfts, ich hatte meinen Gewerbeschein, ich war Wähler, ich bin ein Bürger! Sie sind vielleicht gar keiner, Sie! Ich stamme nicht aus der Gosse, Herr Philanthrop, ich bin nicht einer, dessen Namen niemand weiß und der Kinder stiehlt! Ich bin ein alter französischer Soldat, ich hätte einen Orden verdient! Bei Waterloo war ich dabei, habe während der Schlacht einen General gerettet, einen Grafen Pontmercy! Das Bild, das Sie hier sehen, hat David gemalt! Wissen Sie, was es vorstellt? Und wen es darstellt? Mich! David wollte meine Heldentat verewigen. Ich trage den General Pontmercy auf meinem Rücken durch das Feuer. Er hat allerdings nichts für mich getan nachher, dieser General, er war wohl auch nicht mehr wert als die andern. Ich habe ihn mit Gefahr des eigenen Lebens gerettet! Und jetzt, nachdem ich Ihnen das alles gesagt habe, wollen wir zu Ende kommen! Ich brauche Geld, viel Geld, unerhört viel Geld, oder mit Ihnen ist es aus, Donnerkreuz!«
Marius hatte wieder ein wenig Fassung gewonnen und horchte. Jetzt war kein Zweifel mehr möglich. Das war Thénardier, von dem im Testament seines Vaters die Rede war. Marius erschauderte, als dieser Mensch seinen Vater der Undankbarkeit zieh – war er doch jetzt im Begriff, diesen Vorwurf zu rechtfertigen!
Auch Thénardier hatte wieder Atem geschöpft. Er richtete seinen gierigen Blick auf Leblanc und sagte kurz und heiser:
»Was hast du zu sagen, bevor wir dich totschlagen?«
Leblanc schwieg.
Eine verrostete Stimme aus dem Hintergrund fragte:
»Wenn Holz gespaltet werden soll, warum ruft ihr nicht mich?« Es war der Mann mit der Hacke.
Alle wandten sich um. Diesen Augenblick benützte Leblanc, stieß mit dem Fuß den Stuhl, mit der Faust den Tisch zurück und erreichte in einem Sprung, bevor Thénardier sich umwenden konnte, das Fenster. Es aufreißen, auf die Brüstung steigen, war das Werk eines Augenblicks. Schon war er zur Hälfte aus dem Fenster, als sechs kräftige Fäuste nach ihm griffen und ihn zurückrissen. Es waren die drei Ofensetzer, die sich auf ihn gestürzt hatten. Die Thénardier hatte ihn an den Haaren gefaßt.
Bei dem Getöse, das jetzt entstand, eilten die anderen Banditen aus dem Korridor herbei. Der Alte, der bis jetzt auf dem Bett gesessen hatte und betrunken schien, erhob sich und torkelte herbei. Er hielt einen Hammer in der Hand.
Einer der Ofensetzer, dessen geschwärztes Gesicht jetzt von der Kerze hell erleuchtet wurde, und in dem Marius trotz der Maskierung Panchaud, genannt Brigenaille, erkannte, schwang über Leblancs Kopf einen Prügel, der aus einer Eisenstange und zwei Bleikugeln bestand.
Jetzt konnte Marius nicht länger ruhig bleiben.
»Vater«, dachte er, »verzeih mir.«
Sein Finger suchte den Hahn der Pistole. Er war eben im Begriff abzuschießen, als er Thénardier rufen hörte:
»Tut ihm nichts!«
Der verzweifelte Versuch des Opfers, sich zu retten, hatte Thénardier beruhigt. In seiner Brust wohnten zwei Charaktere: Wildheit und List. Bis jetzt hatte die Sicherheit, triumphieren zu können, die Wildheit in den Vordergrund treten lassen; als das Opfer sich aber wehrte, trat die Schlauheit wieder in ihre Rechte.
»Tut ihm nichts«, wiederholte er, ohne wohl zu ahnen, daß er dadurch einen Schuß verhinderte, der Schlimmes auf ihn herabbeschwören mußte; Marius fand die Situation nicht mehr so dringlich. Er konnte noch einen Augenblick warten. Vielleicht würde ein Zufall ihn aus dieser fürchterlichen Alternative befreien, Ursules Vater zu vernichten oder den Retter seines Vaters zu verraten.
Im Nebenzimmer war ein wilder Kampf im Gange. Leblanc hatte den alten Riesen mit einem mächtigen Faustschlag auf die Brust getroffen; dann hatte er zwei andere zu Boden geschleudert. Jetzt aber hielten vier andere den athletischen Greis und zwangen ihn nieder. Leblanc kniete auf den beiden Männern, die er niedergestreckt hatte, die vier andern beugten sich über ihn. Er verschwand in diesem Knäuel wie ein Eber in einer Meute.
