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EINUNDZWANZIG
Das Licht ist überall – warmes, gleißend helles Licht. Verzweifelt versuche ich, mich ihm noch für ein paar kostbare Minuten zu entziehen. Ich will mich verstecken. Nur noch ein paar Minuten. Aber es ist zu grell, deshalb ergebe ich mich in mein Schicksal und schlage die Augen auf. Ein strahlend schöner Morgen begrüßt mich – die Sonne scheint durch die raumhohen Fenster herein und taucht das Schlafzimmer in allzu helles Licht. Wieso haben wir bloß die Jalousien nicht heruntergelassen? Ich liege in Christian Greys breitem Bett, nur von ihm ist nichts zu sehen.
Einen Moment lang blicke ich auf die Skyline von Seattle, die sich vor dem Fenster erstreckt. Das Leben so hoch in den Wolken fühlt sich surreal an, eine Phantasie – ein Schloss, so weit über den Dingen, dass die harten Tatsachen des Lebens es nicht erreichen können, fernab von Vernachlässigung, Hunger und cracksüchtigen Müttern. Erschaudernd denke ich daran, was er durchgemacht haben muss. Inzwischen verstehe ich, weshalb er hier lebt, isoliert, nur umgeben von all diesen wunderschönen, kostbaren Kunstschätzen. Lichtjahre von jenem Ort entfernt, wo er hergekommen ist. Trotzdem erklärt all das nicht, wieso ich ihn nicht berühren darf.
Ironischerweise überträgt sich dieses Lebensgefühl in seinem Turm hoch oben in den Wolken auch auf mich. Die Realität ist weit, weit weg. Ich liege im Bett in dieser Phantasie-Wohnung, habe Phantasie-Sex mit meinem Phantasie-Freund, wohingegen die knallharte Wirklichkeit ganz anders aussieht: Christian will ein sehr spezielles Arrangement mit mir, auch wenn er beteuert, er bemühe sich, mir mehr zu geben. Was bedeutet das? Ich muss diesen Punkt klären, um zu wissen, ob wir uns immer noch an den entgegengesetzten Enden der Wippe befinden oder uns mittlerweile in Richtung Mitte vorarbeiten.
Ich stehe auf, steif und – in Ermangelung einer treffenderen Bezeichnung – durchgevögelt. Tja, muss wohl an dem vielen Sex liegen. Mein Unterbewusstsein schürzt missbilligend die Lippen. Ich verdrehe die Augen, heilfroh, dass der Kontrollfreak mit den juckenden Fingern nicht in der Nähe ist. Mein Entschluss steht fest – der Personal Trainer muss her. Das heißt, falls ich unterschreibe. Meine innere Göttin ringt verzweifelt die Hände. Natürlich wirst du unterschreiben. Ich ignoriere sie, gehe kurz auf die Toilette und mache mich auf die Suche nach Christian.
Im Wohnzimmer ist er nicht. Dafür laufe ich einer elegant aussehenden Frau mittleren Alters in die Arme, die die Küche saubermacht. Sie hat kurzes, blondes Haar und klare blaue Augen, trägt eine weiße Bluse und einen dunkelblauen, schmal geschnittenen Rock. Als sie mich sieht, lächelt sie breit.
»Guten Morgen, Miss Steele. Möchten Sie vielleicht etwas frühstücken?« Ihr Tonfall ist freundlich, wenn auch geschäftsmäßig. Ich starre sie fassungslos an. Wer ist diese attraktive Blondine in Christians Küche? Und ich stehe mit nichts als Christians T-Shirt bekleidet vor ihr, sprich, praktisch nackt. Am liebsten würde ich vor Scham im Boden versinken.
»Ich fürchte, Sie haben mich kalt erwischt«, stammle ich verlegen.
»Oh, bitte entschuldigen Sie vielmals. Ich bin Mrs. Jones, Mr. Greys Haushälterin.«
Ah.
»Wie geht es Ihnen?«, presse ich mühsam hervor.
»Würden Sie gern frühstücken, Ma’am?«
Ma’am?
»Ein Tee wäre wunderbar. Danke. Wissen Sie, wo ich Mr. Grey finde?«
»In seinem Arbeitszimmer.«
»Danke.«
Ich kann einen Anflug von Gekränktheit nicht leugnen. Wieso arbeiten ausschließlich attraktive Blondinen für Christian? Sind sie etwa alle ehemalige Subs? Ich sträube mich entschieden gegen diesen abscheulichen Gedanken. Vorsichtig linse ich in Christians Büro. Er steht, in schwarzer Hose und einem weißen Hemd, am Fenster und telefoniert. Sein Haar ist noch feucht vom Duschen. Auf einen Schlag sind all meine negativen Gedanken wie fortgewischt.
»Wenn sich die Bilanz dieser Firma nicht massiv verbessert, bin ich nicht interessiert, Ros. Wir können keinen Klotz am Bein gebrauchen. Und ich habe keine Lust, mir noch länger diese lahmen Ausreden anzuhören … Sagen Sie Marco, er soll mich anrufen. Entweder hopp oder top … Ja, und sagen Sie Barney, der Prototyp sieht gut aus, allerdings bin ich mir bei der Schnittstelle nicht ganz sicher … Nein, irgendetwas fehlt … Ich will heute Nachmittag mit ihm darüber reden … Und mit seinem Team. Wir machen ein Brainstorming … Okay. Verbinden Sie mich nochmal mit Andrea …« Er sieht aus dem Fenster, während er wartet, wie der Herrscher eines Universums, der von seinem Wolkenschloss auf die umherwuselnden Ameisen hinunterblickt. »Andrea …«
Er hebt den Kopf und sieht mich im Türrahmen stehen. Ein sexy Lächeln breitet sich langsam auf seinem Gesicht aus. Völlig hingerissen stehe ich da, während ich innerlich dahinschmelze. Er ist der attraktivste Mann auf diesem Planeten, daran besteht kein Zweifel. Zu schön für all die Ameisen dort unten und viel zu schön für mich. Nein, schimpft meine innere Göttin, er ist nicht zu schön für mich. Er gehört mir. Na ja, in gewisser Weise. Der Gedanke versetzt mir einen Kick, und meine idiotischen Selbstzweifel sind vergessen.
Er spricht weiter, ohne den Blick von mir zu lösen.
»Sagen Sie all meine Termine für heute Vormittag ab, aber richten Sie Bill aus, er soll mich anrufen. Ich komme um zwei. Ich muss heute Nachmittag noch mit Marco reden. Das wird mindestens eine halbe Stunde dauern … Vereinbaren Sie einen Termin mit Barney und seinem Team nach dem Gespräch mit Marco oder von mir aus auch morgen. Und sorgen Sie dafür, dass ich die ganze Woche über eine Lücke für Claude habe, jeden Tag … Sagen Sie ihm, er soll warten … Nein, für Darfur will ich keine Publicity … Sagen Sie Sam, er soll sich darum kümmern … Nein … Welche Veranstaltung? … Das ist nächsten Samstag? … Moment.« Er nimmt den Hörer vom Ohr.
»Wann kommst du aus Georgia zurück?«, fragt er.
»Am Freitag.«
Er hebt den Hörer wieder ans Ohr. »Ich brauche eine zweite Karte, weil mich jemand begleitet … Ja, Andrea, ganz genau, ihr Name ist Miss Anastasia Steele … Das ist vorläufig alles.« Er legt auf. »Guten Morgen, Miss Steele.«
»Mr. Grey.« Ich lächle schüchtern.
Mit seiner gewohnten Eleganz umrundet er den Schreibtisch, tritt vor mich und streichelt zärtlich mit der Rückseite seiner Finger meine Wange.
»Ich wollte dich nicht wecken. Du hast so friedlich ausgesehen. Hast du gut geschlafen?«
»Ich fühle mich sehr ausgeruht, danke. Ich wollte nur kurz Hallo sagen, bevor ich unter die Dusche gehe.«
Ich betrachte sein Gesicht. Ich kann mich einfach nicht an ihm sattsehen. Er beugt sich vor und küsst mich zärtlich. Ich kann mich nicht länger beherrschen und schlinge ihm die Arme um den Hals. Ich dränge mich ihm entgegen, erwidere voller Leidenschaft seinen Kuss. Ich will ihn. Offenbar hat er nicht mit meiner stürmischen Reaktion gerechnet, trotzdem reagiert er sofort und küsst mich noch intensiver. Ein leises Stöhnen dringt aus seiner Kehle. Seine Hand wandert über meinen Rücken zu meinem nackten Hinterteil, während seine Zunge weiter meine Mundhöhle erkundet. Nach einem Moment löst er sich und sieht mich mit vor Lust verschleiertem Blick an.
»Aha, eine anständige Mütze voll Schlaf bekommt dir offensichtlich«, bemerkt er trocken. »Ich schlage vor, du gehst duschen. Oder soll ich dich lieber gleich auf meinem Schreibtisch vögeln?«
»Ich nehme den Schreibtisch«, erwidere ich keck. Das Verlangen rauscht durch meine Venen und elektrisiert jede einzelne Zelle in meinem Körper.
Für den Bruchteil einer Sekunde starrt er mich verblüfft an.
»Inzwischen haben Sie offenbar Blut geleckt, Miss Steele. Sie werden unersättlich«, murmelt er.
»Aber mein Appetit beschränkt sich nur auf Sie, Mr. Grey«, flüstere ich.
Seine Augen weiten sich und werden dunkel vor Lust, während er noch immer meine Kehrseite knetet.
»Verdammt richtig. Nur auf mich.« Mit einer abrupten Bewegung fegt er sämtliche Unterlagen vom Schreibtisch, hebt mich hoch und legt mich auf das schmale Ende, so dass mein Kopf knapp über der Kante hängt.
»Du willst es, also bekommst du es auch, Baby«, knurrt er und zieht ein Kondompäckchen heraus, während er den Reißverschluss seiner Hose öffnet. Er rollt das Kondom über seine Erektion und sieht mich an. »Ich hoffe, du bist bereit«, presst er mit einem anzüglichen Grinsen hervor. Sekunden später ist er in mir, füllt mich vollständig aus und stößt zu, während er meine Handgelenke fest umklammert hält.
Ich stöhne … o ja.
»Herrgott, Ana, du bist ja so was von bereit«, brummt er voller Bewunderung.
Ich schlinge meine Beine um seine Taille. Seine grauen Augen glühen vor Leidenschaft und Lust. Erneut stößt er zu, diesmal mit aller Kraft. Was wir hier tun, hat nichts mit Liebe zu tun. Wir ficken – und ich liebe es. Es ist grob, brutal, voll ungenierter Lust und Geilheit. Ich aale mich in seiner Leidenschaft, seiner Begierde, die mich zu verschlingen droht. Er findet seinen Rhythmus, bewegt sich, als wäre jeder Stoß ein Hochgenuss, mit leicht geöffneten Lippen, während seine Atemzüge schneller werden. Seine Hüften beginnen zu kreisen, und eine Woge unbeschreiblicher Lust überkommt mich.
Ich schließe die Augen, spüre, wie meine Erregung mit jeder Sekunde wächst, dieses köstliche, langsame, stetige Anschwellen, immer höher, immer weiter, dem Schloss in den Wolken entgegen. O ja … seine Stöße werden eine Spur härter. Ich keuche laut auf. Mein Körper ist wie losgelöst … ich nehme nichts mehr wahr, nur noch Christian, heiße jeden seiner Stöße willkommen, der mich bis in mein Innerstes zu erfüllen scheint. Und er beschleunigt seinen Rhythmus noch weiter, immer schneller … immer ungestümer … Meine Beine werden stocksteif, und meine Eingeweide ziehen sich zusammen.
»Komm schon, Baby, zeig’s mir, tu’s für mich«, feuert er mich an, mit einer verzweifelten Eindringlichkeit, die mich zum Höhepunkt gelangen lässt.
Mit einem wortlosen Flehen um Gnade strebe ich der Sonne entgegen und verglühe in der sengenden Hitze, bevor ich falle, hinab in die Tiefen der Atemlosigkeit und der Erfüllung. Er stößt ein letztes Mal zu, dann hält er abrupt inne, als er den Höhepunkt erreicht, meine Handgelenke fest gepackt, und voller Anmut und Dankbarkeit wortlos über mir zusammensinkt.
Wow … so viel zum Thema spontan. Ganz allmählich kehre ich ins Hier und Jetzt zurück.
»Was zum Teufel machst du mit mir?« Er schmiegt sein Gesicht an meinen Hals. »Du verzauberst mich, Ana. Du besitzt magische Kräfte, denen ich mich nicht entziehen kann.«
»Ich bin diejenige, die verzaubert ist«, erwidere ich atemlos.
Ein verwirrter, beinahe erschrockener Ausdruck liegt auf seinem Gesicht, als er mich ansieht. Er umfasst mein Gesicht, so dass ich den Kopf nicht bewegen kann.
»Du. Gehörst. Mir«, erklärt er, wobei er jedes Wort einzeln betont. »Hast du mich verstanden?«
Er wirkt innig, so voller Leidenschaft – geradezu fanatisch. Die Eindringlichkeit seiner Worte ist entwaffnend. Damit habe ich nicht gerechnet, und ich frage mich, wie er darauf kommt. »Ja, dir«, antworte ich, verwirrt über seine Inbrunst.
»Bist du sicher, dass der Georgia-Trip unbedingt nötig ist?«
Ich nicke langsam und beobachte sein Mienenspiel, sehe zu, wie er sich vor meinen Augen verschließt. Er zieht sich so abrupt aus mir heraus, dass ich zusammenzucke.
»Bist du wund?«, fragt er und beugt sich vor.
»Ein bisschen«, gebe ich zu.
»Ich mag es, wenn du wund bist.« Seine Augen glühen. »Es erinnert dich daran, wo ich war. Und zwar nur ich allein.«
Er küsst mich grob, dann richtet er sich auf und hält mir die Hand hin, um mir aufzuhelfen. Mein Blick fällt auf die Folienverpackung neben mir.
»Stets vorbereitet«, murmle ich.
Mit verwirrter Miene zieht er den Reißverschluss seiner Hose hoch, während ich die leere Hülle in die Höhe halte.
»Ein Mann darf hoffen, Anastasia, vielleicht auch träumen. Und manchmal wird der Traum sogar wahr.«
Mit einem Mal klingt er so seltsam. Sein Blick durchbohrt mich. Ich verstehe es einfach nicht. Meine postkoitale Euphorie verfliegt im Nu. Was für ein Problem hat dieser Mann?
»Also war das auf deinem Schreibtisch gerade eben ein Traum?«, frage ich trocken, um die angespannte Atmosphäre ein wenig aufzulockern.
Ein geheimnisvolles Lächeln erscheint auf seinem Gesicht, das nicht ganz bis zu den Augen reicht, und mir ist auf der Stelle klar, dass er nicht zum ersten Mal Sex auf diesem Schreibtisch hatte. Ein Gedanke, der mir überhaupt nicht gefällt.
»Ich sollte wohl lieber unter die Dusche gehen«, sage ich und schiebe mich an ihm vorbei.
Er runzelt die Stirn und fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Ich muss noch ein paar Anrufe erledigen. Wenn du geduscht hast, können wir zusammen frühstücken. Ich glaube, Mrs. Jones hat deine Sachen gewaschen. Sie liegen im Schrank.«
Was? Wann zum Teufel hat sie das gemacht? O Gott, hat sie uns gehört? Ich werde rot. »Danke.«
»Gern geschehen«, erwidert er automatisch, wenn auch mit einem Anflug von Gereiztheit.
Ich bedanke mich nicht dafür, dass du mich gevögelt hast. Obwohl es sehr …
»Was ist?«, fragt er.
Erst jetzt merke ich, dass ich die Stirn gerunzelt habe.
»Was ist mit dir?«, frage ich zurück.
»Was meinst du?«
»Na ja … du benimmst dich noch merkwürdiger als sonst.«
»Du findest mich merkwürdig?« Er hat Mühe, sein Grinsen zu unterdrücken.
»Manchmal.«
Er mustert mich einen Moment lang. »Sie erstaunen mich immer wieder, Miss Steele.«
»Inwiefern?«
»Sagen wir einfach, was gerade passiert ist, war ein Vergnügen, mit dem ich nicht gerechnet hatte.«
»Wir wollen doch, dass Sie zufrieden sind, Mr. Grey«, zitiere ich und lege den Kopf schief, so wie er es häufig tut.
»Was Ihnen auch gelingt«, entgegnet er, wenn auch mit einem Anflug von Unbehagen. »Ich dachte, du wolltest unter die Dusche gehen?«
Oh, ich bin also entlassen.
»Ja … äh, bis gleich.« Völlig perplex verlasse ich eilig sein Büro.
Etwas schien ihn zu verwirren. Aber was? Ich muss zugeben, dass unser kleines Abenteuer in rein körperlicher Hinsicht sehr befriedigend war, in emotionaler hingegen – nun ja, seine Reaktion, die meinen Hunger nach Zuneigung ähnlich effektiv gestillt hat wie eine Portion Zuckerwatte, wirft mich ziemlich aus der Bahn.
Mrs. Jones ist immer noch in der Küche. »Hätten Sie jetzt gern Ihren Tee, Miss Steele.«
»Ich muss zuerst unter die Dusche, danke«, antworte ich mit glühend roten Wangen und sehe zu, dass ich so schnell wie möglich die Kurve kratze.
Unter der Dusche grüble ich weiter über Christian nach. Ich kenne niemanden, der so kompliziert ist wie er, und kann seine ständigen Stimmungsschwankungen beim besten Willen nicht nachvollziehen. Als ich in sein Arbeitszimmer kam, schien er noch bester Dinge zu sein. Wir hatten Sex … und dann war alles plötzlich ganz anders. Nein, ich kapiere es einfach nicht. Fragend wende ich mich meinem Unterbewusstsein zu – es steht da, pfeifend, die Hände auf dem Rücken, und sieht überall hin, nur nicht in meine Richtung. Es hat nicht die leiseste Ahnung. Und meine innere Göttin aalt sich immer noch in ihrer postkoitalen Behaglichkeit. Nein – keine von uns weiß, was hier läuft.
Ich rubble mein Haar trocken, kämme es mit Christians einzigem Kamm durch und schlinge es zu einem Knoten. