39569.fb2 Schiffbruch mit Tiger - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 94

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Kapitel 90

»Fehlt dir etwas, Richard Parker?«, fragte ich und fuhr mit der Hand vor seinem Gesicht auf und ab. »Bist du blind geworden?«

Seit ein oder zwei Tagen hatte er sich die Augen gerieben und unglücklich miaut, aber ich hatte mir nichts dabei gedacht. Schmerz und Leid waren ja für uns die einzige Ration, die immer reichlich vorhanden war. Ich fing eine Dorade. Seit drei Tagen hatten wir nichts mehr gegessen. Am Tag zuvor war eine Schildkröte vorbeigekommen, aber ich hatte nicht die Kraft gehabt, sie an Bord zu ziehen. Ich teilte den Fisch in zwei Hälften. Richard Parker blickte in meine Richtung. Ich warf ihm seinen Anteil zu. Ich hatte erwartet, dass er ihn elegant auffing. Er flog ihm mitten ins Gesicht. Er suchte den Boden ab. Er schnüffelte links und rechts, schließlich fand er ihn und machte sich langsam darüber her. Wir waren beide bedächtige Esser geworden.

Ich untersuchte seine Augen. Sie sahen nicht anders aus als am Tag zuvor. Vielleicht waren sie ein wenig stärker verklebt in den Ecken, aber es war nichts Dramatisches, jedenfalls gewiss nicht so dramatisch wie seine Erscheinung insgesamt. Wir waren beide nur noch Haut und Knochen.

Aber die bloße Tatsache, dass ich ihm ins Gesicht blickte, war ja schon die Antwort auf meine Frage. Ich starrte ihm in die Augen wie ein Augenarzt, und er blickte nur ausdruckslos zurück. Eine Wildkatze konnte nur blind sein, wenn sie sich ein solches Starren gefallen ließ.

Richard Parkers Schicksal bekümmerte mich. Unser Ende war nah.

Am nächsten Tag spürte ich ein Jucken in meinen eigenen Augen. Ich rieb und rieb, aber das Jucken ging nicht weg. Im Gegenteil, es wurde immer schlimmer, und anders als bei Richard Parker trat bei mir eine eitrige Flüssigkeit aus. Dann kam, so sehr ich die Augen auch zusammenkniff, die Dunkelheit. Zunächst war es nur ein schwarzer Punkt, direkt vor mir, immer genau in der Mitte. Daraus wurde ein Fleck, der wuchs, bis er mein ganzes Gesichtsfeld ausgefüllt hatte. Am nächsten Morgen sah ich von der Sonne nur noch einen schmalen Lichtstreif oben im linken Auge, wie ein winziges Fenster viel zu weit oben im Raum. Am Mittag war alles pechschwarz.

Ich klammerte mich ans Leben. Eine kraftlose Panik. Die Hitze war entsetzlich. Ich war so schwach geworden, dass ich nicht mehr auf den Beinen stehen konnte. Meine Lippen waren hart und schrundig. Der Mund war ausgetrocknet wie Pappe, überzogen mit einem zähflüssigen Speichel, der ebenso widerwärtig schmeckte wie er roch. Ich hatte Sonnenbrand am ganzen Körper. Jeder geschrumpfte Muskel tat mir weh. Meine Glieder, besonders die Füße, waren geschwollen und schmerzten ständig. Ich war hungrig, und wieder hatte ich nichts gefangen. Richard Parker brauchte so viel Wasser, dass ich meinen Anteil auf fünf Löffelvoll pro Tag beschränkte. Aber diese körperlichen Qualen waren nichts im Vergleich zu den seelischen, die jetzt erst begannen. Der Tag, an dem ich das Augenlicht verlor, war der erste Tag meiner neuen Leiden. An welchem Punkt unserer Seefahrt es geschah, könnte ich nicht sagen. Zeit spielte, wie gesagt, bald keine Rolle mehr. Irgendwann zwischen dem hundertsten und dem zweihundertsten Tag muss es gewesen sein. Und ich war sicher, dass jener Tag mein letzter sein würde.

Am nächsten Morgen hatte ich alle Furcht vor dem Tod überwunden, und ich beschloss zu sterben.

Ich kam zu dem traurigen Schluss, dass ich nicht mehr in der Lage war, für Richard Parker zu sorgen. Als Zoowärter hatte ich versagt. Dass er sterben sollte, machte mir mehr aus als mein eigener nahender Tod. Aber ich musste es einsehen, dass ich, mutlos und krank wie ich war, nichts mehr für ihn tun konnte.