Endlich gelang es den vieren, ihr Opfer auf das Bett zu schleppen und dort festzuhalten. Die Thénardier hielt ihn noch immer an den Haaren.
»Misch du dich nicht ein«, rief Thénardier, »du wirst dir nur deinen Schal zerreißen.« Knurrend gehorchte sie ihm, wie die Wölfin dem Wolf nachgibt.
»Und ihr andern«, befahl Thénardier, »durchsucht ihn!«
Leblanc schien auf jeden Widerstand verzichtet zu haben. Man fand bei ihm eine Lederbörse, die sechs Franken enthielt, und sein Taschentuch.
»Kein Portefeuille?« fragte Thénardier.
»Nicht einmal eine Uhr«, erklärte einer der Ofensetzer.
Thénardier holte aus der Ecke das Bündel Stricke und warf es den Leuten zu.
»Bindet ihn an den Fuß des Bettes!«
Gleichzeitig bemerkte er den Alten, den Leblanc mit einem Faustschlag niedergestreckt hatte und der sich noch immer nicht rührte.
»Ist Boulatruelle tot?«
»Nein, nur besoffen.«
»Dann schmeißt ihn in die Ecke«, befahl Thénardier. »Warum hast du nur so viele Leute hergeschleppt, Babet?« fragte er den Stockträger, »das war doch unnütz.«
»Was willst du? Alle wollten mit von der Partie sein. Die Saison ist schlecht. Kein Geschäft.«
Leblanc wehrte sich nicht mehr. Die Briganten banden ihn fest. Als der letzte Knoten geknüpft war, nahm Thénardier einen Stuhl und setzte sich Leblanc gegenüber. Er war jetzt vollständig verändert. Marius konnte in dem höflichen Lächeln dieses Beamtengesichts kaum die bestialische Grimasse erkennen, die er eben noch gesehen hatte. Der Tiger hatte sich in einen Advokaten verwandelt.
»Herr«, sagte Thénardier und winkte den Briganten zu, sie sollten beiseite treten. »Herr, Sie taten unrecht, als Sie aus dem Fenster springen wollten. Sie hätten sich ein Bein brechen können. Jetzt können wir, wenn es Ihnen recht ist, ruhig sprechen. Ich muß Sie zuerst auf eine Beobachtung aufmerksam machen, auf ein kleines Detail, das mir nicht entgangen ist: Sie haben während des ganzen Kampfes nicht geschrien. Mein Gott, wenn Sie ein bißchen um Hilfe geschrien hätten, ich hätte weiter gar nichts dabei gefunden. Man plärrt bei solchen Gelegenheiten – ich hätte es Ihnen wirklich nicht verübelt. Man schlägt eben Lärm, wenn man sich mit Leuten allein findet, denen man nicht vollständiges Vertrauen entgegenbringt. Übrigens ist dieses Zimmer sehr dumpf. Es hat sonst keine Vorteile, aber diesen hat es. Es ist eine rechte Höhle. Wenn hier eine Bombe platzt, glauben die Leute auf dem nächsten Wachtposten, ein Besoffener hat gegrunzt. Es ist ein bequemer Aufenthalt. Aber Sie haben nicht geschrien, und das ist noch besser. Ich gratuliere Ihnen. Aber ich möchte Sie etwas fragen. Lieber Herr, wer kommt, wenn man schreit? Die Polizei. Und wer folgt der Polizei auf dem Fuß? Die Justiz. Sie haben nicht geschrien. Also wünschen Sie nicht die Justiz und die Polizei zu sehen. Ich habe lange Zeit schon so etwas geahnt, Sie wünschen irgend etwas zu verbergen. Das liegt offenbar in Ihrem Interesse. Wir unsererseits, wir wünschen dasselbe. Unsere Interessen begegnen sich. Also können wir uns verständigen.«
Während er so sprach, schien Thénardier mit seinen scharfen Blicken im Herzen seines Gefangenen lesen zu wollen. Er sprach jetzt beherrscht und fast gewählt, so daß man diesen Banditen für einen Zögling eines Priesterseminars hätte halten können.
