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VIERZEHN
Christian steht – lediglich in verwaschenen, zerrissenen Levi’s Jeans – mit einer Reitgerte aus geflochtenem Leder über mir und lässt sie in langsamem, stetem Rhythmus gegen seine Handfläche schnellen. Ein triumphierendes Lächeln spielt um seine Lippen. Ich liege splitternackt auf dem Bett, an Händen und Füßen mit Ledermanschetten an die Bettpfosten gefesselt. Er beugt sich vor und lässt die Gertenspitze langsam über meine Stirn, meine Nase und meine halb geöffneten Lippen gleiten. Dann schiebt er sie mir in den Mund, so dass ich den Geschmack des weichen, glatten Leders auf der Zunge habe.
»Saug«, befiehlt er mit sanfter Stimme.
Meine Lippen schließen sich um das Leder.
»Genug«, herrscht er mich an.
Wieder hole ich tief Luft, als er mir die Gerte aus dem Mund zieht, sie über mein Kinn und an meinem Hals entlang bis zu der kleinen Kuhle zwischen meinen Schlüsselbeinen wandern lässt. Er beschreibt mehrere langsame Kreise, dann setzt er seine Wanderung fort – über mein Brustbein, zwischen meinen Brüsten hindurch und über meinen Bauch bis zum Nabel hinunter. Ich schnappe nach Luft, winde mich und zerre an den Fesseln, die sich in die Haut an meinen Handgelenken und Knöcheln schneiden. Müßig umrundet er mit der Gerte meinen Nabel in immer größeren Kreisen, bis sie schließlich meine Klitoris berührt. Er holt aus und lässt die Gerte auf meine empfindsamste Stelle schnellen. Ich komme augenblicklich und so intensiv, dass mir ein lauter Schrei entfährt.
Ich schrecke aus dem Schlaf hoch. Schwer atmend und schweißüberströmt liege ich im Bett, während die Nachbeben meines Orgasmus langsam verebben. Ich bin völlig neben der Spur. Was zum Teufel war das denn? Ich bin in meinem Zimmer. Allein. Was? Wie? Schockiert fahre ich hoch. Es ist Morgen. Ich sehe auf den Wecker – acht Uhr. Erschrocken schlage ich mir die Hände vors Gesicht. O Gott, ich hatte ja keine Ahnung, dass ich Sexträume habe. Hat das irgendetwas mit dem Essen von gestern zu tun?
Vielleicht haben mir die Austern und meine Internetrecherche meinen ersten feuchten Traum beschert. Trotzdem ist es ziemlich verwirrend. Ich hatte keine Ahnung, dass ich im Schlaf einen Orgasmus kriegen kann.
Kate hantiert in der Küche herum, als ich hereingeschlurft komme.
»Alles in Ordnung, Ana? Du siehst ziemlich mitgenommen aus. Ist das Christians Jackett?«
»Mir geht’s gut.« Vielleicht hätte ich vorher in den Spiegel sehen sollen, verdammt. Ich spüre ihren durchdringenden Blick, sehe sie aber nicht an. Ich bin immer noch völlig durcheinander von meinem morgendlichen Erlebnis. »Ja, das gehört Christian.«
Sie runzelt die Stirn. »Hast du gut geschlafen?«
»Nicht besonders.«
Ich greife nach dem Wasserkessel. Ich brauche dringend einen Tee.
»Und wie war das Abendessen?«
Okay, die Inquisition beginnt.
»Wir haben Austern gegessen. Und als Hauptgang gab es Köhlerfisch.«
»Igitt. Ich hasse Austern. Aber eigentlich habe ich nicht nach dem Essen gefragt. Wie war Christian? Worüber habt ihr geredet?«
»Er war sehr aufmerksam.« Ich halte inne. Was soll ich ihr erzählen? Dass sein HIV-Status negativ ist, er auf Rollenspiele steht und will, dass ich all seine Befehle befolge? Dass er gern Leute fesselt und mich in einem separaten Speiseraum vögeln wollte? Wäre das eine treffende Zusammenfassung meines Abends? Fieberhaft durchforste ich mein Gedächtnis nach irgendetwas, was ich Kate erzählen könnte.
»Er ist von Wanda nicht gerade begeistert.«
»Wer ist das schon, Ana? Das ist nichts Neues. Wieso zierst du dich denn so? Komm schon, spuck’s aus.«
»Meine Güte, Kate, wir haben über vieles geredet. Darüber, wie wählerisch er beim Essen ist. Und rein zufällig hat ihm dein Kleid sehr gut gefallen.« Der Wasserkessel pfeift, und ich mache mir meinen Tee. »Willst du auch einen? Soll ich mir deine Rede anhören?«
»Ja, bitte. Ich habe sie gestern Abend bei Becca’s noch einmal überarbeitet. Ich hole sie. Und ein Tee wäre prima.« Sie läuft hinaus.
Puh! Ablenkungsmanöver gelungen. Ich schneide ein Bagel auf und schiebe die Teile in den Toaster, während mir mein Traum wieder in den Sinn kommt. Was um alles in der Welt war das bloß?
Mir schwirrt der Kopf. Christians Vorstellung von einer Beziehung klingt eher wie ein Jobangebot mit festen Arbeitszeiten, einer klar umrissenen Aufgabenstellung und reichlich drastischen Methoden zur Sicherung der Leistungsqualität. So habe ich mir meine erste Romanze eigentlich nicht vorgestellt – aber wie Christian ja selbst gesagt hat, ist Romantik nicht sein Ding. Wenn ich ihm erkläre, dass ich mehr von ihm will, sagt er vielleicht Nein, was sein Angebot ernsthaft gefährden könnte. Das setzt mir am meisten zu, denn ich will ihn auf keinen Fall verlieren. Aber ich bin nicht sicher, ob ich den Mut aufbringe, seine Sub zu werden – die Vorstellung, mich mit einem Rohrstock oder einer Peitsche disziplinieren zu lassen, schreckt mich am meisten ab. Ich muss wieder an meinen Traum denken – so würde es also ablaufen? Meine innere Göttin zückt die Pompons und springt wie eine Cheerleaderin auf und ab. Ja, ja, ja!