Meine Kräfte nahmen rapide ab. Ich spürte, wie die Schwäche des Todes in mich hineinkroch. Den Nachmittag würde ich nicht überleben. Ich beschloss, dass ich mir den Abschied ein wenig leichter machen und wenigstens den quälenden Durst lindern würde, mit dem ich so lange gelebt hatte. Ich goss so viel Wasser in mich hinein, wie ich schlucken konnte. Hätte ich doch nur einen allerletzten Bissen zu essen gehabt. Aber das sollte wohl nicht sein. Ich lehnte mich an das zusammengerollte Ende der Plane. Ich schloss die Lider und wartete auf meinen letzten Seufzer. »Leb wohl, Richard Parker«, murmelte ich. »Verzeih mir, dass ich dich verlasse. Ich habe getan, was ich konnte. Behüt dich Gott. Vater, Mutter, Ravi, seid mir gegrüßt. Euer liebender Sohn und Bruder kehrt zu euch heim. Keine Stunde ist vergangen, in der ich nicht an euch gedacht hätte. Der Augenblick, in dem ich euch wiedersehe, wird der glücklichste meines Lebens sein. Und nun lege ich alles in die Hände Gottes, der Liebe ist und den ich liebe.«

Ich hörte eine Stimme sagen: »Ist da jemand?«

Es ist erstaunlich, was man alles hört, allein in der Finsternis eines sterbenden Verstands. Ein Geräusch ohne Form oder Farbe hört sich merkwürdig an. Blinde hören anders als Sehende.

Die Stimme fragte noch einmal: »Ist da jemand?«

Ich kam zu dem Schluss, dass ich den Verstand verloren hatte. Traurig, aber es konnte nicht anders sein. Das Elend wünscht sich einen Gefährten, und der Wahnsinn ruft ihn herbei.

»Ist da jemand?«, fragte die Stimme zum dritten Mal, nun schon strenger.

Verblüffend, wie klar mein Verstand im Delirium war. Die Stimme hatte ein ganz eigenes Timbre, einen schweren, müden, schleppenden Klang. Ich ging auf sie ein.

»Natürlich ist da jemand. Jemand ist immer da. Woher sollte denn sonst die Frage kommen?«

»Ich hatte gehofft, dass da vielleicht noch jemand ist.«

»Was soll das heißen, noch jemand? Begreifst du eigentlich, wo du hier bist? Wenn dir diese Frucht deiner Phantasie nicht schmeckt, dann pflück dir eben eine andere. Die sind hier so reichlich wie dein Entbehren.«

Hmmm. Entbehren? Erdbeeren. Das wäre jetzt genau das Richtige.

»Da ist also niemand?«

»Pssst ... ich träume von Erdbeeren.«

»Erdbeeren! Hast du etwa welche? Bitte, kann ich eine haben? Ich flehe dich an. Oder ein Stückchen. Ich bin fast verhungert.«

»Und ob ich welche habe. Es könnte ein Erdbeben geben von so viel Erdbeeren.«

»Ein Erdbeben von Erdbeeren! Bitte, kann ich welche haben? Mein Entbehren ...«

Die Stimme, oder was es sonst als Täuschung von Wind und Wellen sein mochte, verklang.

»Dicke, runde, saftige, duftende Erdbeeren«, fuhr ich fort. »Ich habe sie direkt hier vor meinem Mund, so schwer hängen sie an ihren Stängeln. Die ganze Pflanze liegt am Boden, so schwer lasten sie auf ihr. Da sind bestimmt dreihundert Erdbeeren in meinem Beet.«

Schweigen.

Die Stimme kehrte zurück. »Lass uns über Essen reden ...«

»Das ist eine gute Idee.«

»Was würdest du gern essen, wenn du haben könntest, was du willst?«

»Ausgezeichnete Frage. Ich würde mir ein riesiges Büfett aufbauen. Anfangen würde ich mit Reis und Sambar. Es gäbe Reis mit Kichererbsen und Pulau-Reis und -«

»Ich hätte gern -«

»Ich bin noch nicht fertig. Zu meinem Reis gäbe es einen würzigen Tamarindensambar und einen Frühlingszwiebelsambar und -«