Das Schweigen, das der Gefangene selbst in höchster Lebensgefahr bewahrt hatte, dieser Widerstand, den er der natürlichen Regung, aufzuschreien, geleistet hatte, berührte Marius peinlich. Thénardiers anscheinend wohlbegründete Bemerkung verdichtete noch das Dunkel, das die seltsame Erscheinung jenes Mannes umgab, den Courfeyrac Herr Leblanc getauft hatte. Aber wer immer er auch sein mochte, in seiner höchst gefährlichen Lage, gefesselt, von Mördern umgeben, bewahrte er seine vollendete Ruhe; Marius konnte sich einer Regung ehrfürchtigen Staunens nicht erwehren, wenn er dieses selbst jetzt noch erhaben melancholische Gesicht betrachtete.
Thénardier stand jetzt auf und trat an den Kamin; er schob einen Paravent beiseite und gab den Ausblick auf die Eisengeräte frei, die in dem Feuer glühten.
Dann setzte er sich wieder vor Leblanc hin.
»Nun«, sagte er, »wir können uns verständigen. Einigen wir uns freundschaftlich. Ich bin zu weit gegangen. Weiß der Teufel, wo mein Verstand in diesem Augenblick war. Gewiß habe ich verrücktes Zeug geredet. Zum Beispiel habe ich gesagt, daß ich sehr, sehr viel Geld brauche, von Ihnen, da Sie ja Millionär sind. Das war unvernünftig. Sie sind ja reich, weiß Gott, aber auch Sie haben Verpflichtungen. Wer hat keine? Ich will Sie nicht ruinieren, ich bin kein Halsabschneider. Zu den Leuten, die einen Vorteil ausnützen bis zur Lächerlichkeit, gehöre ich nicht. Auch ich will Opfer bringen. Ich verlange nur zweihunderttausend Franken.«
Leblanc äußerte kein Wort.
»Sie sehen«, fuhr Thénardier fort, »daß ich mich mäßige. Ich weiß nicht, wieviel Sie haben, aber es kommt Ihnen gewiß nicht darauf an, denn ein Wohltäter wie Sie kann einem unglücklichen Familienvater schon einmal mit zweihunderttausend Franken aushelfen. Gewiß sind Sie vernünftig genug und bilden sich nicht ein, daß ich eine so große Sache arrangiere wie heute – es steckt Arbeit darin, Herr! –, um von Ihnen ein Trinkgeld zu erpressen. Zweihunderttausend Franken, soviel ist die Sache wert. Sobald Sie diese Bagatelle herausgerückt haben, bürge ich Ihnen dafür, daß alles geordnet ist. Sie werden sagen: ich habe den Betrag nicht bei mir. Gut, das habe ich auch nicht geglaubt. So etwas verlange ich gar nicht. Ich will nur etwas: seien Sie so liebenswürdig und schreiben Sie, was ich Ihnen jetzt diktiere.«
Jetzt unterbrach sich Thénardier, dann fuhr er mit einem Lächeln fort:
»Wenn Sie behaupten wollen, daß Sie nicht schreiben können, würde ich auf diesen Scherz allerdings nicht eingehen.«
Ein Großinquisitor hätte ihn um dieses Lächeln beneiden können. Er schob den Tisch vor Leblanc hin, nahm aus der Lade Feder, Papier und Tinte.
»Schreiben Sie.«
Endlich antwortete der Gefangene:
»Wie soll ich schreiben, ich bin doch gebunden!«
»Das ist allerdings wahr, entschuldigen Sie.« Thénardier wandte sich zu Bigrenaille: »Binde den rechten Arm des Herrn los.«
Es geschah. Thénardier tauchte die Feder in die Tinte und reichte sie Leblanc.
»Beachten Sie wohl, mein Herr, daß Sie vollkommen in meiner Gewalt sind. Keine menschliche Macht kann Sie daraus befreien, und es wäre uns recht unlieb, wenn wir gezwungen wären, zum Äußersten zu greifen. Ich weiß weder Ihren Namen noch Ihre Adresse, aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie hier angebunden bleiben, bis der Überbringer des Briefes, den Sie jetzt schreiben werden, zurückkommt. Jetzt schreiben Sie.«
Leblanc nahm die Feder.
»Meine Tochter …«
Der Gefangene blickte auf.
»Schreiben Sie: Meine liebe Tochter«, befahl Thénardier.
Leblanc gehorchte. Dann fuhr Thénardier fort:
»Komme sofort …«
Er unterbrach sich.
»Sie duzen sie doch?«
»Wen?«
»Na, die Kleine.«
Leblanc antwortete scheinbar ohne die leiseste Erregung:
»Ich weiß nicht, von wem sie sprechen.«
»Gut, schreiben Sie weiter: Komm sofort. Ich brauche Dich dringend. Die Überbringerin dieses Briefes ist beauftragt, Dich zu mir zu führen. Folge ihr ohne Mißtrauen.«
Leblanc hatte alles geschrieben.