Kate kehrt mit ihrem Laptop in die Küche zurück. Ich esse meinen Bagel und höre mir geduldig ihre Rede an, die sie als Jahrgangsbeste halten wird.
Als Ray an der Tür läutet, bin ich bereit zum Aufbruch. Ich mache auf, und er steht in seinem schlecht sitzenden Anzug vor mir. Bei seinem Anblick überkommt mich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit und Liebe für diesen angenehmen, unkomplizierten Mann. Überschwänglich schlinge ich ihm die Arme um den Hals. Meine ungewohnte Zuneigungsbekundung scheint ihn etwas zu verwirren.
»Hey, Annie, ich freue mich auch, dich zu sehen«, murmelt er und legt die Arme um mich. Dann löst er sich von mir, legt mir die Hände auf die Schultern und mustert mich mit gerunzelter Stirn von oben bis unten. »Alles in Ordnung, Kleine?«
»Natürlich, Dad. Darf sich ein Mädchen nicht mal freuen, seinen alten Herrn wiederzusehen?
Ein Kranz feiner Fältchen erscheint um seine Augen, als er mich anlächelt.
»Du siehst gut aus«, lobt er und folgt mir ins Wohnzimmer.
»Das Kleid gehört eigentlich Kate.« Ich sehe an meinem Neckholder-Kleid aus grauem Chiffon hinunter.
Er runzelt die Stirn. »Wo ist sie überhaupt?«
»Sie ist schon zum Campus gefahren. Als Jahrgangsbeste darf sie eine Rede halten, deshalb muss sie etwas früher dort sein.«
»Sollen wir los?« »Wir haben noch eine halbe Stunde, Dad. Möchtest du einen Tee? Außerdem musst du mir erzählen, wie es in Montesano läuft. Wie war die Fahrt?«
Ray stellt seinen Wagen auf dem Campusparkplatz ab, dann schließen wir uns dem Strom der in schwarz-roten Talaren gekleideten Absolventen an, der sich in Richtung Aula bewegt.
»Viel Glück, Annie. Du wirkst schrecklich nervös. Musst du auch irgendetwas Besonderes machen?«
Verdammt, wieso muss Ray ausgerechnet heute so aufmerksam sein?
»Nein, Dad. Es ist nur ein wichtiger Tag.« Und gleich werde ich ihn sehen.
»Ja, meine Kleine hat ihren Abschluss in der Tasche. Ich bin so stolz auf dich, Annie.«
»Äh … Danke, Dad.« Wie ich diesen Mann liebe!
Die Aula ist brechend voll. Ray hat sich zu all den anderen Eltern und Gratulanten gesellt, während ich zu meinem Platz gehe. Mein schwarzer Talar und mein Hut geben mir ein Gefühl von Sicherheit und Anonymität. Obwohl die Bühne noch leer ist, flattern meine Nerven. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, und meine Atemzüge sind hektisch und flach. Er muss hier irgendwo sein. Vielleicht ist Kate ja gerade bei ihm und nimmt ihn wegen gestern Abend in die Mangel. Ich bahne mir einen Weg durch die Stuhlreihen der Studenten, deren Nachname ebenfalls mit S anfängt, und stelle fest, dass ich in der zweiten Reihe sitze – noch mehr Anonymität. Ich werfe einen Blick über die Schulter, sehe Ray in einer der oberen Reihen auf der Tribüne sitzen und winke ihm zu. Verlegen hebt er die Hand zu einem Gruß – halb Winken, halb Salut. Ich setze mich.
Der Saal füllt sich schnell, und das Stimmengewirr schwillt mit jeder Minute weiter an. Nach einer Weile sind fast alle Plätze in der ersten Reihe besetzt. Links und rechts von mir sitzen zwei Mädchen aus einer anderen Fakultät, die über meinen Schoß hinweg plaudern.
Um Punkt elf Uhr betritt der Rektor die Bühne, gefolgt von drei Stellvertretern und den dienstältesten Professoren, allesamt in schwarz-roten Talaren. Wir erheben uns und applaudieren. Einige der Professoren nicken und winken, andere scheinen das Ganze sterbenslangweilig zu finden. Professor Collins, mein Tutor und Lieblingsprofessor, sieht wie immer aus, als wäre er gerade erst aus dem Bett gefallen. Als Letztes betritt Kate die Bühne, gefolgt von Christian, der in seinem grauen Anzug aus der Schar der Talarträger deutlich hervorsticht. Einzelne Strähnen seines dichten Haars leuchten kupferrot im Scheinwerferlicht der Aula. Er sieht so ernst und souverän aus. Als er sich setzt und sein einreihiges Sakko aufknöpft, erhasche ich einen Blick auf seine Krawatte. O Mann … diese Krawatte! Reflexartig massiere ich mir die Handgelenke und versuche vergeblich, den Blick von ihm zu lösen. Bestimmt trägt er sie mit Absicht. Ich presse die Lippen aufeinander. Die Anwesenden nehmen Platz, und der Beifall verebbt.
»Sieh ihn dir bloß an!«, zischt das eine Mädchen neben mir ihrer Freundin zu.
»Er ist so was von heiß!«
Ich versteife mich. Damit ist garantiert nicht Professor Collins gemeint.