»Noch mehr?«

»Wart's nur ab. Ich würde noch Sagu mit gemischten Gemüsen nehmen und Gemüsekorma und Kartoffelmasala und Weißkohlvadai und Masala Dosai und scharfen Linsenrasam und -«

»Ah ja.«

»Warte. Und Porial mit gefüllten Auberginen und Kokosnuss-Jamswurzel-Kootu und Idlireis und Dani Vadai und Gemüsebhaji und -«

»Das hört sich —«

»Und Chutneys, habe ich das schon gesagt? Kokosnusschutney und Minzchutney und eingelegte Paprika und eingelegte Stachelbeeren, alles natürlich mit Nans, Papadams, Parathas und Puris serviert, wie es sich gehört.«

»Hört sich —«

»Die Salate! Mango- und Okrasalat und frischer Gurkensalat. Und als Nachtisch Mandelhalva und Bananenhalva und gezuckerte Pfannkuchen. Und Erdnusstoffee und Kokosnussburfi und Vanilleeis mit dicker, heißer Schokoladensoße.«

»Sonst noch etwas?«

»Abschließen würde ich den Imbiss mit einem Zehnliterglas frischen, sauberen, kühlen Wassers mit Eisstückchen drin und einer Tasse Kaffee.«

»Hört sich wunderbar an.«

»Allerdings.«

»Was ist ein Kokosnuss-Jamswurzel-Kootu?«

»Das ist das Paradies auf Erden. Man braucht Jamswurzeln dazu, Kokosraspeln, grüne Bananen, Chilipulver, zerstoßenen schwarzen Pfeffer, Kurkuma, Kreuzkümmel, Senfkörner und ein wenig Kokosnussöl. Man röstet die Kokosraspeln, bis sie goldbraun sind —«

»Darf ich etwas vorschlagen?«

»Was?«

»Wie wäre es statt Kokosnuss-Jamswurzel-Kootu mit gekochter Ochsenzunge in Senfsoße?«

»Hört sich nicht vegetarisch an.«

»Alles andere als das. Als zweiten Gang Kutteln.«

»Kutteln? Zuerst isst du die Zunge des armen Tiers und dann auch noch seine Innereien?«

»Und ob! Ich träume von tripes ä la mode de Caen - warm - mit Kalbsmilch.«

»Kalbsmilch? Schon besser. Was ist Kalbsmilch?«

»Kalbsmilch wird aus der Bauchspeicheldrüse des Kalbs gemacht.«

»Der Bauchspeicheldrüse!«

»Geschmort mit Champignonsoße - eine Delikatesse.«

Woher kamen diese ekelerregenden, gotteslästerlichen Vorschläge? War ich wirklich mittlerweile so verroht, dass ich davon träumte, mich an einer Kuh und ihrem Kalb zu vergreifen? Was waren das für entsetzliche Abwege, auf die ich da geraten war? War das Rettungsboot zurück in den Müllhaufen gedriftet?

»Und die nächste Beleidigung?«

»Kalbshirn mit brauner Butter.«

»Aha, noch mehr vom Kopf?«

»Hirnsoufflé!«

»Mir wird schlecht. Gibt es überhaupt etwas, was du nicht essen würdest?

»Ach, was gäbe ich für Ochsenschwanzsuppe. Für Spanferkel, gefüllt mit Reis, Würsten, Aprikosen und Rosinen. Für Kalbsnierchen in einer Soße aus Butter, Senf und Salbei. Für mariniertes Kaninchen, in Rotwein gedünstet. Für gebratene Hühnerleber. Für Leberpastete mit Kalbfleisch. Für Froschschenkel. Gebt mir Froschschenkel, gebt mir Froschschenkel!«

»Jetzt aber genug!«

Die Stimme schwand. Ich bebte am ganzen Leib vor Ekel. Ein irrsinniger Verstand, das mochte angehen, aber es war wirklich nicht fair, dass er einem auch noch auf den Magen schlug.

Mit einem Mal begriff ich, was vorging.

»Würdest du dein Rindfleisch auch roh essen?«, fragte ich.

»Aber natürlich! Ein blutiges Steak, was gibt es Besseres?«

»Würdest du das geronnene Blut eines toten Schweins essen?«

»Jederzeit, mit Apfelmus!«

»Würdest du alles von einem Tier essen, auch das letzte Fitzelchen?«

»Schweinskopfsülze! Davon hätte ich jetzt gern einen Riesenteller!«

»Und eine Karotte? Wie wäre es mit einer einfachen rohen Karotte?«

Keine Antwort.

