39573.fb2 Schwarzer Valentinstag - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 12

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DIE PEST

Werkzeuge wollte Philo beschaffen; aber er war nicht wiedergekommen.

Christoph war unruhig. Gerüchte schwärmten durch die Stadt: Die Pest sei ausgebrochen in der Stadt am achten Tag des Monats Juli, am Fest des heiligen Kilian. Im Viertel der Müller gegenüber dem Gerberviertel habe ein Kind Fieber bekommen, schwarzblaue Beulen hätten sich gebildet. Der Rat habe Nachforschungen anstellen lassen, es habe sich aber niemand gefunden das kranke Kind zu untersuchen.

Andere sagten, Ärzte hätten das Kind wirklich untersucht, und es sei ohne den geringsten Zweifel die Pest, die Beulenpest, die man aus Italien und Spanien kenne, der schwarze Tod. Niemand betrete mehr das Viertel der Mühlen. Andere sagten, das Kind sei schon gestorben gewesen, als die Ärzte in das Haus des Müllers gekommen seien.

Es wurde auch gesagt, der Müller habe einen Gesellen aus Luzern beherbergt, der habe die Pest mitgebracht.

Rasch vermehrten sich die Gerüchte. Der schwarze Tod sei jetzt schon im Viertel der Bäcker. Der Rat habe verboten, dass die Viertel der Mühlen und der Bäcker verlassen werden dürften. Niemand dürfe auch diese Viertel betreten. Wie das aber geschehen sollte, wisse niemand: Wie sollten die Gesunden mit Brot versorgt werden? Andere sagten, das sei alles falsch, die Pest sei jetzt auch in anderen Stadtvierteln aufgetreten, und der Rat habe die Verordnung wieder zurückgenommen. Auch wurde gesagt, die Verordnung, dass einzelne Stadtviertel nicht mehr betreten werden durften, habe es nie gegeben.

Auch über die Krankheit selbst hörte Christoph die unterschiedlichsten Meinungen: Manche sagten, sie beginne mit Fieber und dann kämen erst die Beulen und die Schmerzen unter den Achseln und in den Leisten. Andere sagten, es sei alles genau umgekehrt, und wieder andere sagten, die Pest beginne mit Husten und Niesen, und erst ganz zum Schluss, wenn das Fieber schon ganz unerträglich sei, träten die Beulen auf.

Christoph hörte einen sagen, das sei alles unwichtig, jeder werde ja selbst sehen, wie die Pest verlaufe. Er mache aber die größte Wette, dass dies dann jedem völlig gleichgültig sei.

Christoph war zuerst wie gelähmt, als vom Auftreten der Pest berichtet worden war. Er hockte in seinem schiefen Haus und zählte die Spinnweben. Aber der Hunger und seine Ungeduld trieben ihn wieder hinaus in die Stadt, auch hoffte er endlich Philo zu finden, der jetzt schon seit Tagen verschwunden war.

Wie hatte sich die Stadt verändert! Öde wie ausgefegt waren die Gassen und Plätze. Nur an der Ill und vor dem Münster hockten wie Schatten einzelne Bettler. Niemand hätte ihm jetzt einen Platz streitig gemacht. Menschenleer waren der Münsterplatz, der Fischmarkt, der Holzmarkt, der Weinmarkt, der Krautmarkt, die Spießgasse, die Blauwalkergasse, der Fischerstaden, der Metzgergraben, das Viertel der Gerber und das der Mühlen. Die Schläge der Turmuhren klangen laut wie nie, die Schritte hallten. Das Gebimmel der Totenglocken nahm kein Ende.

Die wenigen Menschen wichen einander aus.

Christoph machte einen Bogen um die Menschen wie sie um ihn. Woher kam die Pest? Niemand wusste es. Aus der Luft? Aus dem Wasser? Aus der Nahrung? Von anderen Menschen? Keiner konnte es sagen. Ein Erdbeben in Italien sei die Ursache, war von einigen schon vor dem Mord an den Juden gesagt worden, als Herr Wangenbaum von den vergifteten Brunnen gesprochen hatte. Ungünstige Stellung der Sterne, unreine Säfte im Menschen, widrige Südwinde und viele andere Dinge wurden verantwortlich gemacht.

Man könne die Pest bekommen, nur weil man Angst vor ihr habe. Ja, das bloße Reden von der Pest könne die Krankheit auslösen.

Dass die Seuche sehr ansteckend war, wusste jeder.

Woher kamen die Gerüchte, die durch die Stadt gingen wie die Seuche selbst? Kaum jemand redete mit dem anderen, und dennoch: Der eine flüsterte im Vorübergehen, der andere nickte stumm und flüsterte es dem nächsten zu. Zeichen, mit den Händen gemacht, wurden verstanden und weitergegeben. Durch vorgehaltene Tücher, die man in Essig getaucht hatte, wurde getuschelt und geschwatzt. Bei den Brunnen, bei den wenigen Bäckern, die noch arbeiteten, und an den dünn besetzten Fleischbänken stieß man auf Menschen, vermummt und stumm, und dennoch liefen die Gerüchte immer weiter durch die Stadt.

Laut verlesen wurden die Verordnungen des Rates – es gab jeden Tag neue: Zwiebeln könnten gegen die Pest helfen. Man solle ausgehöhlte Zwiebeln auf die Beulen legen, dann würden sie weich und könnten sich öffnen.

Die Toten durften nicht mehr in den Kirchen aufgebahrt werden, sie durften auch keine vierundzwanzig Stunden mehr in einem Hause sein, sie mussten sofort begraben werden. Die Totengräber kamen mit ihrer Arbeit nicht mehr nach: Die Standesgenossen mussten die Toten begraben.

Es hieß aber, in vielen Häusern lägen unbeerdigte Tote, die vergifteten die Luft weiter. Nicht einmal die nächsten Verwandten würden sich um sie kümmern: Es wurde erzählt, Familienmitglieder ließen Pestkranke allein, wenn sie die Krankheit bemerkten, mit dem Vorwand, sie holten einen Arzt. Dann schlossen sie die Türen ab und kämen nicht mehr wieder. So müsse der Kranke an der Pest sterben oder verhungern.