»Das muss Christian Grey sein.«
»Ist er eigentlich Single?«
Ich schäume vor Wut. »Ich glaube nicht«, sage ich leise.
»Oh.« Die beiden sehen mich verblüfft an.
»Ich glaube, er ist schwul«, füge ich hinzu.
»Was für eine Verschwendung«, stöhnt die eine.
Als sich der Rektor erhebt und ans Podium tritt, sehe ich, wie Christian unauffällig den Blick durch den Saal schweifen lässt. Ich rutsche tiefer auf meinem Stuhl und ziehe den Kopf ein, um mich möglichst unsichtbar zu machen. Was mir jämmerlich misslingt, denn eine Sekunde später hat er mich entdeckt und starrt mich an. Seine Miene ist ausdruckslos, verrät nichts von dem, was in ihm vorgeht. Unbehaglich rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her und spüre, wie ich unter seinem hypnotischen Blick rot werde. Unwillkürlich kommt mir mein Traum von heute Morgen in den Sinn, und ich spüre wieder dieses lustvolle Ziehen im Unterleib. Ich ziehe scharf den Atem ein. Der Anflug eines Lächelns erscheint auf seinen Zügen, verfliegt jedoch sofort wieder. Für eine Sekunde schließt er die Augen, und als er sie wieder öffnet, ist seine Miene so ausdruckslos wie zuvor. Er wirft dem Rektor einen Blick zu, dann starrt er stur geradeaus auf das WSU-Wappen, das über dem Eingang hängt.
Wieso sieht er mich nicht mehr an? Hat er es sich anders überlegt? Eine Woge des Unbehagens erfasst mich. Vielleicht ist unser kurzes Intermezzo ja für ihn beendet, weil ich gestern Abend einfach gegangen bin. Er ist es leid, auf meine Entscheidung zu warten. O nein, ich habe das Ganze komplett an die Wand gefahren. Ich denke an seine Mail von gestern Abend. Vielleicht ist er ja sauer, weil ich nicht darauf geantwortet habe.
Unvermittelt brandet Applaus auf. Miss Katherine Kavanagh hat die Bühne betreten. Der Rektor nimmt Platz, während Kate ihr Haar zurückwirft und ihre Unterlagen auf dem Podium zurechtlegt. Sie lässt sich alle Zeit der Welt, scheinbar völlig unbeeindruckt davon, dass die Blicke von tausend Menschen auf sie gerichtet sind. Sie lächelt der Menge zu, die sie wie gebannt beobachtet, und legt los. Sie ist völlig entspannt und witzig, und wie auf ein Stichwort brechen die Mädchen links und rechts von mir gleich beim ersten Scherz in Gelächter aus. Oh, Katherine Kavanagh, du weißt genau, wie man eine Pointe bringt. Ich bin so unglaublich stolz auf sie, dass ich Christian einen Moment lang vergesse. Obwohl ich ihre Rede bereits gehört habe, lausche ich gespannt, und im Handumdrehen hat sie das Publikum voll und ganz auf ihrer Seite.
»Collegeabschluss – Was kommt als Nächstes?«, lautet das Thema. Eine berechtigte Frage. Christian beobachtet Kate mit erhobenen Brauen – er scheint überrascht zu sein. Ja, ebenso gut hätte Kate diejenige sein können, die das Interview mit ihm führt. Und ebenso gut könnte sie diejenige sein, der er dieses unmoralische Angebot unterbreitet. Die schöne Kate und der schöne Christian, für immer vereint. Und ich könnte ebenso gut wie die beiden Mädchen sein, die ihn aus der Ferne anhimmeln. Dabei weiß ich genau, dass Kate ihn nicht mit dem Hintern angesehen hätte. Wie hat sie ihn kürzlich bezeichnet? Genau. Als unheimlich. Bei der Vorstellung, wie sich die beiden in die Wolle geraten, wird mir ganz anders. Ich bin nicht sicher, auf welchen von beiden ich bei einer Auseinandersetzung mein Geld wetten würde.
Kate beendet ihre Rede mit einer letzten Pointe, woraufhin alle spontan aufspringen, applaudieren und ihr zujubeln – ihre ersten stehenden Ovationen. Ich strahle sie an und stoße einen Jubelschrei aus, und sie grinst. Gut gemacht, Kate. Sie setzt sich, während die Anwesenden ebenfalls ihre Plätze wieder einnehmen, dann steht der Rektor auf und stellt Christian vor. Aha, Christian hält also auch eine Rede. Der Rektor umreißt kurz Christians Karriere – CEO seiner eigenen unglaublich erfolgreichen Firma, ein echter Selfmade-Millionär.
»… des Weiteren gehört Mr. Grey zu den wichtigsten Gönnern unserer Universität. Bitte heißen Sie ihn mit einem herzlichen Applaus willkommen: Mr. Christian Grey …«
Der Rektor schüttelt Christian die Hand. Höflicher Applaus ertönt. Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Er tritt zum Podium und lässt den Blick durch den Saal schweifen, wobei er genauso selbstsicher wirkt wie Kate. Die beiden Mädchen neben mir beugen sich gespannt vor. Vermutlich kann die Mehrzahl der weiblichen Gäste – und auch einige der männlichen – es kaum erwarten, seine Rede zu hören. Er beginnt zu sprechen, und nach wenigen Augenblicken besteht kein Zweifel, dass er das Publikum völlig in seinen Bann geschlagen hat.
