39571.fb2 Schmetterling und Taucherglocke - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 12

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Die Fotografie

Als ich meinen Vater das letzte Mal sah, habe ich ihn rasiert. Das war in derselben Woche wie mein Hirnschlag. Da es ihm nicht gutging, habe ich bei ihm in seiner kleinen Pariser Wohnung in der Nähe der Tuilerien

übernachtet, und morgens, nachdem ich ihm seinen Tee mit Milch gekocht hatte, habe ich mich daran gemacht, ihn von seinem Mehrere-Tage-Bart zu befreien. Diese Szene ist mir unauslöschlich in Erinnerung.

Tief in den Sessel aus rotem Filz eingesunken, in dem er für gewöhnlich die Zeitungen ausschlachtet, trotzt Papa tapfer dem blinkenden Rasiermesser, das sich an seine schlaffe Haut macht. Ich habe ihm ein breites Handtuch um den hageren Hals gelegt, habe eine dicke Wolke Schaum auf seinem Gesicht verteilt und versuche seine stellenweise von geplatzten

Äderchen durchzogene Haut nicht zu sehr zu reizen. Vor Müdigkeit liegen die Augen tief in ihren Höhlen, die Nase tritt stärker aus dem abgezehrten Gesicht hervor, aber der Mann hat nichts verloren von seiner imposanten Erscheinung mit der weißen Haarpracht, die seine große Gestalt von jeher krönt.

Ringsum im Zimmer haben sich so viele Schichten seiner Lebenserinnerungen angehäuft, bis eine jener Rumpelkammern alter Leute entstanden ist, deren Geheimnisse nur ihnen allein bekannt sind. Es ist ein Durcheinander von alten Zeitschriften, Schallplatten, die kein Mensch mehr hört, verschiedenartigsten Gegenständen und Fotos aus allen Epochen, die unter dem Rahmen eines großen Spiegels stecken. Da ist Papa im Matrosenanzug, wie er mit dem Reifen spielt, vor dem Ersten Weltkrieg, meine Tochter mit acht Jahren als Amazone und eine Aufnahme von mir, schwarzweiß, auf einem Minigolfplatz. Ich war elf Jahre alt, hatte Blumenkohlohren und sehe aus wie ein etwas dummer Streber, was um so haarsträubender ist, als ich damals schon ein professioneller Faulpelz war.

Ich beende mein Amt als Barbier damit, meinen Erzeuger mit seinem Lieblingstoilettenwasser zu besprengen. Dann verabschieden wir uns, ohne daß er, wie sonst oft, auf den Brief in seinem Schreibtisch zu sprechen kommt, in dem sein Letzter Wille steht. Seither haben wir uns nicht wiedergesehen. Ich verlasse meine Sommerfrische in Berck nicht, und mit zweiundneunzig Jahren erlauben ihm seine Beine nicht mehr, diemajestätischeTreppeseinesWohnhauses hinunterzusteigen. Wir haben beide das Locked-in-Syndrom, jeder auf seine Weise, ich in meinem Gehäuse, er in seinem dritten Stock. Jetzt werde ich jeden Morgen rasiert, und ich denke oft an ihn, wenn ein Pfleger mir mit einer acht Tage alten Klinge sorgfältig die Wangen schabt. Ich hoffe, ich habe einen aufmerksameren Figaro abgegeben.

Hin und wieder ruft er mich an, und ich kann seine warmherzige Stimme hören, die ein wenig in dem Hörer zittert, den eine hilfreiche Hand an mein Ohr drückt. Es ist bestimmt nicht einfach, mit einem Sohn zu sprechen, von dem man ganz genau weiß, daß er nicht antworten wird. Er hat mir auch das Foto vom Minigolfplatz geschickt. Zuerst habe ich nicht verstanden, warum. Es wäre ein Rätsel geblieben, wenn nicht jemand auf die Idee gekommen wäre, auf die Rückseite zu sehen. Mit einem Mal sind in meinem privaten Kino lange vergessene Bilder erschienen, Bilder eines Wochenendes im Frühling, an dem meine Eltern mit mir zum Durchlüften in einen windigen Marktflecken, in dem nicht viel los war, gefahren waren. Mit seiner regelmäßigen, gestochenen Handschrift hat Papa auf dem Foto nur vermerkt: Berck-sur-Mer, April 1963.