Es wurde auch berichtet, dass mancher einen Pestkranken versorgt habe und dann selbst einsam und unversorgt an der Pest gestorben sei.

Viele Kinder waren in der Stadt, die niemand mehr haben wollte – elende Gestalten, halb verhungerte Gesichter, bleich, hohläugig und zerlumpt, lebten sie, ganz ausgesperrt, vom Betteln und Diebstahl. Niemand war mehr da, der für sie sorgte, wenn sie die Seuche bekamen. Unter Brücken oder in verlassenen Häusern fand man dann ihre Leichen. Kaum jemand war da, der sie begrub.

Es gab Pesthäuser, in denen alle gestorben waren. Der Rat ließ mit Kreide große Kreuze auf Türen und Fenster malen.

Mit der Zeit wurden die Verordnungen des Rats seltener. Viele Ratsherren seien gestorben und noch mehr seien geflohen.

Christophs Angst wuchs täglich, dennoch litt es ihn nicht in der Einsamkeit seiner schiefen Behausung.

Es hieß, man merke es erst nach Tagen, wenn man angesteckt sei. Erst dann breche die Krankheit aus, bis dahin trage man sie bei sich wie ein heimliches Todesurteil und stecke andere an. Man könne mit einem gesunden, rotwangigen Menschen reden, lachen und fröhlich sein, der sei aber vielleicht bereits angesteckt. Vier Tage später sei er krank und weitere vier Tage später sei er tot und schon zeigten sich die ersten Beulen bei einem selbst.

Man hörte nachts aus Häusern gespenstisches Singen und Johlen. Dort feierten ganz gottlose Menschen, hieß es, die sagten, lieber noch einmal richtig gelebt und das Geld durchgebracht, als in den Kirchen auf den Knien liegen und dann doch sterben – und alles den Erben hinterlassen! Der immer machtlosere Rat hatte solche Feste in den öffentlichen Wirtshäusern verboten, aber es geschah dennoch öffentlich oder heimlich, und es hieß, ganze Saufrunden hätte man nach einigen Tagen tot gefunden, von der Pest geholt – dies sei die Strafe Gottes für ihre Freude an der Lust.

Die Geißler zogen immer noch täglich über die Gassen und Plätze und sangen und lagen auf dem Boden, um Gott zum Frieden zu zwingen. Das Klatschen ihrer Geißelhiebe hallte von den Hauswänden wider. Aber auch sie wurden täglich weniger: War es die Seuche, die auch die Zahl der Geißler verringerte? War es ihr offensichtlicher Misserfolg, dass ihnen die Brüder davonliefen? Das wehleidige Gesicht des Herrn Kropfgans sah man immer noch, wie er sich fett und schwitzend mit der Geißel auf den Rücken klopfte.

Nur noch in den Kirchen waren die Menschen in Massen zu finden. Ein alter Bettler sagte zu Christoph und grinste dabei mit seinem zahnlosen Mund: »Dort stecken sie sich genauso an wie überall.«

Was sollte man glauben? Was sollte man tun?

Wären wir mit Balthas und Regine in den Schwarzwald gegangen, dann wäre vielleicht alles gut, dachte Christoph, der sich vorstellte, wie Philo irgendwo mit schwarzen Beulen in einem Winkel lag und starb. In seiner Höhle war er nicht. Die wenigen Bettler, denen er Philo so beschrieb, wie er als Bettler aussah, hatten ihn schon seit langer Zeit nicht mehr gesehen.

Ein paarmal war er zu dem Speicher gegangen, in dem sie die Beweisstücke vermuteten, aber der Speicher wurde immer noch streng bewacht. Er hatte sogar einen der Wächter angesprochen, aber der hatte mürrisch gesagt: »Was glaubst du, wie viel in diesen Tagen gestohlen wird! Ob ich hier die Pest bekomme oder zu Hause, ist mir gleichgültig. Hier wird die Warterei wenigstens gut bezahlt. Vielleicht überlebe ich ja.«

In den Kirchen predigten schwarzweiße Mönche immer noch gegen die Juden: Die getauften Juden vergifteten die Brunnen, um ihre verbrannten Glaubensbrüder zu rächen.

Nach einigen Tagen war das Judenviertel erneut gestürmt und die wenigen getauften Juden waren umgebracht. Christoph begegnete der johlenden Menge – es waren nicht sonderlich viele –, als sie wie betrunken die Spießgasse heruntergetanzt kamen.

»Die waren doch getauft!«

»Die haben sich nur taufen lassen, um sich rächen zu können. Du glaubst nicht, wie rachsüchtig die Juden sind und wie schlau.« Ein fetter Mann mit einer Lederschürze sagte das. Er hatte ein blaurotes Gesicht, vor das er ein Tuch hielt.

Wenn sie Recht hätten – dann wäre die Pest jetzt aus!

Aber er wusste es ja besser: »Es waren doch meist Frauen, die sie zur Taufe gezwungen haben, nachdem sie – «

»Glaubst du auch an diese Gräuelmärchen. Das erzählen die Juden doch nur, um uns einzuwickeln.«

Es war sinnlos, weiterzureden.

Hungrig saß Christoph gegen Abend im schiefen Haus. Der Tag war heiß gewesen. Die Luft war noch drückender geworden.

Er würde betteln gehen müssen, wenn Philo nicht mehr kam, er hatte nur noch wenige Heller. Wie sollte es weitergehen? Er sah die Spinnwebfahnen. Die Balkenständer, die einmal die Stiege gehalten hatten, rutschten immer weiter nach vorne. Demnächst wird das Haus mich erschlagen! Wenn mich nicht vorher die Pest holt. Allein in den bewachten Speicher einsteigen?

Er wusste ja nicht einmal genau, wo er suchen musste.

Das Quietschen der Türe schreckte ihn freudig auf. Die Türe öffnete sich aber nur einen Spaltbreit – nicht Philo stand da, es war eine winzig kleine Gestalt.

»Du sollst mitkommen«, sagte der Junge, dessen zerlumpte Kleider jetzt deutlicher sichtbar wurden – ein Betteljunge, kaum acht Jahre alt. Er sprach mit einem eigenartig fremden Tonfall.

Christoph schaute ihn verwundert an und nickte.