»Halt«, rief Thénardier, »streichen Sie das mit dem Mißtrauen; die Kleine wird nur auf Ideen kommen.«
Leblanc strich die vier Worte.
»So, und jetzt unterschreiben Sie. Wie heißen Sie übrigens?«
Der Gefangene legte die Feder weg und fragte:
»An wen ist dieser Brief gerichtet?«
»Das wissen Sie doch, an die Kleine. Ich habe es Ihnen schon gesagt.«
Offensichtlich wollte Thénardier den Namen des Mädchens nicht nennen. Er war geschickt und wollte sein Geheimnis selbst vor seinen Komplizen wahren. Wenn er ihren Namen nannte, gab er das ganze »Geschäft« aus der Hand, und sie erfuhren mehr, als nötig war.
»Unterschreiben Sie. Wie heißen Sie?«
»Urbain Fabre.«
Thénardier griff in die Tasche und zog ein Tuch hervor. Er sah das Monogramm an.
»U. F., soso. Urbain Fabre. Unterschreiben Sie U. F.«
Der Gefangene folgte.
»Ich werde den Brief für Sie falten, denn Sie können es ja mit einer Hand nicht tun. So, und jetzt schreiben Sie die Adresse. Fräulein Fabre. Ich weiß, daß Sie nicht allzu weit von hier wohnen, irgendwo bei Saint-Jacques du Haut-Pas. Die Straße allerdings weiß ich nicht. Ich sehe übrigens, daß Sie Ihre Lage begriffen haben. Da Sie Ihren Namen richtig angaben, werden Sie auch die Adresse nicht fälschen.«
Der Gefangene zögerte einen Augenblick, dann nahm er die Feder und schrieb:
»Mademoiselle Fabre, bei Herrn Urbain Fabre, Rue St.-Dominique d’Enfer 17.«
Fieberhaft griff Thénardier nach dem Brief.
»Frau!« rief er.
Die Thénardier eilte herbei.
»Du weißt, was du zu tun hast. Komm bald zurück.«
Dann rief er den Mann mit dem Stock:
»Du begleitest die Bürgerin. Weißt du, wo der Wagen wartet?«
»Ja.«
Er stellte seinen Stock in den Winkel und folgte der Thénardier.
Eine Minute verging, dann hörte man Peitschenknallen.
»Na«, murmelte Thénardier, »die machen es ja nicht langsam. In drei viertel Stunden sind sie zurück.«
Er rückte seinen Stuhl an den Kamin, kreuzte die Arme und hielt die Füße an das Feuer.
»Eine Hundekälte«, murrte er.
Jetzt waren außer Thénardier und dem Gefangenen nur noch fünf Banditen in der Stube. Die Leute sahen unter ihren Masken wie Köhler, Neger oder Teufel aus und schienen ganz stumpf zu sein. Man fühlte, daß sie ein Verbrechen wie ihr Handwerk ausübten, ruhig, ohne Zorn und ohne Erbarmen, fast gelangweilt. Sie hockten in einem Winkel und schwiegen. Thénardier wärmte sich die Füße. Der Gefangene war wieder in sein tiefes Schweigen versunken. Man hörte nur den ruhigen Atem des Betrunkenen, der wieder schlief.
Marius lauschte mit steigender Angst. Das Rätsel war für ihn undurchdringlicher als je. Wer war die »Kleine«, die er seine Ursule genannt hatte? Der Gefangene hatte ganz arglos gesagt: Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen. Andererseits bedeuteten die beiden Buchstaben U. F. Urbain Fabre, Ursule war also nicht mehr Ursule. Das war das einzige, was Marius begriff. Wie hypnotisiert blieb er an seinem Platz. Noch immer hoffte er auf irgendeinen Zwischenfall, der ihn der Verpflichtung überhob, sich zu etwas zu entscheiden.
Auf jeden Fall werde ich ja sehen, dachte er, ob sie gemeint war, denn die Thénardier wird sie hierherbringen. Dann ist alles entschieden, ich gebe dann gern mein Leben, wenn ich sie befreien kann. Nichts wird mich aufhalten.
Eine halbe Stunde verstrich. Thénardier war noch immer in Gedanken versunken. Der Gefangene rührte sich nicht. Doch glaubte Marius zuweilen und in Abständen ein ganz leises Geräusch von ihm her zu hören.
