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Nachdem Berck direkt nach Kriegsende die jungen Opfer der letzten Tuberkuloseepidemien aufgenommen hatte, gab es seine Berufung als Kinderkrankenhaus nach und nach auf. Heute werden hier eher die Leiden des Alters bekämpft, der unerbittliche Verfall von Körper und Geist, doch die Geriatrie ist nur ein Teil des Bildes, das man zeichnen muß, um eine genaue Vorstellung von den Patienten der Einrichtung zu bekommen. Auf der einen Seite gibt es etwa zwanzig Fälle von Dauerkoma, arme Teufel in einer endlosen Nacht, an den Pforten des Todes. Sie verlassen nie ihr Zimmer. Doch jeder weiß, daß sie da sind, und sie lasten seltsam auf der Gemeinschaft, wie ein schlechtes Gewissen. Auf der gegenüberliegenden Seite, neben der Kolonie der Alten ohne Angehörige, findet man einige Fettleibige mit verstörter Miene, deren beträchtlichen Körperumfang die Medizin zu reduzieren hofft. In der Mitte bildet ein beeindruckendes Bataillon Marschunfähiger das Gros der Truppe. Überlebende des Sports, der Straße und aller nur möglichen und vorstellbaren Haushaltsunfälle, sind sie in Berck nur so lange auf der Durchreise, bis ihre gebrochenen Glieder wiederhergestellt sind. Ich nenne sie »die Touristen«.
Um das Bild zu vervollständigen, muß man noch eine Ecke für uns finden, Federvieh mit gebrochenen Flügeln, Papageien ohne Stimme, Unglücksraben, die ihr Nest in einem abgelegenen Flur der neurologischen Abteilung eingerichtet haben. Natürlich verschandeln wir die Gegend. Ich kenne das leichte Unbehagen zu gut, das wir hervorrufen, wenn wir, still und steif, eine Gruppe von weniger benachteiligten Kranken durchqueren.
Der beste Posten zur Beobachtung dieses Phänomens ist der Gymnastikraum,indemalleRehabilitationspatienten zusammenkommen. Es ist wie früher auf der Cour des Miracles, laut und bunt. In einem Spektakel von Schienen, Prothesen und mehr oder weniger komplizierten Apparaturen trifft man auf einen jungen Mann mit Ohrring, der sich mit dem Motorrad kaputtgefahren hat, eine Mammi in fluoreszierendem Trainingsanzug, die nach einem Sturz von einem Hocker wieder laufen lernt, und einen Halbclochard, von dem noch niemand in Erfahrung bringen konnte, wie er es fertiggebracht hat, daß die Metro ihm einen Fuß abfuhr. In Kreisen aufgereiht wie Zwiebelschalen, schwenkt diese Menschheit unter lockerer Aufsicht Arme und Beine, während ich auf einer schiefen Ebene festgeschnallt bin, die nach und nach in die Vertikale befördert wird. Jeden Morgen verbringe ich eine halbe Stunde so aufgehängt, in hieratischer Habtachtstellung, die an das Erscheinen des steinernen Gasts im letzten Akt von Mozarts Don Giovanni erinnert. Unter mir wird gelacht, gescherzt, gerufen. Ich würde gern an all dieser Fröhlichkeit teilhaben, aber sobald ich mein einziges Auge auf sie richte, wenden alle, der junge Mann, die Mammi, der Clochard, den Kopf ab und haben das dringende Bedürfnis, den Branddetektor unter der Decke anzusehen. Die »Touristen« haben wohl sehr große Angst vor Feuer.