Der andere machte zwei winzige Schritte vorwärts und blieb dann stehen: »Du sollst mitkommen.«

»Wohin?«, fragte Christoph unwillkürlich.

»Du sollst mitkommen.«

»Wie heißt du denn?«

»Du sollst mitkommen.«

Der Junge stand im Türspalt, seine Augen waren dunkel und groß, Angst stand darin, gleichzeitig hatten sie einen bittenden Ausdruck.

»Jemand schickt dich doch. Du kannst mir doch sagen, wer das ist.«

»Du sollst mitkommen.« Nur noch der Kopf war zu sehen.

»Kannst du gar nichts anderes sagen?«

»Du sollst mitkommen.« Er würde gleich anfangen zu weinen.

Gefährlich konnte der Junge ja nicht sein: »Also gut, ich komme mit dir, wenn du auch offenbar nur drei Wörter sagen kannst.«

»Du sollst ein Tuch mitnehmen«, sagte da der Junge überraschend.

»Du kannst also doch richtig sprechen.«

Aber der Junge schwieg.

Auf einem Holzsteg überschritten sie die schwarze Ill. Es war schwül, man erwartete unwillkürlich den Schein eines Wetterleuchtens über den Türmen der Gedeckten Brücken, die sich noch vom Abendhimmel abhoben. Ganze Wolken von Krähen kreisten um die Dächer und über den Bäumen bei den Gedeckten Brücken.

Christoph hatte plötzlich die Hoffnung, dass der Betteljunge ihn zu Philo führen würde.

Sie kamen an einer angefangenen Kapelle vorbei, deren Mauern eines Chores noch kaum über Mannshöhe aufstiegen. Behauene und unbehauene Steine lagen daneben. Da sagte der Junge plötzlich: »Kapelle Heiliger Sebastian. Wird nicht mehr fertig.«

Überrascht antwortete Christoph: »Weshalb – was sind das für Mauern?«

»Herr Wangenbaum«, sagte der Junge, »letzte Woche gestorben an Pest.«

Der dicke Bäckermeister Wangenbaum war tot, der immer etwas Mehl in seinem Gesicht oder an seinem Ärmel gehabt hatte und der ein Mörder war!

Der heilige Sebastian war ein Nothelfer gegen Seuchen. Die Pest hatte Herrn Wangenbaum trotz der Kapelle geholt, die er gestiftet hatte, um verschont zu werden.

Christoph hatte schon oft für die Familie Löbs gebetet. Es hieß, Juden könnten nicht in den Himmel kommen. Es könnten überhaupt nur Getaufte in den Himmel kommen. Aber das konnte nicht sein und das durfte nicht sein!

Man sollte nicht schadenfroh sein – aber irgendwie war es für Christoph wie Gerechtigkeit, dass die Kapelle nicht fertig geworden war, bevor Herrn Wangenbaum die Pest geholt hatte.

Auf dem ganzen Weg vermied der Junge es ängstlich, Christoph zu berühren.

Christoph erkannte das Haus, vor dem der Junge stehen blieb. Es war das riesige, verlassene Haus, das mit seiner Rückseite im hinteren Hof an den Speicher des Herrn Dopfschütz stieß. Das heruntergekommene Gerberhaus sah in der Dunkelheit, die jetzt fast ganz hereingebrochen war, noch unheimlicher aus als damals, als er es mit Philo zusammen am helllichten Tag gesehen hatte. Die Türe des Hauses und viele Fenster waren mit Brettern vernagelt, andere Fenster sahen aus wie schwarze Löcher.

Der Junge legte einen Finger auf den Mund und ging voraus in eine Hofeinfahrt neben dem verlassenen Haus, die einst wohl zu einem Stall geführt hatte.

Der Junge zeigte zu einem vernagelten Fenster hoch, dessen hellere Bretter in der Dunkelheit gerade noch erkennbar waren. Er stellte sich auf einen Stein, ehemals ein Radabweiser. Eines der Bretter ließ sich auf die Seite schieben, auch ein zweites, wodurch ein Spalt entstand, der auch für Christoph weit genug war.

Über den Radabweiser stiegen sie in das Haus, in dem man nicht mehr die Hand vor den Augen sehen konnte.

Er konnte dem Jungen nur folgen, weil dieser immer wieder sagte: »Hier, du sollst mitkommen!«

Es wäre einfacher gewesen, wenn der Junge ihn an der Hand geführt hätte. Aber der Junge vermied jede Berührung.

Er hat Angst vor der Pest, dachte Christoph, der mehr über das Ziel als über den Jungen nachgedacht hatte.

Zuerst war Steinboden unter den Füßen, dann ging es durch eine niedere Türe, an der sich Christoph den Kopf anstieß, obwohl der Junge gesagt hatte: »Vorsicht, mitkommen.«

Ein faulender Bretterboden knirschte jetzt unter ihren Füßen. Mehrmals stolperte Christoph über ein fehlendes Brett. Auch lag wohl allerlei Unrat herum.

Der unsichtbare Junge vor ihm sagte: »Jetzt Stiege, mitkommen.«

Er stolperte die schief abgetretenen Holztritte hoch, von denen wohl ab und zu einer ausgebrochen war.

Ein weites gerades Stück, wohl ein Ern, schloss sich an. Überrascht bemerkte Christoph einen Lichtschimmer. Der Boden war wieder aus Steinplatten und war deutlich zu sehen.

Der Lichtschein fiel aus einer Türe, die links von dem Gang abging. Christoph stand in einem großen, vollkommen leeren Raum, auf dessen Dielen eine helle Bahn aus dem Nachbarraum fiel.

Er machte einige Schritte vorwärts.

»Bleib dort stehen, wo du stehst! Komm keinen Schritt näher!«

Die Stimme war schwach und rau.

Auf einem Bett lag Philo!

Der Raum, in den er blickte, war von drei oder vier Talglichtern und einer Kerze sehr hell. Ein Bett stand da, ein richtiges Bett mit einem Strohsack und einer Decke. Neben dem Bett stand ein großer Wasserkrug, daneben konnte Christoph einen Käse und einen Brotlaib erkennen.