Plötzlich wandte Thénardier sich wieder an ihn:
»Hören Sie, Herr Fabre, wie die ganze Sache vor sich gehen soll. Meine Frau wird gleich kommen. Werden Sie nur nicht ungeduldig. Ich denke, daß die Lerche wirklich Ihre Tochter ist, und finde es ganz begreiflich, daß Sie auf sie aufpassen. Niemand wird ihr etwas zuleide tun. Sie soll nur an einen ruhigen Ort gebracht werden, wo sie warten wird, bis Sie die zweihunderttausend bezahlt haben. Wenn Sie mich verhaften lassen, wird mein Kamerad der Kleinen den Hals umdrehen. So steht die Sache.«
Der Gefangene äußerte nichts.
»Das ist doch gar nicht kompliziert, nicht wahr? Dem Mädel geschieht nichts Böses, wenn Sie selbst nicht wollen. Sobald ich weiß, daß die Kleine unterwegs ist, lassen wir Sie frei, und Sie können nach Hause schlafen gehen. Sie sehen, wir haben nichts Böses mit Ihnen vor.«
Furchtbare Bilder beängstigten Marius. Also die Leute wollten das Mädchen entführen? Eine dieser Bestien sollte zum Wächter dieses Mädchens werden?
Was sollte er tun? Jetzt schießen? Alle diese Schurken der Justiz übergeben? Dieser furchtbare Kerl mit dem Stock war ja bereits fort, hatte sich des jungen Mädchens schon bemächtigt. Thénardier hatte es ja selbst gesagt: wenn Sie mich verhaften lassen, dreht mein Kamerad der Kleinen den Hals um.
Jetzt hörte man die Haustür gehen.
»Sie kommt zurück«, sagte Thénardier.
Schon stürzte die Frau atemlos und keuchend herein.
»Falsche Adresse!« schrie sie.
Der Bandit, der sie begleitet hatte, trat in den Winkel und holte seinen Stock.
»Eine falsche Adresse?« fragte Thénardier.
»Rue Saint-Dominique Nr. 17 wohnt kein Urbain Fabre. Thénardier, dieser Alte hat dich an der Nase herumgeführt! Du bist, weiß Gott, viel zu gutmütig. Hättest du ihm wenigstens gleich auf Vorschuß das Maul krumm geschlagen! Ich, wenn es auf mich ankäme, ich hätte ihn lebendig geröstet. Ich würde ihn schon zum Reden bringen: wo das Mädchen ist und wo das Geld. So hätte ich es gemacht! Aber die Männer sind ja immer blöder als die Frauen.«
Marius atmete auf. Ursule – er wußte ja nicht, wie er sie sonst nennen sollte – war gerettet.
Thénardier betrachtete nachdenklich das Kohlenbecken. Dann wandte er sich langsam und doch grimmig an den Gefangenen.
»Eine falsche Adresse? Was versprichst du dir davon?«
»Zeit zu gewinnen«, antwortete der Gefangene.
Und im selben Augenblick schüttelte er die Stricke ab. Er war jetzt nur mehr mit einem Bein an das Bett gebunden.
Bevor die sieben Männer Zeit gefunden hatten, sich auf ihn zu werfen, hatte er die Hand nach dem Kamin ausgestreckt, und jetzt sahen Thénardier und die Banditen, die erschrocken zurücksprangen, wie er den weißglühenden Meißel drohend schwang.
Bei der gerichtlichen Untersuchung, die später im Gorbeauschen Hause stattfand, wurde ein Soustück gefunden, das mit dem Fleiß, den nur Bagnosträflinge aufbringen, der Länge nach gespalten worden war. Diese schrecklichen und doch erstaunlichen Werke der Kunstfertigkeit stellen im Bereich des Kunstgewerbes ungefähr dasselbe dar wie die oft so farbenprächtigen Bilder der Verbrechersprache in der Poesie. Es gibt im Bagno Leute von der Art eines Benvenuto Cellini, so wie es in der Kunstsprache einen Villon gibt. Unselige, die zu entspringen suchen, finden, zuweilen ohne die geringste Hilfe und ohne alles Werkzeug, Mittel und Wege, einen Sou in zwei dünne Scheiben zu zerschneiden. Ein altes Messer muß ihnen genügen, um dieses Wunderwerk zu vollbringen. Dann wird in die Spalte eine Uhrfeder gesteckt und am Rande der Münze eine kleine Schraube angebracht, so daß sie wieder zusammengelegt werden können. Jetzt dient sie als Medaillon.