»Hast du gehört? Würdest du auch eine Karotte essen?«

»Ich habe dich gehört. Um ehrlich zu sein, wenn ich die Wahl hätte, lieber nicht. So etwas ist nicht mein Fall. Ich finde sogar, es schmeckt grässlich.«

Ich lachte. Jetzt wusste ich es. Ich hörte keine Geisterstimmen. Ich war nicht verrückt geworden. Das war Richard Parker, der da mit mir sprach! Der alte Räuber. Die ganze Zeit hatten wir zusammengesessen, und erst jetzt, in unserer Todesstunde, machte er den Mund auf. Ich war begeistert, dass ich mich mit einem Tiger unterhalten konnte. Mit einem Mal war ich schrecklich neugierig, die Art von Neugier, mit der Verehrer den Filmstars das Leben schwer machen.

»Sag mal, hast du schon einmal einen Menschen umgebracht?«

Ich konnte es mir nicht vorstellen. Menschenfresser unter den Tieren sind genauso rar wie Mörder unter den Menschen, und Richard Parker war ja schon als Baby in den Zoo gekommen. Aber war es nicht denkbar, dass seine Mutter, bevor sie Durstig in die Falle ging, einen Menschen getötet hatte?

»Was ist denn das für eine Frage?«, protestierte Richard Parker.

»Liegt doch nahe.«

»Tatsächlich?«

»Ja.«

»Warum?«

»Es wird euch nachgesagt.«

»Uns?«

»Ja natürlich. Wusstest du das nicht?«

»Nein.«

»Dann lass es dir gesagt sein. Ihr geltet als Menschenfresser. Also, hast du schon einmal einen umgebracht?«

Schweigen.

»Antworte.«

»Ja.«

»Oh! Da läuft es mir kalt den Rücken herunter. Wie viele?«

»Zwei.«

»Du hast zwei Menschen getötet?«

»Einen Mann und eine Frau.«

»Zusammen?«

»Nein. Zuerst den Mann, dann die Frau.«

»Du Untier! Und wahrscheinlich hat es dir auch noch Spaß gemacht. Du fandest es lustig, wie sie schrien und strampelten.«

»Eigentlich nicht.«

»Und wie schmeckten sie?«

»Wie sie schmeckten?«

»Ja. Nun tu doch nicht so. Schmecken sie gut?«

»Nein, überhaupt nicht.«

»Dachte ich mir schon. Ich habe mir erzählen lassen, dass ihr sie nur mit Widerwillen fresst. Und warum hast du sie dann umgebracht?«

»Aus Not.«

»Die Not eines Untiers. Und tut es dir jetzt Leid?«

»Entweder sie oder ich.«

»Das nenne ich Not in all ihrer amoralischen Schlichtheit. Aber heute, tut es dir da Leid?«

»Es war ein Impuls. Die Umstände.«

»Instinkt nennt man das. Aber die Frage bleibt: Tut es dir heute Leid?«

»Ich denke nicht daran.«

»Du bist wirklich ein Tier, weißt du das?«

»Und du, was bist du?«

»Ich bin ein Mensch, darauf bestehe ich.«

»Was für ein Hochmut.«

»Die reine Wahrheit.«

»Und du bist also einer von denen, die den ersten Stein werfen.«

»Hast du mal Oothappam probiert?«

»Nein, aber erzähl mir davon. Oothappam, was ist das?«

»Oh, das schmeckt wunderbar.«

»Hört sich gut an. Erzähl mehr.«

»Oothappam wird aus übrig gebliebenem Teig gemacht, aber ich kann mir kein Resteessen vorstellen, das besser schmeckt.«

»Ich spüre es schon auf der Zunge.«

Ich schlief ein. Oder besser gesagt, ich verfiel in das Delirium des Todes.

Aber etwas beschäftigte mich. Ich wusste nicht was, aber ein quälender Gedanke störte mich beim Sterben.

Ich kam wieder zu mir. Jetzt wusste ich, was es war.

»Sag mal.«

»Ja?«, fragte Richard Parkers Stimme schwach.