Philo hatte sich etwas aufgerichtet: »Habe ich dir nicht gesagt, dass du bleiben sollst, wo du bist! Willst du auch die Pest?«

Philos Gesicht sah abgemagert und elend aus, die Augen lagen erschreckend tief in den Höhlen und schienen fast schwarz.

»Um Himmels willen, bleib wenigstens jetzt, wo du bist!«

»Was ist mit dir los? Wie kommst du hierher? Wo warst du? Was kann ich für dich tun?«

Philo lächelte müde: »Mit mir ist es aus. Aber hat der Junge nicht gesagt, dass du ein Tuch mitbringen sollst? – Also dann halt es vor dein Gesicht. Reg mich nicht noch auf. So ist es recht.«

Es wäre nicht nötig gewesen, dass Philo ihn dazu aufgefordert hatte: Christoph wurde von einer zunehmenden Panik ergriffen. Er ertappte sich dabei, dass er nur noch auf den Todkranken starrte und an die Ansteckung dachte. Er atmete dieselbe Luft wie Philo, es hieß, die Luft sei vergiftet – aber es ist doch mein Freund Philo, der dort im Sterben liegt! Entsetzt spürte Christoph, wie ihn dennoch ein einziger Drang ergriff – weglaufen, nichts wie weg hier!

Philos Stimme war schwach und heiser. Er erzählte leise und hastig. Wie er von den Wachen gefangen genommen worden war, als er den Weg durch das verlassene Haus in den Speicher gerade erkundet hatte. Wie das halb von ihm beabsichtigt war. Wie Herr Dopfschütz ihn nach zwei Wochen zum zweiten Mal verhört hatte, weil er nicht mehr an die Gauklerübungen glaubte. Wie in diesem Verhör deutlich geworden war, dass Herr Dopfschütz keinen Verdacht hatte, was sie wirklich suchten: »Er ist völlig ahnungslos und meint, wir wollten seinen Speicher ausrauben. Die Wachen haben ihm von einem zweiten Räuber erzählt, den er auch noch haben will. Weißt du, der Speicher ist prallvoll mit Leder, Seidenballen und Gewürzen. Er war aber so aufgeregt, dass es auch noch einen weiteren Grund geben muss – die Sache mit dem kleinen Turm vielleicht? Wollen sie hier ihre Gewaltmittel lagern?«

Philo berichtete weiter, wie er schließlich in dieser Kammer, in der er jetzt sterben müsse, eingeschlossen worden sei, wahrscheinlich, um den anderen Dieb anzulocken.

»Das Schloss ist unversehrt, du kannst es sehen. Sogar ein Bett war da, und das war der Fehler: Regine hat mir einmal aus der Hand gelesen, dass ich in einem Bett sterben werde. Hätte ich mich nur niemals hineingelegt. Das erste Mal in meinem Leben in einem Bett und schon habe ich die Pest.« Er grinste matt.

»Aber dann bin ich krank geworden, die Pestbeulen wurden sichtbar und die Wachen sind verschwunden, die Türe haben sie aufgelassen. Sie haben mich behandelt wie einen Toten. Huny, der Junge, der dich geholt hat, ein Betteljunge, hatte mich schon in der Gefangenschaft mit Essen versorgen müssen. Er ist wiedergekommen, weil ich ihm immer wieder einige Münzen aus der Nase gezogen habe, hat mir Essen und Trinken und Lichter gebracht und an die Türe gestellt, und ich konnte ihn zu dir schicken.«

Tränen stiegen hoch. Aber Christoph konnte nicht zu dem Pestkranken hingehen.

»Ich bin sehr schwach. Das Fieber ist hoch. Die Schmerzen sind schrecklich. Es geht wohl nicht mehr lange. Lass mich nicht zu viel sagen müssen.« Er atmete heftig. »Kurz: Durch dieses Haus hier musst du in den Speicher steigen.«

Er beschrieb ihm den Weg sehr sorgfältig.

Er hustete, seine Stimme war leise und aus der Entfernung kaum mehr zu verstehen: »Wie gerne hätte ich bei diesem Einbruch mitgemacht – «

»Kann ich denn gar nichts für dich tun?«

»Nein! Und jetzt muss ich schlafen – ich bin todmüde. Der Junge versorgt mich, lange wird es wohl nicht mehr dauern. Du sollst die Pest nicht auch noch bekommen! Und vor allem nicht von mir, also geh jetzt und komm nicht wieder. Und vergiss nicht: Einbrecher sind immer barfuß.«

Er hatte es fast unhörbar gesagt.

Nach wenigen Tagen ertrug Christoph ihre alte Behausung nicht mehr. Alles erinnerte an Philo. Seine Flöte lag noch auf dem Tisch.

Es gab jetzt sehr viele leer stehende Häuser in Straßburg, Christoph hätte sich das schönste aussuchen und sich leicht Zugang verschaffen können. Aber man sah diesen Häusern kaum an, ob die Bewohner geflohen oder an der Pest gestorben waren. Denn die Flüchtlinge malten zur Abschreckung meist ebenfalls die weißen Pestkreuze auf die Türen, und Christoph hütete sich ein solches Haus zu betreten.

Er fand ganz in der Nähe des schiefen Hauses eine leer stehende Bretterhütte. Philos Flöte nahm er mit.

Nach einer Woche kam Huny, dem er seine neue Behausung gesagt hatte, und brachte ein Stück eines starken Drahtes, den er zu einem Z geformt hatte – ein Dietrich, um Schlösser zu öffnen. Es sei wichtig, dass er das Schloss des Verschlags unversehrt hinterlasse, hatte Philo ihm geraten – was immer er finde, er müsse es so mitnehmen, dass Herr Dopfschütz den Diebstahl nicht bemerke, sonst würde er womöglich wieder verfolgt.

Auf die Frage, wie es Philo gehe, begann Huny zu weinen. Auf einmal seien die Bretter an dem Fenster, durch das sie eingestiegen seien, vernagelt. Da wusste Christoph, dass Philo nicht mehr lebte.

Der Schmerz um Philo war groß und bitter.

Die Erinnerungen waren übermächtig: das gemeinsame Üben im Schwarzwald, der Tag, an dem er Philo als Bettler in Straßburg getroffen hatte, all die Dinge, die sie zusammen gemacht hatten, und der Vater und Balthas und Regine und die Juden, Nachum, Löb, Abraham – Esther!