Offenbar hatte der Gefangene die Uhrfeder, die als Säge diente, aus der Münze genommen, die er vielleicht während seiner Fesselung in der Hand hielt, und so seine Stricke zersägt. Das ist wohl die Erklärung für das leise Geräusch, das Marius beobachtet hatte.
Inzwischen hatten die Banditen sich wieder gefaßt.
»Sei unbesorgt«, sagte Bigrenaille zu Thénardier, »mit dem einen Bein hängt er noch, und für den Strick bürge ich. Den habe ich verknotet.«
Jetzt erhob der Gefangene die Stimme:
»Ihr seid Elende, aber mein Leben ist nicht wert, daß ich es mit solcher Mühe verteidige. Wenn ihr euch aber einbildet, ihr werdet mich zum Sprechen bringen oder mich zwingen, etwas zu schreiben, was ich nicht schreiben will …«, er schob den linken Ärmel zurück: »seht her!«
Er legte den glühenden Meißel, den er in der Rechten hielt, auf das Fleisch. Man hörte ein Aufzischen, und dieser widerwärtige Geruch, der den Torturkammern eigentümlich ist, verbreitete sich in der Stube. Marius fuhr entsetzt zurück, und sogar die Banditen schauderten. Der seltsame Greis aber zuckte kaum mit den Wimpern, während das rote Eisen in die blutende Wunde eindrang, sondern richtete seinen strengen Blick ohne Haß auf Thénardier.
»Ihr Elenden«, rief er jetzt, »fürchtet euch nicht mehr vor mir, als ich euch fürchte.«
Dann riß er den Meißel aus der Wunde und schleuderte ihn zum Fenster hinaus.
»Und jetzt tut mit mir, was ihr wollt.«
Er war entwaffnet.
»Vorwärts!« schrie Thénardier.
Zwei der Banditen legten ihm die Hand auf die Schultern, und ein Maskierter, der mit einer Art Bauchstimme sprach, stellte sich mit dem schweren Schlüssel hinter ihn, um ihm im Notfall den Schädel einzuschlagen.
Im nächsten Augenblick hörte Marius folgende Worte rasch und leise gesprochen:
»Jetzt bleibt uns nichts mehr übrig.«
»Schluß mit ihm!«
»Richtig.«
Thénardier und seine Frau hatten beratschlagt.
Er näherte sich langsam dem Tisch, zog die Lade heraus und entnahm ihr das Küchenmesser.
Bis jetzt hatte Marius gehofft, vergeblich gehofft, er werde ein Mittel finden, den einen zu retten, ohne den andern zu verderben. Nun war kein Aufschub mehr möglich. Thénardier stand mit dem Messer vor dem Gefangenen und lauerte.
Der entsetzte Blick Marius’ irrte mechanisch durch sein Zimmer. Plötzlich zitterte er. Ein heller Strahl Mondlicht fiel auf ein Blatt Papier, das zu seinen Füßen lag. Auf dieses Blatt hatte heute morgen die ältere Tochter Thénardier geschrieben:
»Die Polente ist da!«
Blitzhaft fuhr ein Gedanke durch Marius’ Gehirn. Das war vielleicht die Lösung, die er suchte. Er bückte sich, streckte den Arm aus, hob das Papier auf, knüllte es zusammen und warf es durch sein Guckloch mitten in den Raum.
Es war die höchste Zeit. Thénardier hatte offenbar seine letzten Bedenken überwunden und trat eben auf den Gefangenen zu.
»Da fällt etwas herein!« schrie die Thénardier.
»Was?«
Die Frau hatte das zusammengeknüllte Papier aufgehoben, sie reichte es ihrem Manne.
»Wo ist das hergekommen?« fragte Thénardier.
»Woher soll das kommen?«
»Durchs Fenster doch.«
»Ich habe es fliegen gesehn«, sagte Bigrenaille.
Thénardier faltete das Blatt auseinander und näherte es der Kerze.
»Eponines Schrift. Verdammt!«
Er winkte seiner Frau, zeigte ihr das Blatt und sagte dann leise:
»Rasch, die Strickleiter! Wir lassen sie in den Hof und hauen ab.«
»Ohne den Kerl da abzukillen?«
»Keine Zeit!«
»Wo hinaus?«
»Durchs Fenster. Da Ponine das Papier durchs Fenster hereingeworfen hat, muß dieser Ausweg noch frei sein.«
Schon hatten die Banditen den Gefangenen losgelassen. Im nächsten Augenblick war die Strickleiter aufgerollt und wurde am Fensterkreuz befestigt.
Der Gefangene achtete der Dinge kaum, die rings um ihn geschahen. Er schien zu träumen oder zu beten.