»Wieso sprichst du mit diesem Akzent?«

»Tue ich überhaupt nicht. Du sprichst mit Akzent.«

»Stimmt nicht. Aber du, du kannst kein h sprechen. Du hast eben 'ochmut statt Hochmut gesagt.«

»Ich sage 'ochmut, wie es sich gehört. Du, du sprichst, als 'ättest du Murmeln verschluckt. Du 'ast einen indischen accent.«

»Und du sprichst, als wären die Wörter aus Holz und du wolltest sie zersägen. Du sprichst wie ein Franzose.«

Ich verstand überhaupt nichts mehr. Richard Parker stammte aus Bangladesh und war in Tamil Nadu aufgewachsen. Woher hätte er denn da einen französischen Akzent haben sollen? Zugegeben, Pondicherry war ja einmal eine französische Kolonie gewesen, aber das konnte mir nun wirklich keiner weismachen, dass unsere Zootiere bei der Alliance Française an der rue Dumas ein- und ausgegangen waren.

Verblüffend. Meine Sinne versanken wieder im Nebel.

Mit einem Mal war ich hellwach, erschrocken. Da war jemand dort draußen! Diese Stimme, die ich da hörte, das war kein Wind mit Akzent und auch kein Tier, das plötzlich sprach. Da war jemand! Mein Herz raste wie wild, versuchte ein letztes Mal, noch Blut durch den fast zerfallenen Körper zu pumpen. Noch einmal bäumte mein Verstand sich auf und versuchte zu begreifen.

»Wohl nur ein Echo, mehr nicht«, hauchte die Stimme, kaum noch zu hören.

»Warte«, rief ich, »hier bin ich!«

»Ein Echo, nichts als Flausen ...«

»Nein, ich bin hier draußen!«

»Nach wie vor bin ich allein.«

»Nein, wir sind zu zwein!«

»Was bleibt, ist immer nur der Tod.«

»Hier drüben bin ich, hier im Boot!«

Die Stimme verlor sich.

Ich stieß einen Schrei aus.

Er schrie zurück.

Es war zu viel. Ich verlor den Verstand.

Dann kam mir ein Gedanke.

»ICH HEISSE«, brüllte ich mit letzten Kräften hinaus aufs Meer, »PISCINE MOLITOR PATEL.« Das würde ihm klarmachen, dass ich kein Echo war. »Hörst du mich? Ich bin Piscine Molitor Patel, genannt Pi Patel!«

»Was? Ist da jemand?«

»Ja, hier draußen!«

»Was! Ist das denn die Möglichkeit! Bitte, hast du etwas zu essen? Ganz egal was. Ich habe überhaupt nichts mehr. Schon seit Tagen habe ich nichts mehr gegessen. Ich muss etwas essen. Alles, was du entbehren kannst, ganz egal was. Ich flehe dich an.«

»Aber ich habe auch nichts mehr«, antwortete ich verzweifelt. »Ich habe auch schon seit Tagen nichts mehr gegessen. Ich hatte gehofft, dass du vielleicht etwas hast. Hast du Wasser? Ich habe kaum noch etwas.«

»Nein, ich habe nichts mehr. Und du hast überhaupt nichts zu essen? Keinen Bissen?«

»Nichts.«

Es folgte Schweigen, ein bedrückendes Schweigen.

»Wo bist du?«, fragte ich.

»Hier drüben«, antwortete er schlaff.

»Wo drüben? Ich kann dich nicht sehen.«

»Wieso kannst du mich nicht sehen?«

»Ich bin blind geworden.«

»Was!«, rief er.

»Ich bin blind. Um mich ist nur noch Dunkel. Ich spüre meine Lider, aber ich sehe nichts. Seit zwei Tagen, wenn die Haut zum Zeitmessen taugt. Sie sagt mir ja nur, ob die Sonne scheint oder nicht.«

Ich hörte ein entsetzliches Heulen.

»Was ist?«, fragte ich. »Was hast du, mein Freund?«

Noch einmal stieß er sein Heulen aus.

»Antworte mir, bitte. Was ist? Ich bin blind, wir haben keine Nahrung und kein Wasser, aber wir haben einander. Das ist doch auch etwas. Ein Geschenk. Was fehlt dir, mein Bruder?«

»Auch ich bin blind!«

»Was?«

»Auch ich spüre, wie du sagst, meine Lider und sehe nichts.«

Wieder kam der Klagelaut. Ich war fassungslos. Ich hatte einen zweiten blinden Schiffbrüchigen in einem zweiten Rettungsboot gefunden, mitten auf dem Pazifik!

»Aber wieso bist du blind geworden?«, murmelte ich.