»Ich bin zutiefst dankbar und gerührt über die Ehre, die mir die Leitung der WSU heute zuteilwerden lässt. Denn dadurch bietet sich mir die Gelegenheit, Ihnen einen Einblick in die eindrucksvolle Arbeit des Instituts für Entwicklung und Umweltschutz zu geben. Wir haben uns das Ziel gesetzt, rentable und ökologisch nachhaltige Methoden für die Landwirtschaft in Ländern der Dritten Welt zu entwickeln, um langfristig unseren Teil beizutragen, Hunger und Armut aus der Welt zu schaffen. Über eine Milliarde Menschen, vorwiegend in Staaten südlich der Sahara, Südasien und Lateinamerika, leiden unter unvorstellbarer Armut. In vielen dieser Länder herrschen massive landwirtschaftliche Missstände vor, die die Zerstörung der Umwelt und der gesellschaftlichen Strukturen nach sich ziehen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, Hunger zu leiden. Deshalb liegt mir dieses Projekt sehr am Herzen …«
Mir fällt die Kinnlade herunter. Wie bitte? Christian musste Hunger leiden? O Gott. Tja, das erklärt natürlich so einiges. Ich muss wieder an unser Interview denken. Christian hat sich also tatsächlich vorgenommen, dem Hunger auf der Welt ein Ende zu bereiten. Fieberhaft durchforste ich mein Gedächtnis nach den biografischen Details aus Kates Artikel – Christian wurde mit vier Jahren adoptiert, und da ich mir nicht vorstellen kann, dass Grace ihm nichts zu essen gegeben hat, muss es davor gewesen sein. Ich schlucke. Bei der Vorstellung von Christian als kleinem, grauäugigem Jungen, der Hunger leiden muss, blutet mir das Herz. Mein Gott, was für ein Leben muss er geführt haben, bevor die Greys ihn zu sich genommen und gerettet haben?
Blanke Wut packt mich. Der arme, perverse, aber philanthropische Wohltäter Christian – auch wenn ich sicher bin, dass er sich selbst keineswegs so sieht und jegliches Mitleid weit von sich weisen würde.
Wieder springen sämtliche Gäste auf und brechen in begeisterten Beifall aus. Ich applaudiere ebenfalls, obwohl ich die Hälfte seiner Rede gar nicht mitbekommen habe. Er tut so viel Gutes, leitet eine riesige Firma und versucht währenddessen, mich zu erobern. Ich bin völlig überwältigt. Mir kommen die Telefonate über Darfur in den Sinn … und plötzlich wird mir alles klar. Es ging dabei also um Lebensmittellieferungen.
Er lächelt kurz, während der Applaus weiter aufbrandet – selbst Kate klatscht begeistert –, dann kehrt er zu seinem Platz zurück, wobei er auch jetzt nicht in meine Richtung sieht. Ich bin immer noch damit beschäftigt, zu verarbeiten, was ich gerade über ihn erfahren habe.
Einer der Vize-Rektoren erhebt sich, und die endlose Prozedur der Verleihung unserer Zeugnisse beginnt. Über vierhundert Absolventen bekommen ihre Urkunden verliehen, und es dauert über eine Stunde, bis mein Name endlich aufgerufen wird. Zwischen den beiden kichernden Mädchen betrete ich die Bühne. Christian sieht mich an. Sein Blick ist freundlich, aber reserviert.
»Herzlichen Glückwunsch, Miss Steele«, sagt er, schüttelt mir die Hand und drückt sie kaum merklich. Ich spüre dieses Knistern zwischen uns, als sich unsere Hände berühren. »Haben Sie ein Problem mit Ihrem Laptop?«
Mit gerunzelter Stirn nehme ich mein Zeugnis entgegen. »Nein.«
»Dann ignorieren Sie meine Mails also doch?«
»Ich habe nur die Fusionierungsmail gelesen.«
Er sieht mich fragend an. »Später«, raunt er. Ich muss die Bühne verlassen, weil sich hinter mir bereits ein Stau bildet.
Ich kehre zu meinem Platz zurück. E-Mails? Im Plural? Er muss also noch weitere geschickt haben. Mit welchem Inhalt?
Die Verleihungszeremonie zieht sich eine weitere Stunde hin, die mir wie eine Ewigkeit vorkommt. Endlich verlassen der Rektor und die Fakultätsmitglieder, gefolgt von Kate und Christian, die Bühne. Erneut würdigt Christian mich keines Blickes, obwohl ich versuche, ihn mittels Willenskraft dazu zu bewegen. Meine innere Göttin ist alles andere als begeistert.
Als ich darauf warte, dass sich meine Sitzreihe leert, höre ich Kate meinen Namen rufen. Ich drehe mich um und sehe sie hinter der Bühne hervortreten.
»Christian will dich sprechen«, ruft sie.
Meine beiden Sitznachbarinnen wenden sich mir zu und starren mich ungläubig an.
»Ich soll dich holen …«, fügt sie hinzu.
Mist …
»Deine Rede war wirklich toll, Kate.«
»Ja, stimmt.« Sie strahlt. »Kommst du? Er ist ziemlich beharrlich.« Sie verdreht die Augen.
»Das kannst du laut sagen. Ich kann aber nicht lange bleiben. Ray ist hier.« Ich sehe zu ihm auf die Tribüne und halte meine gespreizten Finger hoch – fünf Minuten. Er nickt, also folge ich Kate in den Gang hinter der Bühne, wo Christian sich gerade mit dem Rektor und zwei Lehrern unterhält.
»Entschuldigen Sie bitte, meine Herren«, höre ich ihn sagen, als er mich näher kommen sieht. Er lächelt Kate flüchtig zu.
»Danke«, sagt er, und bevor sie etwas erwidern kann, nimmt er mich beim Ellbogen und führt mich in einen Raum, bei dem es sich allem Anschein nach um die Herrengarderobe handelt. Er wirft einen kurzen Blick hinein, um zu sehen, ob sie leer ist, dann verriegelt er die Tür hinter uns.
Verdammt, was hat er denn jetzt vor?