»Komm, Bürgerin!« rief Thénardier.
Sie eilte zum Fenster.
Im selben Augenblick aber riß Bigrenaille sie zurück.
»Holla, ihr Schwindler, nach uns!«
»Erst wir!« riefen auch die andern.
»Ihr Kindsköpfe«, rief Thénardier, »wir wollen doch keine Zeit verlieren.«
»Sollen wir etwa losen, wer als erster hinaussteigt?«
»Ihr seid ja verrückt!« schrie Thénardier, »vollkommen auf den Kopf gefallen! Wollt ihr vielleicht die Namen auf Zettel schreiben und die Zettel in einer Mütze sammeln?«
»Darf ich Ihnen meinen Hut anbieten?« fragte eine Stimme von der Tür her.
Alle wandten sich um.
Es war Javert, der ihnen lächelnd seinen Hut hinhielt.
Man soll immer zuerst die Opfer verhaften
Zuerst hatte Javert sich bestrebt, die Töchter Thénardiers in die Hand zu bekommen. Aber er hatte nur Azelma erwischt. Eponine hatte ihren Posten verlassen und war entkommen. Dann hatte Javert auf den verabredeten Schuß gewartet. Er sah den Wagen abfahren und wiederkommen und begriff, daß alles im Gange war. Schließlich war er ungeduldig geworden, überzeugt, daß er hier einen guten Fang tun werde, und hatte sich entschlossen, nicht länger auf den Schuß zu warten.
Der Leser erinnert sich, daß er Marius’ Hausschlüssel hatte.
So war er gerade rechtzeitig gekommen.
Die Banditen stürzten zu den Waffen. In der nächsten Sekunde standen sie, mit allerlei Werkzeugen bewaffnet, abwehrbereit da. Die Thénardier ergriff einen Pflasterstein, der sonst einer ihrer Töchter als Schemel diente.
Javert setzte seinen Hut auf, kreuzte die Arme und sagte ruhig:
»Halt! Ihr geht nicht durch das Fenster, sondern durch die Tür. Das ist viel bequemer. Ihr seid sieben, wir sind fünfzehn. Also wollen wir uns nicht herumprügeln wie dumme Bauern. Sind wir vernünftig?«
Bigrenaille holte unter seiner blauen Bluse eine Pistole hervor und schob sie Thénardier zu.
»Das ist Javert. Auf den kann ich nicht schießen. Getraust du dich’s?«
»Den Teufel auch!«
»Gut, schieß!«
Thénardier zielte auf Javert.
Der sah ihn ruhig an und sagte:
»Bemüh dich nicht, dein Schuß geht nicht los.«
Thénardier drückte ab – der Schuß versagte.
»Hab’ ich dir’s nicht gesagt?« fragte Javert.
Bigrenaille warf seinen Prügel Javert zu Füßen.
»Du bist ja der Erzteufel! Ich ergebe mich.«
»Und ihr?« fragte Javert die andern.
»Wir auch.«
»Gut, ich sagte ja, ihr sollt vernünftig sein.«
»Ich bitte nur um einen Vorzug«, sagte Bigrenaille, »Raucherlaubnis im Gefängnis.«
»Bewilligt«, entschied Javert. Dann wandte er sich um:
»Vorwärts, ihr!«
Ein Schwarm Polizisten drang in die Stube ein.
»Handschellen für alle!« rief Javert.
»Kommt doch her!« schrie eine Stimme, die nicht einem Mann gehörte, aber von der niemand hätte behaupten können, daß es eine Frauenstimme war.
Die Thénardier hatte sich in den Fensterwinkel zurückgezogen. Die Polizisten fuhren zurück. Sie hatte ihren Schal abgeworfen; den Hut hatte sie noch auf dem Kopf. Sie hielt den Pflasterstein mit beiden Händen erhoben und sah aus wie eine Riesin, die einen Felsblock schleudern will.
»Zurück!« brüllte sie.
Dann warf sie den Banditen, die sich hatten fesseln lassen, einen verächtlichen Blick zu und murmelte heiser:
»Feiglinge!«
Javert lächelte und trat vor.
»Komm mir nicht näher«, schrie sie, »oder ich schlage dir den Schädel ein!«
»Welch ein Grenadier!« lachte Javert. »Mamachen, du hast einen Bart wie ein Mann, aber ich habe Krallen wie ein Weib.«
Und er trat näher. Die Thénardier spreizte die Beine, bog den Körper zurück und schleuderte den Pflasterstein mit voller Kraft nach Javert. Der Inspektor bückte sich. Der Stein schlug über ihn hinweg gegen die Wand und prallte zurück. Schon hatte Javert die beiden gefaßt. Seine Rechte lag auf der Schulter der Frau, die Linke auf dem Kopf des Mannes.