Er machte tagelang sinnlose Wanderungen durch die öde Stadt.

Nein, Huny machte bei dem Diebstahl nicht mit. Huny hatte Angst.

»Aber du bist doch auch heimlich zu Philo und hast ihm Essen und Trinken gebracht.«

Aber da hatte Huny auch Angst gehabt.

Schließlich schämte sich Christoph vor dem kleinen Jungen: Ich werde es doch auch alleine schaffen!

In das Haus müsse er nachts eindringen mit einer Fackel. Die Fackel müsse er aber ausmachen, bevor er in den Speicher gelange, weil man den Schein von außen sehe. Er müsse dann im Speicher warten, bis es hell werde. Das Siegel auf der Kiste müsse er aufbrechen und zum Schluss wieder so zusammenfügen, dass von außen nicht zu erkennen sei, dass es aufgebrochen worden war. Es könne dann Jahre dauern, bis jemand den Diebstahl bemerke.

Christoph hatte eine dunkle Nacht ohne Mond und Sterne abgewartet. Er brach auf, nachdem die Turmuhren die Mitternacht geschlagen hatten. Streifenden Stadtsoldaten solle er erzählen, bei seinem Herrn sei die Pest ausgebrochen, er brauche einen Arzt. Niemand würde ihm dann eine zweite Frage stellen.

Wie sorgfältig Philo trotz seiner Schmerzen alles geplant hatte!

Die Luft war unruhig. Einzelne Regenspritzer schlugen Christoph ins Gesicht, als er hinüberging in das Viertel der Gerber. Der Wind zerrte an seiner Fackel, dass die Funken stoben. Die schweren Tierhäute, die an den Seilen und Stangen über der Gasse hingen, schwankten in irrwitzigen Bewegungen. Es gab große Lücken, viele Stangen und Seile waren nicht mehr beladen.

Auf dem ganzen Weg begegnete er niemand als ein paar weinenden Kindern.

Das Licht der Fackel sprühte über die verrammelte Türe und die Bretterverschläge an den Fenstern des verkommenen Gerberhauses.

Christoph fand den Radabweiser, schaute sich noch einmal herzklopfend um und setzte ein Stück Eisen an, das er an einer der Schmieden mitgenommen hatte, drückte die Bretter krachend auf die Seite, kletterte in das Innere des Hauses, und das Herz begann schneller zu klopfen.

Es war, als sei Philo bei ihm, der in diesem Hause gestorben war. Die Fackel musst du vorsichtig austreten, wenn du den Übergang zum Speicher gefunden hast – womöglich lässt du sonst das ganze Haus samt dem Speicher in Flammen aufgehen!

So weit war Christoph noch lange nicht. Erst musste er den Weg durch das Haus finden.

Und geh ja nicht in die Kammer, in der ich jetzt liege, hatte Philo hinzugefügt, damit ich dich nicht noch anstecke, wenn ich schon tot bin.

Die Fackel warf ein rötliches Licht auf die kahlen, spinnwebverhangenen Wände der leeren Räume. Unter seinen bloßen Sohlen spürte er Steinplatten und aufgeworfene Dielen. Es roch brandig nach Gips und nassem Stroh.

Bald war die Stiege erreicht, an der einige Tritte fehlten. Die anderen waren ausgetreten.

Die Fackel machte ihn halb blind.

Bis jetzt war Christoph einigermaßen ruhig gewesen. Aber jetzt kam er in den langen Gang, von dem eine Türe in Philos Kammer abging.

Das Bett war leer.

Er müsse den Ern einfach weitergehen und komme dann an eine Stiege. Vorsicht! Die Tritte seien hier morsch, weil es vom Dach hereinregne! Wenn er oben sei, schließe sich eine Leiter an, die ihn auf den Dachboden führe. Auch diese Leiter sei morsch.

Was waren das für Geräusche? Waren ihm nicht schon von Anfang an Schritte gefolgt? Die Fackel hatte so eigenartige Schatten in die leeren Räume geworfen: Warum war dieses riesige Haus verlassen worden? War es verflucht? – War ein Verbrechen geschehen? Hausten nicht die unerlösten Seelen ehemaliger Bewohner in verlassenen Häusern? – Nachts würden sie lebendig, stürzten sich auf Eindringlinge und saugten ihnen das Blut aus!

Zögernd stieg er weiter. Wirklich war da ein eigenartig hohles Schnarren und Scharren, auch etwas wie ein leises Trippeln. Er klammerte sich an eine Sprosse, die Beine wurden steif.

Da! Wie er die Fackel weit nach oben in die Schwärze des Dachraums hineinreckte – ein tausendfaches Schwirren, Knallen, Klatschen und Flattern um seinen Kopf, eine Wolke von Staub, die ihn einhüllte, Kot rieselte herab – einen wahren Höllentanz von Tauben hatte er mit seiner Fackel aufgescheucht. Er hielt sich krampfhaft an der Leiter fest. Das Herz raste. Au! – Beinahe hätte ein Bund Stroh, das zwischen Balken und Brettern herausquoll, Feuer gefangen.

Er senkte die Fackel und zwang sich ruhig zu atmen – niemand kam von unten. Das Ticken, das er ständig in den Ohren hatte, waren die Holzwürmer, die Totenuhr, die auch in dem schiefen Haus an der Ill tickte.

Er biss die Zähne zusammen: Wie sollte es weitergehen?

Er musste zum Giebel des Hauses vordringen, der an den Speicher stieß.

Hier oben war es eng und heiß. Immer wieder bogen sich die morschen Bretter, auf denen er ging, knirschend und knackend, dass er glaubte abzustürzen. Er musste in dem engen Gebälk höllisch aufpassen, damit seine Fackel nicht den Dachstuhl in Flammen setzte. Die Schatten verwirrten ihn. Er war halb erstickt vom Staub, die Augen waren verklebt von Spinnweben.

Endlich war da der Giebel mit seinen weiß gekalkten Balken.

Jetzt wurde es ernst!

Es gab eine alte, längst vermauerte Türe, die vom Haus zum Speicher geführt hatte, sie war aber weit unter ihm in einem der ehemaligen Wohngeschosse.