»Wieso hast du weder auf meine Mail noch auf meine SMS geantwortet?« Er starrt mich finster an.
Ich bin völlig perplex. »Ich habe meine Mails heute noch nicht gecheckt. Und mein Telefon ist ausgeschaltet.« Oh, hat er etwa versucht, mich anzurufen? Ich probiere es mit meiner Ablenkungstaktik, die bei Kate schon so gut funktioniert hat. »Deine Rede war wirklich beeindruckend.«
»Danke.«
»Das erklärt auch deine Probleme mit übrig gebliebenen Lebensmitteln.«
Genervt fährt er sich mit der Hand durchs Haar. »Ich will mich jetzt nicht darüber unterhalten, Anastasia.« Er schließt für einen Moment gequält die Augen. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
»Sorgen? Wieso denn?«
»Weil du in diesem Witz von einem Auto nach Hause gefahren bist.«
»Was? Wanda ist kein Witz. Sie fährt einwandfrei. José checkt sie regelmäßig für mich.«
»José, der Fotograf ?« Christians Augen verengen sich zu Schlitzen. Seine Miene ist eisig.
Mist.
»Ja, der Käfer hat früher mal seiner Mutter gehört.«
»Und davor wahrscheinlich deren Mutter und davor deren Mutter. Dieser Wagen ist eine Schrottkiste und nicht sicher.«
»Ich fahre ihn aber seit über drei Jahren. Es tut mir leid, wenn du dir Sorgen gemacht hast. Wieso hast du nicht auf dem Festnetzanschluss angerufen?« Meine Güte, er reagiert komplett über.
Er holt tief Luft.
»Ich brauche eine Antwort von dir, Anastasia. Diese Warterei treibt mich in den Wahnsinn.«
»Christian, ich … mein Stiefvater wartet unten auf mich.«
»Morgen. Ich will bis morgen eine Antwort von dir haben.«
»Okay. Morgen. Dann bekommst du deine Antwort.«
Er tritt einen Schritt zurück und mustert mich kühl. Seine Schultern entspannen sich. »Bleibst du noch zum Empfang?«
»Ich weiß nicht, ob Ray Lust hat.«
»Ray ist dein Stiefvater. Ich würde ihn gern kennen lernen.«
O nein … wieso?
»Ich weiß nicht recht, ob das so eine gute Idee ist.« Christian schließt die Tür auf. Seine Lippen sind zu einer schmalen Linie zusammengepresst. »Schämst du dich etwa für mich?«
»Nein!« Nun bin ich diejenige, die genervt ist. »Aber als was soll ich dich meinem Dad denn vorstellen? ›Das hier ist der Mann, der mich entjungfert hat und eine BDSM-Beziehung mit mir führen will‹? Du trägst keine Turnschuhe, vergiss das nicht.«
Christian starrt mich finster an, doch dann lächelt er. Und obwohl ich eigentlich sauer auf ihn bin, muss ich ebenfalls grinsen.
»Nur damit du es weißt – ich bin ein ziemlich guter Läufer. Sag ihm doch einfach, ich sei ein guter Freund, Anastasia.«
Er öffnet die Tür, und wir treten hinaus. Der Rektor, drei Vize-Rektoren, vier Professoren und Kate starren mich an, als ich eilig an ihnen vorbeigehe. O Mann. Ich lasse Christian bei ihnen zurück und mache mich auf die Suche nach Ray.
Sag ihm doch, ich sei ein guter Freund.
Ein Freund mit der einen oder anderen Zusatzfunktion, mault mein Unterbewusstsein. Ich weiß, ich weiß. Ich verdränge den unangenehmen Gedanken. Wie soll ich ihn Ray vorstellen? Inzwischen hat sich der Saal zur Hälfte geleert, und Ray steht immer noch neben seinem Platz auf der Tribüne. Als er mich sieht, winkt er und kommt herunter.
»Hey, Annie. Herzlichen Glückwunsch.« Er legt den Arm um mich.
»Hast du Lust, im Zelt noch etwas zu trinken?«
»Klar. Es ist dein großer Tag. Lass uns gehen.«
»Wir müssen das nicht unbedingt tun, wenn du nicht willst.« Bitte sag Nein…
»Annie, ich habe zweieinhalb Stunden hier herumgesessen und mir endlose Reden angehört. Ein Drink ist jetzt genau das Richtige.«
Ich hake mich bei ihm unter. Wir schließen uns dem Strom der Gäste an und treten in die warme Nachmittagsluft hinaus. Als Erstes kommen wir an einem Stand vorbei, wo ein Fotograf offizielle Abschlussfotos schießt und vor dem sich eine lange Schlange gebildet hat.
»Oh, apropos«, sagt Ray und zieht eine Digitalkamera aus seiner Tasche. »Eins fürs Familienalbum, Annie.« Ich verdrehe die Augen, bleibe jedoch stehen, damit er das Foto machen kann.
»Darf ich jetzt endlich diesen Talar und den Hut ausziehen? Ich komme mir total blöd vor.«
Du siehst auch reichlich blöd aus … Mein Unterbewusstsein ist wieder mal in Topform. Also, willst du jetzt Ray den Typen vorstellen, mit dem du vögelst? Es blickt mich über den Rand seiner Lesebrille hinweg an. Er wäre wahnsinnig stolz auf dich. Gott, manchmal hasse ich es wie die Pest.
Das Zelt ist riesig, und es wimmelt nur so von Leuten – Studenten, Eltern, Lehrer und Freunde, allesamt in angeregtes Geplauder verstrickt. Ray reicht mir ein Glas Sekt – irgendein billiger Fusel –, der nicht gekühlt ist und pappsüß schmeckt. Unwillkürlich muss ich an Christian denken – das wird ihm gar nicht gefallen.
