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Das Gebet

Letzten Endes war der Rollstuhlschock heilsam. Die Dinge wurden klarer. Ich entwarf keine tollkühnen Pläne mehr und konnte die Freunde aus ihrem Schweigen entlassen, die seit meinem Hirnschlag einen liebevollen Schutzwall um mich errichtet hatten. Da das Thema nicht mehr tabu war, haben wir

über das Locked-in-Syndrom zu sprechen begonnen. Zum einen ist es eine Seltenheit. Das ist kein Trost, aber die Chancen, in diese teuflische Falle zu geraten, sind so groß, wie den Super Jackpot im Lotto zu gewinnen. In Berck sind wir nur zwei, die die Symptome haben, und dabei ist mein L.I.S.[1] noch mit Vorsicht zu genießen. Mein Fehler ist, daß ich den Kopf hin und her bewegen kann, was im klinischen Bild eigentlich nicht vorgesehen ist. Da die meisten Fälle einem vegetativen Leben anheimgegeben sind, ist die Entwicklung des Krankheitsverlaufs wenig bekannt. Man weiß nur, daß das Nervensystem, wenn es Lust bekommt, sich wieder in Gang zu setzen, dies mit dem Tempo eines Haars tut, das von der Hirnbasis an wächst. Es besteht also die Gefahr, daß einige Jahre vergehen, bevor ich auch nur die Zehen bewegen kann.

Mögliche Besserungen kann man tatsächlich bei den Atemwegen erwarten. Langfristig kann man sich eine normalere Ernährung ohne Magensonde erhoffen, eine natürliche Atmung und vielleicht sogar, daß die Atemluft auch die Stimmbänder wieder in Schwingungen versetzt.

Vorerst wäre ich der glücklichste Mensch, wenn es mir gelänge, den übermäßigen Speichel herunterzuschlucken, der ständig in meinem Mund zusammenläuft. Der Tag ist noch nicht angebrochen, und schon übe ich mich darin, die Zunge hinten über den Gaumen gleiten zu lassen, um den Schluckreflex auszulösen. Außerdem habe ich meinem Kehlkopf die Säckchen mit Weihrauch geweiht, von reisenden gläubigen Freundinnen aus Japan mitgebrachte Exvotos, die an der Wand in meinem Zimmer hängen. Sie sind ein Stein im Monument der Danksagungen, das nahestehende Menschen im Laufe ihrer Reisen für mich erbaut haben. Unter allen Himmelsstrichen hat man für mich die verschiedensten Geister angerufen. Ich versuche etwas Ordnung in diese weitläufige Bewegung der Seelen zu bringen. Wenn ich erfahre, daß man für mich in einer bretonischen Kapelle einige Kerzen angezündet oder in einem nepalesischen Tempel ein Mantra psalmodiert hat, weise ich diesen spirituellen Veranstaltungen gleich einen bestimmten Zweck zu. So habe ich mein rechtes Auge einem Marabut in Kamerun anvertraut, der von einer Freundin beauftragt ist, die Götter Afrikas für mich gnädig und milde zu stimmen. Und wegen der Hörstörungen verlasse ich mich auf die guten Beziehungen, die eine Schwiegermutter mit frommem Herzen zu den Mönchen einer Bruderschaft in Bordeauxhat.Sieweihenmirregelmäßigihre Rosenkranzgebete, und manchmal schleiche ich mich in ihre Abtei, um die Gesänge gen Himmel steigen zu hören. Es hat noch zu keinem außergewöhnlichen Ergebnis geführt, aber als sieben Brüder desselben Ordens von fanatischen Islamisten ermordet wurden, hatte ich mehrere Tage Ohrenschmerzen.

Gleichwohl ist diese Protektion an höchsten Stellen nur ein Wall aus Ton, eine Mauer aus Sand, eine Maginotlinie neben den kleinen Gebeten, die meine Tochter Céleste jeden Abend an ihren lieben Gott richtet, ehe sie die Augen schließt. Da wir etwa zur gleichen Zeit einschlafen, schiffe ich mich mit dieser wunderbaren Wegzehrung, die alle bösen Begegnungen von mir fernhält, ins Königreich der Träume ein.

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  1. L.I.S.: Locked-in-Syndrom