Er aber musste über eine schmale Leiter hinunterklettern zum ersten Absatz des Dachstuhls und von dort zu der ehemaligen zweiten Aufzugsluke des Giebels, die als einzige nicht vermauert war. Die Aufzugsluken, die man wahrscheinlich noch lange gebraucht hatte, führten direkt in den mächtigen Dachraum des Speichers.

Sollte er die Fackel wirklich löschen? Warten, bis es hell wurde?

Er wollte so rasch wie möglich wieder aus diesem unheimlichen Haus. Sicher, der Schein der Fackel konnte von einem aufmerksamen Wächter gesehen werden, aber war Warten nicht noch gefährlicher?

Er entschied sich die Fackel anzulassen.

Die Aufzugsluke öffnete sich mit einem ächzenden Laut in den Speicher hinein. Dabei löste sich offenbar ein Stück Putz und es dauerte eine ganze Zeit, bis der Aufschlag von unten zu hören war.

Der Anblick des riesigen, kirchenartigen Speicherraumes im Licht seiner Fackel war überwältigend.

Niemals würde ich das ohne Fackel schaffen!, dachte er, als er sah, wie schwer der Weg auf den Fußboden des Speichers hinunter war. Der Dachstuhl, der sich riesig und steil im Schein der Fackel über ihm erhob, stand auf drei Reihen von Säulen quer zu ihm, die vom Grund des Gebäudes aufstiegen und sich im Schein der Fackel zu bewegen schienen. Ganz hinunter konnte er nicht sehen, weil ein Holzboden den Blick versperrte. Auf diesem Absatz lagerten Waren in mächtigen Ballen, reichten aber bei weitem nicht bis zu ihm herauf.

Querbalken trugen in allen Dachgeschossen ein Gewimmel von schmalen Bretterböden, die sich über ihm in der Nacht verloren und oft untereinander mit Stangen und Seilen verbunden waren.

Zu jedem dieser ehemaligen Trockenböden des Gerbers führten an jeder einzelnen Säule Leitern hinauf bis fast zur Schwärze des Firsts. Auf einer solchen Leiter musste er in die Tiefe steigen.

Schlimm war, dass die Zwischenböden vor jeder einzelnen Luke eine Fläche aussparten, für die Waren, die an dem Seil zu den Luken hochgezogen worden waren – er musste über diese leere Fläche springen. Weit war das nicht, kaum mehr als ein Klafter. Dennoch grauste es ihn, über den schwarzen Abgrund zu springen. Drüben war eine der vielen Leitern, über die er in den Speicherraum hinabsteigen konnte, und die Leiter war an einer Säule befestigt, die seinem Sprung Halt geben konnte.

Hoch über ihm ragte der alte Aufzugsbalken aus dem Giebel, der den Rollenzug für die Luken trug. Aber das Seil, das in greifbarer Weite mit einem Haken hing, oder der Balken da oben konnten morsch sein. Sonst hätte er sich vielleicht an dem Aufzugsseil hinunterlassen können.

Auf der anderen Seite des Daches war fast in gleicher Höhe eine der unzähligen Dachgauben, durch die der Schein seiner Fackel von außen gesehen werden konnte.

Er musste schnell springen.

Ruhe jetzt, nur Ruhe, hörte er den alten Balthas mit seiner Bassstimme sagen, Ruhe und dann frisch gesprungen – es ist nicht weit und es ist nicht schwer. Denk dir den Sprung auf ebener Erde, dann ist er ein Kinderspiel. Du bist schon viele tausend Mal über eine so kleine Entfernung gehüpft!

Jetzt! Mutter! Esther!

Hatte er die Augen geschlossen? Fast zu hart traf er mit den Händen auf die Säule, die ihm augenblicklich blutige Schrunden riss und ihm Splitter in die Handteller jagte. Er klammerte sich mit aller Kraft fest. Als er die Augen öffnete, war es Nacht: Die Fackel war hinuntergefallen und würde dort unten die Ballen der Waren oder einen Balken oder einen Sack voll Pfeffer oder Nelken und dann den ganzen Speicher in Brand setzen. So jagte er besinnungslos die Leiter hinunter und spürte kaum, wie das alte Holz weitere Splitter in seine Hände trieb.

Die Fackel hatte bereits einen Teil der äußeren Hülle eines Ballens erfasst, als Christoph sie hochriss. Er trat die glimmende und schwelende Fläche auf dem Ballen aus und trampelte so lange darauf herum, bis sie nicht mehr rauchte. Dann ging er nach Luft schnappend über die Ballen weiter, die alle die Handelsmarke des Herrn Dopfschütz trugen – einen Bogenschützen, der auf einem Topf stand.

Der Rest des Abstiegs war leicht. Eine Leiter führte ihn vollends in die Tiefe und auf den gepflasterten Boden des Speichers. Als er in die gewaltige Höhe leuchtete, die von hier unten kaum mehr erkennbar war, hätte er sich fast übergeben.

Der Verschlag war schnell gefunden, aber das Schloss wollte und wollte mit seinem Dietrich nicht aufgehen. Er stocherte in dem Schloss herum und suchte verzweifelt nach dem Riegel: Es muss doch gehen! Es muss doch gehen! Die Fackel brannte nieder. Plötzlich öffnete sich die Tür des Verschlags ganz leicht von selbst – er war gar nicht abgeschlossen gewesen! Als Christoph aufsah, war ein steinernes Licht im Speicher, das von den Dachgauben bis zu ihm auf den Grund niedersickerte. Den rauchenden Stumpf der Fackel trat er auf dem Steinboden aus.

Sie haben die Fackel von außen nicht gesehen, dachte er hoffnungsvoll und wandte sich der Kiste zu. Sie trug wie alle Dinge in diesem Speicher die Handelsmarke des Herrn Dopfschütz, die bereits deutlich zu erkennen war. Eine dicke Staubschicht lag auf dem Verschluss, außerdem zeigten Spinnweben, dass er lange Zeit nicht mehr geöffnet worden war.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er jetzt vorsichtig das Siegel löste, welches den verschnürten Verschluss der Kiste sicherte.