»Ana!« Ich drehe mich um. Ethan Kavanagh reißt mich in eine Umarmung und wirbelt mich im Kreis herum. Zum Glück gelingt es mir, keinen Tropfen von meinem Sekt zu verschütten – immerhin etwas.
»Glückwunsch!« Seine grünen Augen funkeln, als er mich anstrahlt.
»Wow – Ethan. Wie schön, dich zu sehen. Dad, das ist Ethan, Kates Bruder. Ethan, das ist mein Vater, Ray Steele.« Die beiden schütteln einander die Hand, während Ray Ethan einer eingehenden Musterung unterzieht.
»Seit wann bist du denn aus Europa zurück?«, frage ich.
»Schon seit einer Woche, aber ich wollte meine kleine Schwester überraschen«, antwortet er mit Verschwörermiene.
»Wie süß von dir.« Ich grinse.
»Immerhin ist sie Jahrgangsbeste. Das konnte ich mir nicht entgehen lassen.« Er platzt beinahe vor Stolz.
»Und ihre Rede war toll.«
»Allerdings«, bestätigt Ray.
Ethans Arm liegt immer noch um meine Taille, als ich den Kopf hebe und geradewegs in Christian Greys eisig graue Augen blicke. Kate steht neben ihm.
»Hallo, Ray.« Kate küsst Ray auf beide Wangen, woraufhin er prompt dunkelrot anläuft. »Haben Sie schon Anas Freund kennen gelernt? Christian Grey.«
Ach du liebe Scheiße … Verdammt, Kate! Ich spüre, wie sämtliche Farbe aus meinem Gesicht weicht.
»Mr. Steele, es ist mir eine Freude, Sie kennen zu lernen«, sagt Christian scheinbar völlig unbeeindruckt und streckt Ray freundlich die Hand hin. Ray schüttelt sie, ohne sich auch nur ansatzweise anmerken zu lassen, wie sehr sie ihn mit dieser Neuigkeit überrumpelt hat.
Herzlichen Dank auch, Katherine Kavanagh. Ich schäume vor Wut. Mein Unterbewusstsein liegt inzwischen vermutlich ohnmächtig in der Ecke.
»Mr. Grey«, murmelt Ray. Seine Miene verrät nichts, nur die Tatsache, dass sich seine braunen Augen für den Bruchteil einer Sekunde weiten, lässt ahnen, was in ihm vorgeht. Und wann wolltest du es mir sagen?, scheinen sie zu fragen. Ich beiße mir auf die Unterlippe.
»Und das ist mein Bruder, Ethan Kavanagh«, stellt Kate ihn vor.
Christian wirft Ethan, dessen Arm immer noch um meine Taille liegt, einen Blick von arktischer Kälte zu.
»Mr. Kavanagh.«
Die beiden Männer geben einander die Hand, dann tritt Christian an meine Seite.
»Ana, Baby«, murmelt er, und ich spüre, wie meine Knie beim Klang des Kosenamens weich werden.
Ich entziehe mich Ethans Umarmung, während Christian ihm ein weiteres frostiges Lächeln zuwirft, und ergreife seine ausgestreckte Hand. Kate grinst nur. Sie weiß genau, was sie angestellt hat, dieses hinterhältige Miststück!
»Ethan, Mom und Dad wollten dich sprechen«, sagt sie und zieht Ethan mit sich.
»Und wie lange kennt ihr beide euch schon?«, fragt Ray und sieht uns mit ausdrucksloser Miene abwechselnd an.
Ich bringe keinen Ton heraus; stattdessen wünsche ich mir, der Erdboden würde sich unter mir auftun und mich verschlingen. Christian legt den Arm um mich; sein Daumen streicht über meinen Nacken, ehe er meine Schulter umfasst und mich enger an sich zieht.
»Seit knapp zwei Wochen«, antwortet er lässig. »Wir haben uns kennen gelernt, als Anastasia mich für die Studentenzeitung interviewt hat.«
»Ich wusste ja gar nicht, dass du für die Studentenzeitung schreibst, Ana.« Ein leiser Tadel schwingt in Rays Stimme mit, was mir verrät, wie sehr er sich ärgert. Scheiße.
»Kate war krank«, murmle ich. Mehr bringe ich nicht heraus.
»Das war eine sehr bewegende Rede, Mr. Grey.«
»Danke, Sir. Wie ich höre, sind Sie leidenschaftlicher Fliegenfischer.«
Ray hebt die Brauen und lächelt – sein aufrichtiges Ray-Lächeln, wie man es nur sehr selten zu sehen bekommt. Und schon sind die beiden in eine Fachsimpelei übers Fliegenfischen verstrickt, und zwar so angeregt, dass ich mir völlig überflüssig vorkomme. Christian wickelt meinen Stiefvater mühelos um den kleinen Finger – genauso, wie er es mit dir gemacht hat, blafft mich mein Unterbewusstsein an. Dieser Mann kriegt jeden herum. Ich entschuldige mich und mache mich auf die Suche nach Kate.
Sie steht bei ihren Eltern, die mich mit gewohnter Warmherzigkeit begrüßen. Wir plaudern eine Weile, vorwiegend über ihren Urlaub auf Barbados und unseren bevorstehenden Umzug.
»Wie konntest du mich vor Ray so bloßstellen, Kate?«, zische ich sie an, sobald wir einen Moment lang ungestört sind.
»Weil ich wusste, dass du es nie im Leben tun würdest, und dir helfen wollte. Schließlich wissen wir beide, dass Christian seine Probleme mit festen Bindungen hat.« Kate lächelt süß.
Ich mache ein finsteres Gesicht. Ich bin diejenige, die sich nicht darauf einlassen will, Dummchen!