»Vermutlich aus dem gleichen Grund wie du. Zu wenig Hygiene, zu viele Entbehrungen.«

Das war für uns beide zu viel. Er heulte, ich schluchzte. Es war nicht mehr auszuhalten, wir waren endgültig am Ende.

»Lass mich eine Geschichte erzählen«, sagte ich nach einer Weile.

»Eine Geschichte?«

»Ja.«

»Was soll ich denn mit einer Geschichte? Ich will essen.«

»Es ist eine Geschichte über Essen.«

»Worte haben keinen Nährwert.«

»Suche deine Nahrung, wo du sie finden kannst.«

»Da hast du Recht.«

Schweigen. Ein hungriges Schweigen.

»Wo bist du?«, fragte er.

»Hier. Und du?«

»Hier.«

Ich hörte Platschen. Ein Ruder wurde ins Wasser gestochen. Ich griff selbst nach einem der Ruder, die ich von dem untergegangenen Floß gerettet hatte. Es war entsetzlich schwer. Ich tastete, bis ich eine Dolle fand. Ich legte das Ruder hinein. Ich zog an der Stange. Ich hatte keine Kraft mehr. Aber ich ruderte, so gut es ging.

»Lass deine Geschichte hören«, keuchte er.

»Es war einmal eine Banane, die hing an einem Baum. Sie wuchs und reifte, bis sie groß, fest, gelb und duftend war. Dann fiel sie zu Boden, jemand fand sie und aß sie.«

Er hielt im Rudern inne. »Was für eine schöne Geschichte!«

»Danke.«

»Ich habe Tränen in den Augen.«

»Sie geht noch weiter«, sagte ich.

»Und wie?«

»Die Banane fiel zu Boden, jemand fand sie und aß sie - und danach ging es ihm besser.«

»Atemberaubend!«, rief er.

»Danke.«

Eine Pause.

»Aber du hast keine Bananen, oder?«

»Nein. Der Orang-Utan hat mich abgelenkt.«

»Wer?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Hast du Zahnpasta?«

»Nein.«

»Fisch mit Zahnpasta, eine Delikatesse. Zigaretten?«

»Die habe ich gegessen.«

»Gegessen?«

»Die Filter sind noch da. Die kannst du haben, wenn du willst.«

»Die Filter? Was soll ich denn mit Zigarettenfiltern ohne Tabak? Wie kann man Zigaretten essen?«

»Was hätte ich sonst damit tun sollen? Ich rauche nicht.«

»Du hättest sie aufheben sollen, zum Tauschen.«

»Tauschen? Mit wem?«

»Mit mir!«

»Aber Bruder, als ich sie aß, war ich allein in einem Boot mitten auf dem Pazifik.«

»Und?«

»Da habe ich mir keine großen Chancen ausgerechnet, dass ich jemanden treffe, der etwas gegen meine Zigaretten tauschen will.«

»Du musst doch auch an die Zukunft denken, Dummkopf! Jetzt hast du nichts, womit du handeln kannst.«

»Aber selbst wenn ich etwas zum Tauschen hätte, was würde ich denn bekommen? Was hast du, was ich brauchen könnte?«

»Ich habe einen Stiefel«, antwortete er.

»Einen Stiefel?«

»Ja, einen schönen Lederstiefel.«

»Was soll ich denn mit einem Lederstiefel in einem Rettungsboot mitten auf dem Pazifik? Meinst du, ich gehe nach Feierabend wandern?«

»Du könntest ihn essen!«

»Einen Stiefel essen? Was für eine Idee.«

»Du isst Zigaretten - warum da nicht auch Stiefel?«

»Das ist ja ekelhaft. Wem gehört er überhaupt?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Du erwartest von mir, dass ich den Stiefel eines Wildfremden esse?«

»Wo ist denn da der Unterschied?«

»Ich kann es nicht fassen. Ein Stiefel. Ganz abgesehen davon, dass ich Hindu bin und uns Hindus die Kühe heilig sind, würde ich doch, wenn ich einen Stiefel äße, all den Schmutz essen, den der Fuß abgesondert hat, und dazu all den Schmutz, in den er getreten ist.«

»Also kein Stiefel.«

»Lass ihn mal ansehen.«

»Nein.«

»Was? Soll ich ihn etwa blind kaufen?«

»Wir sind beide blind, vergiss das nicht.«

»Dann beschreib mir den Stiefel. Was bist du denn für ein Kaufmann? Kein Wunder, dass du nach Kundschaft hungerst.«