»Handfesseln!«
Einige Sekunden später war sein Befehl vollstreckt. Die Thénardier starrte wie vernichtet auf ihre und ihres Mannes gefesselte Hände, warf sich zu Boden und jammerte:
»Meine Töchter!«
»Für die habe ich schon gesorgt«, beruhigte sie Javert.
Inzwischen hatten die Polizisten den Besoffenen wach bekommen. Er erhob sich schwerfällig.
»Ist alles vorbei, Jondrette?«
»Ja«, antwortete Javert.
Dann wandte er sich zu den Banditen; drei hatten geschwärzte Gesichter, drei waren maskiert.
»Behaltet eure Masken auf«, befahl er.
Dann schritt er die Reihe ab, wie Friedrich II. auf einer Potsdamer Parade seine Grenadiere.
»Tag, Bigrenaille«, sagte er. »Tag, Brujon. Tag, Deux-Milliards, Tag auch, Gueulemer, Babet und Claquesous!«
Jetzt bemerkte er den Gefangenen der Banditen, der seit dem Erscheinen der Polizisten kein Wort gesprochen und gebückten Hauptes dagestanden hatte.
»Bindet den Herrn los«, befahl Javert, »niemand darf hinaus.«
Dann setzte er sich an den Tisch, auf dem Kerze und Schreibzeug noch bereitstanden, zog ein Stempelpapier aus der Tasche und begann sein Protokoll niederzuschreiben.
Nachdem er einige Zeilen zu Papier gebracht hatte, offenbar die einleitenden Formen, blickte er auf.
»Der Herr, der gebunden war, mag näher treten.«
Die Agenten blickten um sich.
»Na, vorwärts, wo ist er denn?«
Herr Leblanc oder Urbain Fabre war verschwunden.
Man hatte die Türe bewacht, aber nicht das Fenster. Sobald der Gefangene sich von seinen Fesseln befreit gesehen hatte, war er, während Javert schrieb, verschwunden.
Ein Agent lief zum Fenster und sah hinaus. Nichts war zu sehen. Die Strickleiter schwankte noch.
»Verflucht!« schimpfte Javert, »und der war sicher der Interessanteste!«
Ein Kleiner, der seinen Vater sucht
Am nächsten Morgen spazierte ein kleiner Junge, der von der Austerlitzer Brücke zu kommen schien, den Boulevard de l’Hôpital hinunter. Er war blaß und mager, und seine Beine steckten trotz der Februarkälte in einer dünnen Leinenhose.
An der Ecke der Rue du Petit-Banquier wühlte eine gebückte Alte in einem Abfallhaufen. Im Vorübergehen rief ihr der Junge zu:
»Holla, ich dachte, du wärst ein großer, großer Hund!«
Er sprach das »großer« aus, daß man meinte, die Majuskeln zu hören.
Wütend drehte sich die Alte um.
»Verfluchter Lausbub!« schimpfte sie, »wenn du in Reichweite wärst –«
»Kß! kß! vielleicht hab ich mich nicht getäuscht!«
Wütend wandte sich die Alte wieder ab. Der Junge sah sie von der Ferne an.
»Madame ist nicht mein Typ«, meinte er.
Er spazierte weiter bis Nr. 50 bis 52, und als er die Tür verschlossen fand, wartete er. Und da auch das Warten vergeblich war, begann er, die Türe mit seinen Füßen zu stoßen.
Die Alte von der Ecke der Rue du Petit-Banquier kam schnaufend näher. »Was gibt’s denn nur? Großer Gott, sie stoßen die Türe ein!« Plötzlich blieb sie stehen. Sie hatte den Straßenjungen erkannt. »Ach, du bist es, kleiner Satan?«
»Uff!« murmelte der Junge, »guten Tag, Burgonchen. Ich will meine Alten besuchen.«
Die Greisin antwortete mit einer Miene, die leider im Halbdunkel verlorenging.
»Keiner hier, Fratz!«
»So? Wo ist denn mein Vater?«
»Im Kittchen.«
»Und Mama?«
»Im Loch.«
»Und meine Schwestern?«
»Hinter Schloß und Riegel.«
Der Junge kratzte sich hinter dem Ohr, betrachtete Frau Burgon aufmerksam und sagte endlich:
»Ach?!«
Dann drehte er sich auf den Fersen um.