39571.fb2 Schmetterling und Taucherglocke - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 20

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Gemüse

Am 8. Juni werden es sechs Monate, daß mein neues Leben angefangen hat. Eure Briefe sammeln sich im Schrank, Eure Zeichnungen an der Wand, und da ich nicht jedem einzeln antworten kann, kam ich auf die Idee dieser Samisdats, um von meinen Tagen, meinen Fortschritten und Hoffnungen zu berichten. Zuerst wollte ich glauben, es sei nichts passiert. In dem halbbewußten Zustand, der dem Koma folgt, sah ich mich schon bald, bloß vielleicht auf Krücken, in den Pariser Trubel zurückkehren.« Das waren die ersten Worte des ersten Rundbriefs aus Berck, den ich im späten Frühjahr meinen Freunden und Bekannten zu schreiben beschloß. An etwa sechzig Empfänger gerichtet, erregte dieses Schreiben ein gewisses Aufsehen und korrigierte den durch Gerüchte angerichteten Schaden ein wenig. Die Stadt, dieses Ungeheuer mit hundert Mündern und tausend Ohren, das nichts weiß, aber alles sagt, hatte nämlich beschlossen, mit mir abzurechnen. Im Café de Flore, einem der Basislager des Pariser Snobismus, von dem die Gerüchte aufschwirren wie Brieftauben, hatten mir Nahestehende folgendes Gespräch zwischen unbekannten Klatschmäulern aufgeschnappt; es erinnerte an die Gefräßigkeit von Geiern, die eine aufgeschlitzte Gazelle entdeckt haben. »Weißt du, daß B. zu Gemüse geworden ist?« sagte der eine. »Natürlich, ich hab's gehört. Gemüse, ja, Gemüse.« Das Wort »Gemüse« mußte wohl dem Gaumen dieser Auguren schmeicheln, denn es wurde mehrmals, zwischen zwei Bissen überbackener Käseschnitte, wiederholt. Und der Ton insinuierte, daß nur ein Kulturbanause nicht wissen könne, daß ich nun eher zur Welt des Gemüses gehörte als zur menschlichen Gemeinschaft. Wir lebten in einer Friedenszeit. Die Überbringer falscher Nachrichten wurden nicht mehr erschossen. Wenn ich beweisen wollte, daß mein intellektuelles Potential •weiterhin dem einer Schwarzwurzel überlegen war, konnte ich nur auf mich selbst bauen.

So ist eine kollektive Korrespondenz entstanden, die ich Monat für Monat fortsetze und dank derer ich immer mit allen, die ich liebe, in Verbindung bin. Mein Stolz hat Früchte getragen. Von einigen Unerbittlichen abgesehen, die hartnäckig schweigen, haben alle begriffen, daß man mich in meiner Taucherglocke erreichen kann, auch wenn sie mich manchmal an die Ränder unerforschter Welten davonträgt.

Ich bekomme bemerkenswerte Briefe. Sie werden geöffnet, entfaltet und vor meinen Augen ausgebreitet - ein Ritual, das mit der Zeit entstanden ist und dem Eintreffen der Post etwas von einer stummen, heiligen Zeremonie verleiht. Ich lese jeden Brief gewissenhaft selbst. Manchen fehlt es nicht an Ernst. Sie sprechen vom Sinn des Lebens, von der Überlegenheit der Seele, vom Mysterium jeder einzelnen Existenz, und in einer seltsamen Umkehrung behandeln die, mit denen ich die oberflächlichsten Beziehungen hatte, diese Grundfragen am ausführlichsten. Ihre Unbekümmertheit verbarg Tiefen. War ich blind und taub, oder bedarf es unbedingt der Beleuchtung durch ein Unglück, um einen Menschen in seinem wahren Licht zu zeigen?

Andere Briefe schildern ganz schlicht die kleinen Dinge, die das Vergehen der Zeit anzeigen. Rosen, die in der Dämmerung gepflückt wurden, das Faulenzen an einem verregneten Sonntag, ein Kind, das vor dem Einschlafen weint. Direkt aus der Realität gegriffen, bewegen mich diese Lebenssplitter, dieses Aufwallen von Glück mehr als alles andere. Ob es drei Zeilen oder acht Seiten sind, ob sie aus dem fernen Morgenland oder aus Montmorency kommen - ich hebe all diese Briefe wie Schätze auf. Eines Tages möchte ich sie gern aneinanderkleben, um ein kilometerlanges Band daraus zu machen, das wie eine Fahne zum Ruhm der Freundschaft flattert.

Das wird die Geier fernhalten.