Vielleicht ging ihn der Inhalt der Kiste überhaupt nichts an!

Der Deckel der Kiste ließ sich dann leicht öffnen – Schriftstücke fielen ihm als Erstes auf, darunter lag etwas wie Gefäße. Atemlos entfaltete er einen der Briefe, schaute aber vorher noch hinab auf das, was er für Gefäße hielt. Es war zwar heller geworden, aber das Licht reichte noch nicht aus. Er ließ das Blatt in seiner Hand sinken und hob eines der runden Gefäße heraus. Es war klein, dafür ungewöhnlich schwer, er musste mehrfach nachfassen, weil kein Platz war, es richtig zu umspannen. Endlich brachte er es hoch. Der Atem setzte aus, eine plötzlich aufwallende Wärme, Tränen traten ihm in die Augen: Eine große Vier und darüber ein springendes Pferd: die Handelsmarke seines Vaters! Ein Gewicht aus dem väterlichen Gewichtssatz lag in seiner Hand!

Dieses Gewicht war gegen ein gefälschtes vertauscht und nach Straßburg gebracht worden. Dieser Tausch hatte seinen Vater das Leben gekostet. Hastig griff er nach den anderen Gewichten – sie waren alle da! Fein säuberlich ineinander gestapelt, vom kleinsten bis zum größten Gewicht, der ganze Satz, alle mit der Vier und dem springenden Pferd darüber. Sein Vater war wirklich ermordet worden, kein Zweifel war mehr möglich, jedes Gericht der Welt musste den Vater freisprechen, wenn Christoph diesen Gewichtssatz aus einem Speicher in Straßburg vorlegte. Der Betrug war bewiesen. In seinen Ohren war ein großes Rauschen. Es war fast taghell!

Panik überfiel ihn. Nichts wie weg! Er stopfte zwei Schriftstücke und das kleinste der Gewichte in seine Tasche. Er warf den ausgebrannten Fackelstumpf weit weg. Er streute Staub und Abfall über den Ruß auf dem Pflaster.

Sie dürfen nicht feststellen, was du gesucht hast. Sie sollen denken, dass du Seide, Pelze, Leder oder Gewürze stehlen wolltest, wenn sie überhaupt etwas merken. So hatte Philo ihm geraten.

Deshalb fügte er die zerbrochenen Siegel auch wieder vorsichtig so zusammen, dass von außen nichts zu sehen war, und streute Staub über den Verschluss, den er wieder einhakte.

Seine Hände waren fiebrig und nass, als er versuchte Spinnweben über den Verschluss zu ziehen. Sein Herz jagte – die Zeit lief ihm davon. Wie komme ich zur Luke hinüber? – Er dachte voll Entsetzen an den nächtlichen Sprung über den Abgrund, bei dem ihm die Fackel hinuntergefallen war.

Da hörte er von draußen einen Pfiff!

Eine Stimme schrie: »Es ist jetzt hell genug. Er kommt uns nicht davon! Ist alles bereit? Stehen überall Wachen, auch vorne auf der Gasse und auf dem Hof?«

»Kannst du noch lauter schreien?«, sagte eine tiefe Stimme.

»Soll er uns doch hören«, sagte der Erste, »der kann uns nicht entwischen!«

Es folgten weitere Pfiffe.

Christoph war es, als packe ihn eine fürchterliche Hand im Genick. Sie hatten den Schein seiner Fackel gesehen! Sie hatten gewartet, bis es hell war und er nicht mehr entkommen konnte. Es war alles umstellt – der Eingang zum Speicher und das Bretterloch zum verlassenen Haus und vielleicht andere Stellen, die er gar nicht kannte. Einen Moment hockte er da wie gelähmt. Dann sprang er hoch. Er brachte sogar die Ruhe auf, die Kiste von außerhalb des Verschlags noch einmal anzuschauen, und er zog die Türe des Verschlags, die klemmte, kräftig zu.

Er biss dabei auf die Zähne: Es darf nicht sein! Sie dürfen mich jetzt nicht noch kriegen – der Vater! Esther! Schon jagte er die Leiter hoch, da hörte er unten einen Schlüssel im Tor des Speichers rasseln, dass es in dem weiten Raum hallte.

Er hastete über die Ballen des Herrn Dopfschütz zu der letzten Säule vor dem Hausgiebel, der von hier unten fast drohend in den Dachraum des Speichers hineinragte. Er hörte, wie das große Tor des Speichers rasselnd und knarrend aufging. Er stieg die zweite Leiter hoch und klammerte sich in einer aufsteigenden Schwäche mit beiden Armen an die Säule. Dort, fast mit den Händen konnte man sie greifen, war die Luke, durch die er gekommen war, mit dem schräg zu ihm hin geöffneten Laden. Wie ein Galgen ragte sehr hoch darüber der Balken für die hölzerne Aufzugsrolle mit dem Seil.

Er riss sich mit Gewalt zusammen: Konnten sie ihn von unten sehen? Es war noch sehr dunkel hier oben unter dem Dach.

Philo!

Dann stieß er sich ab. Er knallte mit der ganzen Wucht des Sprunges mit Kopf und Schulter gegen die Innenseite des schräg stehenden Ladens. Der öffnete sich mit einem laut krächzenden Ton und Christoph fiel polternd in den Dachraum des leeren Hauses hinein. Kopf und Schulter taten weh und er war halb blind vor Staub.

Von unten aus dem Speicher hörte er Stimmen: »Dort oben ist er!«

»Im Vorderhaus.«

»Vorne ist alles besetzt, da kommt er nicht hinaus!«

Christoph hatte beide Hände um den Beutel auf seiner Brust mit dem Gewicht verkrallt. Seine Gedanken jagten wie im Fieber, wohin? Gleichzeitig rannte er schon zur Leiter und kletterte hinab. Ohne zu wissen, was er eigentlich wollte, jagte er durch den oberen Ern zur Vorderseite des Hauses. Kammern, Gänge, eine große Stube, leer und kahl – alles im Dämmerlicht der vernagelten Fenster. Dort – ein Strom von Licht, das sich durch eine Mauer ergießt: die vermauerte Galerie mit ihrer halb hinabgebrochenen Wand.