»Er scheint es ganz cool zu finden, Ana. Mach dich deswegen nicht verrückt. Ich meine, sieh ihn dir bloß mal an – er kann den Blick nicht von dir wenden.« Ich drehe mich um und stelle fest, dass Christian und Ray zu mir herübersehen. »Er beobachtet dich mit Argusaugen.«
»Ich sollte lieber gehen und Ray retten – oder Christian, keine Ahnung. Das Letzte hast du nicht gehört, Katherine Kavanagh!« Ich werfe ihr einen finsteren Blick zu.
»Ich habe dir damit einen Gefallen getan, Ana!«, ruft sie mir hinterher.
»Hi.« Ich lächle den beiden Männern zu.
Es sieht so aus, als gehe es ihnen soweit gut. Christian scheint sich insgeheim über irgendetwas zu amüsieren, und dafür, dass Ray auf einem gesellschaftlichen Event herumstehen muss, wirkt er geradezu Besorgnis erregend entspannt. Worüber außer Fliegenfischen haben sich die beiden wohl noch unterhalten?
»Wo sind hier die Toiletten, Ana?«
»Aus dem Zelt hinaus und dann links.«
»Bis gleich. Amüsiert euch gut.«
Ray verschwindet, während ich Christian nervös ansehe. In diesem Augenblick erscheint der Fotograf und macht eine Aufnahme von uns.
»Danke, Mr. Grey.« Der Fotograf verzieht sich. Ich blinzle, halb blind vom Kamerablitz.
»Ich wünschte, ich wüsste, was du gerade gedacht hast, Ana«, flüstert er mir ins Ohr und hebt mein Kinn an, so dass ich gezwungen bin, ihm in die Augen zu sehen.
Mir stockt der Atem. Wie ist es möglich, dass er eine derartige Wirkung auf mich hat, selbst hier, inmitten all der Menschen.
»Im Augenblick denke ich – hübsche Krawatte«, raune ich.
Er lacht leise. »Das ist neuerdings meine Lieblingskrawatte.«
Ich laufe tiefrot an.
»Du siehst hinreißend aus, Anastasia. Dieses Kleid steht dir ganz ausgezeichnet, und es gibt mir Gelegenheit, deine wunderschöne nackte Haut zu berühren.«
Mit einem Mal ist es, als wären wir allein im Raum, nur er und ich; als wäre jede Faser meines Körpers zum Leben erwacht. Meine Nervenenden vibrieren. Wieder spüre ich diese magische Anziehungskraft, die von ihm ausgeht, und dieses Knistern zwischen uns.
»Du weißt genau, dass es gut werden wird, Baby«, flüstert er.
Ich schließe die Augen und spüre, wie sich mein Inneres entspannt und ich dahinschmelze.
»Aber ich will mehr«, flüstere ich.
»Mehr?« Er sieht mich verwirrt an, und seine Augen verdunkeln sich.
Ich nicke. Jetzt ist es heraus.
»Mehr«, sagt er noch einmal leise, als müsse er ausprobieren, wie sich das Wort auf seiner Zunge anfühlt – ein kleines, einfaches Wort und doch so voller Versprechen. Sein Daumen streicht über meine Unterlippe. »Du willst also Herzchen und Blümchen.«
Wieder nicke ich. Ich sehe ihn an, seine Augen verraten den Kampf, der in seinem Innern tobt.
»Anastasia«, sagt er mit weicher Stimme. »Davon verstehe ich nichts.«
»Ich auch nicht.«
Er lächelt flüchtig. »Es gibt so vieles, wovon du nichts verstehst.«
»Und du verstehst nur etwas von den falschen Dingen.«
»Falsch? Für mich sind sie nicht falsch.« Er schüttelt ernst den Kopf. »Versuch es wenigstens«, flüstert er. Da ist sie, die Herausforderung, die mich lockt. Er legt den Kopf schief und verzieht das Gesicht zu diesem unglaublich attraktiven Grinsen.
Plötzlich bekomme ich keine Luft mehr. Ich bin Eva im Garten Eden, und er ist die Schlange, der ich nicht widerstehen kann.
»Okay«, flüstere ich.
»Was?« Dieses eine Wort hat offenbar genügt, um mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu sichern.
Ich schlucke. »Okay. Ich versuche es.«
»Du bist also einverstanden?«, fragt er ungläubig.
»Ja, ich versuche es. Nur über die Soft Limits müssen wir
noch reden.« Meine Stimme ist kaum hörbar.
Christian schließt die Augen und zieht mich an sich. »Großer Gott, Ana, du bist so unberechenbar. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Er lässt mich los. In diesem Augenblick kommt Ray zurück, und das Stimmengewirr um uns herum scheint wieder einzusetzen. Wir sind nicht länger allein. Scheiße, ich habe mich gerade bereiterklärt, seine Sklavin zu werden. Christian lächelt Ray an. Seine Augen leuchten vor Freude.
»Annie, wollen wir Essen gehen?«
»Okay.« Ich sehe Ray an, verzweifelt bemüht, mein Gleichgewicht wiederzufinden. Was hast du getan?, schreit mein Unterbewusstsein, während meine innere Göttin eine Reihe von Flickflacks aufs Parkett legt, die jede russische Olympionikin neidisch gemacht hätte.
»Möchten Sie vielleicht mitkommen, Christian?«, fragt Ray.
Christian! Ich sehe ihn an, in der Hoffnung, dass er ablehnt. Ich muss nachdenken … was zum Teufel habe ich bloß angerichtet?
»Danke, Mr. Steele, aber ich habe bereits etwas vor. Es hat mich trotzdem sehr gefreut, Sie kennen zu lernen, Sir.«
»Gleichfalls«, gibt Ray zurück. »Und passen Sie gut auf meine Kleine auf.«
»Oh, das kann ich Ihnen versichern.«
Die beiden schütteln einander die Hand. Mir ist regelrecht übel. Ray hat keine Ahnung, wie gut Christian auf mich aufpassen wird. Christian nimmt meine Hand, hebt sie an die Lippen und küsst zärtlich meine Fingerknöchel, ohne den Blick von mir zu lösen.
»Bis später, Miss Steele«, raunt er mit bedeutungsschwangerem Tonfall.
Augenblicklich spüre ich wieder dieses Ziehen. Moment mal … später?
Ray nimmt mich beim Arm und führt mich zum Ausgang.
»Scheint ja ein sehr solider junger Mann zu sein. Und reich noch dazu. Du hättest es weitaus schlechter erwischen können, Annie. Wieso ich es allerdings von Katherine erfahren musste …«
Ich zucke entschuldigend mit den Achseln.
»Aber mir ist jeder Mann willkommen, der etwas fürs Fliegenfischen übrighat.«
Verdammt – Ray gibt ihm auch noch seinen Segen. Wenn er wüsste …
Am frühen Abend setzt Ray mich zuhause ab.
»Und ruf deine Mutter an«, sagt er.
»Danke, dass du gekommen bist, Dad.«
»Das hätte ich mir auf keinen Fall nehmen lassen, Annie. Ich bin so stolz auf dich.«
O nein. Jetzt bitte nicht sentimental werden. Ein dicker Kloß bildet sich in meiner Kehle. Ich drücke Ray fest an mich. Erstaunt legt er die Arme um mich. Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen.
»Hey, Annie, Schatz«, sagt er beschwichtigend. »Es war ein ziemlich großer Tag, was? Soll ich noch mit reinkommen und dir einen Tee machen?«
Ich muss lachen. Für Ray ist Tee das Allheilmittel in sämtlichen Lebenslagen. Ich weiß noch, wie meine Mutter sich immer über ihn beschwert hat – vielleicht wäre es zwischen den beiden besser gelaufen, wenn Ray einen Tee weniger gekocht und sie stattdessen einmal mehr in den Arm genommen hätte …
»Nein, nein, Dad, ist schon gut. Ich habe mich wahnsinnig gefreut, dich wiederzusehen. Nach dem Umzug komme ich dich ganz bald besuchen.«
»Viel Glück bei deinen Vorstellungsgesprächen. Lass von dir hören, wie es gelaufen ist.«
»Klar, Dad.«
»Ich hab dich lieb, Annie.«
»Ich dich auch, Dad.«
Seine braunen Augen sind voller Wärme, als er mich anlächelt und in seinen Wagen steigt. Ich winke ihm nach, als er in der Abenddämmerung davonfährt, und betrete widerstrebend das Apartment.
Als Erstes checke ich mein Handy. Der Akku ist leer, deshalb muss ich zuerst das Ladegerät suchen und es ans Stromnetz hängen, bevor ich die Nachrichten abrufen kann. Vier Anrufe in Abwesenheit, eine Nachricht auf der Voicemail und zwei SMS. Drei Anrufe in Abwesenheit stammen von Christian, aber keine Nachricht. Ein Anruf von José und eine Nachricht, in der er mir alles Gute für die Verleihung wünscht.
Ich öffne die SMS.
Bist du sicher nach Hause gekommen?
Ruf mich an.
Sie stammen beide von Christian. Wieso hat er nicht auf dem Festnetz angerufen? Ich gehe in mein Zimmer und fahre den Computer hoch.
Von: Christian Grey
Betreff: Heute Nacht
Datum: 25. Mai 2011, 23 :58 Uhr
An: Anastasia Steele
Ich hoffe, du bist mit dieser Klapperkiste gut nach Hause gekommen. Lass mich wissen, ob es dir gut geht.
CHRISTIAN GREY
CEO, Grey Enterprises Holdings, Inc.
Du meine Güte … wieso macht er so ein Theater wegen Wanda? Seit drei Jahren hält sie mir die Treue, und José hat dafür gesorgt, dass sie gut in Schuss ist. Christians zweite Mail stammt von heute Abend.
Von: Christian Grey
Betreff: Soft Limits
Datum: 26. Mai 2011, 17:22 Uhr
An: Anastasia Steele
Was könnte ich noch sagen, was nicht längst ausgesprochen ist?
Ich freue mich darauf, die Soft Limits mit dir zu besprechen.
Du hast heute wunderschön ausgesehen.
CHRISTIAN GREY
CEO, Grey Enterprises Holdings, Inc.
Von: Anastasia Steele
Betreff: Soft Limits
Datum: 26. Mai 2011, 19:23 Uhr
An: Christian Grey
Ich komme gern heute Abend noch vorbei, um über alles zu reden, wenn du willst.
Ana
Von: Christian Grey
Betreff: Soft Limits
Datum: 26. Mai 2011, 19:27 Uhr
An: Anastasia Steele
Ich komme lieber zu dir. Was ich über deinen Wagen gesagt habe, war durchaus ernst gemeint – mir ist nicht wohl dabei, wenn du damit durch die Gegend fährst.
Ich bin gleich da.
CHRISTIAN GREY
CEO, Grey Enterprises Holdings, Inc.
Verdammt … Er kommt hierher. Da ist noch etwas, das ich ihm geben muss – die Thomas-Hardy-Erstausgaben liegen immer noch im Wohnzimmerregal. Ich kann sie nicht behalten. Ich verpacke sie in braunem Papier und schreibe ein Zitat aus Tess darauf:
Ich willige in diese Bedingung ein, Angel; denn du weißt am besten, welche Strafe ich verdiene; nur – nur – mach es nicht härter, als ich’s ertragen kann!