»Genau das. Genau das.«

»Also, wie sieht er aus?«

»Es ist ein Lederstiefel.«

»Was für ein Lederstiefel?«

»Ein ganz normaler.«

»Und das heißt?«

»Mit Schnürsenkel und Ösen und Lasche. Innensohle. Ein ganz normaler Stiefel eben.«

»Welche Farbe?«

»Schwarz.«

»Zustand?«

»Getragen. Das Leder weich und biegsam, schmiegt sich in die Hand.«

»Und wie riecht er?«

»Er duftet warm nach Leder.«

»Ich muss sagen - ich muss sagen - es hört sich verlockend an.«

»Dann schlag ihn dir aus dem Kopf.«

»Wieso?«

Schweigen.

»Willst du nicht antworten, Bruder?«

»Es ist kein Stiefel mehr da.«

»Kein Stiefel?«

»Nein.«

»Das macht mich traurig.«

»Ich habe ihn gegessen.«

»Du hast den Stiefel gegessen?«

»Ja.«

»Hat er geschmeckt?«

»Nein. Haben die Zigaretten geschmeckt?«

»Nein. Mir ist schlecht davon geworden.«

»Mir von dem Stiefel auch.«

»Es war einmal eine Banane, die hing an einem Baum. Sie wuchs und reifte, bis sie groß, fest, gelb und duftend war. Dann fiel sie zu Boden, jemand fand sie und aß sie, und danach ging es ihm besser.«

»Verzeih mir. Ich möchte um Verzeihung bitten für alles, was ich gesagt und getan habe. Ich bin ein schlechter Mensch«, schluchzte er.

»Aber nein. Du bist der wertvollste, wunderbarste Mensch auf Erden. Komm, Bruder, lass uns zusammen sein. Lass uns einander ein Festmahl sein.«

»O ja!«

Der Pazifik ist nicht der rechte Ort für Ruderer, schon gar nicht, wenn sie blind und schwach sind, wenn sie in großen, störrischen Rettungsbooten sitzen und wenn der Wind nicht seinen Teil tut. Er war ganz nahe, dann war er wieder weit fort. Er war links von mir, dann wieder rechts. Er war vor mir, dann hinter mir. Aber schließlich kamen wir doch noch zusammen. Der Schlag, mit dem die Bootsrümpfe sich trafen, war Musik in meinen Ohren, mehr noch als das Platschen einer Schildkröte. Er warf mir ein Seil zu, und ich band sein Boot an meinem fest. Ich breitete die Arme, damit wir uns umarmen konnten. Tränen standen mir in den Augen, und ich lächelte ihn an. Er war direkt vor mir; ich spürte ihn, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte.

»Mein lieber Bruder«, flüsterte ich.

»Ich bin hier«, antwortete er.

Ich hörte ein leises Knurren.

»Bruder, eins habe ich vergessen.«

Er landete mit solcher Wucht auf mir, dass wir halb auf die Plane, halb auf die Mittelbank fielen. Er umfasste mit beiden Händen meinen Hals.

»Bruder«, keuchte ich und wand mich in seiner allzu heftigen Umarmung, »mein Herz ist dein, aber ich rate dringend, dass wir in einen anderen Teil meiner bescheidenen Behausung ziehen.«

»Und ob dein Herz mein ist!«, antwortete er. »Und deine Leber und dein Fleisch auch!«

Ich spürte, wie er sich von der Plane auf die Mittelbank gleiten ließ und von dort - ein tödlicher Fehler - einen Fuß auf den Bootsboden setzte.

»Nicht, mein Bruder, tu das nicht! Wir sind nicht -«

Ich wollte ihn zurückhalten. Aber es war zu spät. Bevor ich das Wort allein herausbrachte, war ich bereits wieder allein. Ich hörte nur ein leises Klicken der Krallen unten im Boot, nicht lauter als wenn eine Brille auf den Boden fällt, und schon im nächsten Moment stieß mein lieber Bruder direkt vor mir einen Schrei aus, wie ich noch nie einen Menschen habe schreien hören. Er ließ mich los.

Das war der hohe Preis, den ich für Richard Parker zahlen musste. Er rettete mir das Leben, aber er nahm ein anderes dafür. Er riss dem Mann die Muskeln vom Leib und brach ihm die Knochen. Blutgeruch stieg auf. Damals starb etwas in mir, das nie wieder zum Leben erwacht ist.