Drüben gegen das schräge Licht der aufgehenden Sonne war das Nachbarhaus, dazwischen die Stangen und Seile, an denen die Tierhäute den Blick hinab in die Gasse versperrten. Ohne recht zu überlegen, was er tat, ließ er sich durch den Mauerspalt hinab. Konnte er von hier mit den Füßen eine der Stangen erreichen? Er konnte. Er richtete sich auf – trug sie ihn?

Da war wieder die tiefe Stimme des alten Balthas: Ganz ruhig atmen, ganz ruhig. Die Arme ausstrecken, dein ganzes Gewicht liegt auf den Fußsohlen. Gut, dass du barfuß bist. Die Arme halten das Gleichgewicht, auch wenn es schwankt wie jetzt, da ist nichts dabei, wenn man ganz locker in den Hüften ist. Ein Schritt und wieder ein Schritt, einer nach dem anderen. Den Blick nur auf deinen Weg richten. Auf der ganzen Welt gibt es jetzt nichts als diesen Weg. Es ist keine Stange, es ist nichts als ein Weg, auch wenn er wippt und sich jetzt sehr durchbiegt. Nichts wird brechen, nasse Tierhäute sind viel schwerer als du.

Ein winziger schrecklicher Blick in die Tiefe!

Das geht dich nichts an. Du gehst wie in einem Trichter. Ruhig atmen. Die Stimme war gleichmäßig, man konnte sich anlehnen an diese warme Stimme wie an einen Baum. Es geht jetzt bergauf, erst unmerklich, dann immer steiler. Du kannst es, siehst du, du kannst es. Es ist ganz leicht. Schritt für Schritt, gleich hast du es geschafft. Schritt für Schritt. Ich weiß doch, dass du ein guter Seiltänzer bist, einer der besten Schüler, die ich je hatte.

Hatte er zum Schluss die Augen geschlossen? Er wusste es nicht.

Schritt für Schritt.

»Da oben! Seht ihr ihn? Ganz schön frech!«

»Ohne mich. Der geht geradewegs in ein Pesthaus. Seht ihr die weißen Kreuze an der Tür?«

»Da verreckt er auch ohne uns.«

Christoph lehnte an einem Fensterladen, der sich auf die Seite schieben ließ. Er atmete tief wie im Schlaf. Der Vater war ganz nah. War da eine Flöte?

Dann war er im Haus.

Hinter dem Haus war ein Garten und die Ill, weiter hinten waren wieder Häuser und Gärten und dahinter ragten grau die Türme der Stadtmauer.

Christoph schritt durch die Gartenpforte hinaus, ohne auf jemand zu achten. Dann war er am Illufer, hatte plötzlich das Gefühl doch noch verfolgt zu werden und ging in Philos Höhle. Dort legte er sich auf den Boden wie ein krankes Tier, beide Hände um den Gewichtsstein mit der Handelsmarke seines Vaters geschlossen.

Zwei Schreiben mit gebrochenem Siegel hatte er in der Eile aus der Kiste mitgenommen. Beide waren aus Stuttgart, beide hatten seinen Vater zum Inhalt. Im ersten Brief wurde der Erhalt der Bitte bestätigt Johann Heinrich Christoph Schimmelfeldt zu ruinieren. Der Austausch der Gewichte wurde vorgeschlagen und im zweiten Brief, der ein Begleitschreiben zu dem Gewichtssatz war, bestätigt. Wie es mit der Sache stehe, wurde gefragt, ein gewisser Schwefellieferant aus Italien vorgeschlagen.

Es lag alles offen. Und es war alles bewiesen. Mit dem Gewicht in Stuttgart und den beiden Briefen würde er seine Ehre und sein Erbe zurückbekommen. Was der Vater erhofft hatte, war eingetreten. Wenn es Gerechtigkeit gab vor dem Gericht in Stuttgart, so hatte er es geschafft.

Dennoch blieb die große Freude aus: Mit einer Klarheit wie noch nie, seitdem er in Straßburg war, stand ihm das Bild des gefolterten Vaters vor den Augen – das schweißüberronnene, bleiche Gesicht, die herabhängenden, hölzernen Arme. Er hörte wieder die schweren, pfeifenden Atemzüge.

Da war Esther.

Nachts träumte er von riesigen Gerüsten, endlosen Stangen, Seilen und Balken, über die er gehen musste, Leitern, die bis zum Himmel reichten. Dort warteten sie alle auf ihn: die Mutter, der Vater, der alte Abraham, Löb, Nachum, Philo, Esther –

Das große Sterben in der Stadt Straßburg ging weiter.

Der Orden der Geißler war vom Rat verboten worden. Dennoch hörte man ihren Gesang und das Klatschen ihrer Hiebe noch immer in der Stadt.

Nun hebet auf eure Hände,

dass Gott das große Sterben wende

Gespenstisch war es, als nach und nach das Geläute der Totenglocken verstummte, das Tage und Wochen hindurch zu hören gewesen war, nur nachts war es ausgeblieben. Jetzt war wohl niemand mehr da, der die Glocken hätte läuten können. Auch auf die meisten Uhren an den Türmen war kein Verlass mehr, weil sie nicht mehr aufgezogen wurden. Nur noch wenige dünne Stundenschläge waren zu hören und auch sie wurden immer weniger.

Wie der Sand, der aus einer Sanduhr rinnt, dachte Christoph.

Den dicken Herrn Kropfgans hatte nun ebenfalls die Pest geholt, obwohl er einer der eifrigsten Geißler geworden war mit seinem wehleidigen Gesicht. Er habe Blut gehustet und sei sehr schnell gestorben, wurde gesagt.

Auch Herr Eisenhut mit seinen dünnen Lippen war tot.

Herr Dopfschütz sei auf viele Wochen verreist, erfuhr Huny, als er ihm angeblich eine wichtige Botschaft persönlich ausrichten wollte. Geflohen, dachte Christoph. Er hat lange ausgehalten.

Sein Speicher wurde immer noch bewacht.

Wenn er auch noch stirbt –

Nein, dachte er, dann machen es andere. Zu viele wissen von den neuen Waffen. Es lässt sich auf die Dauer nicht verbergen.

Alles kommt so, wie es der alte Abraham gesagt hat.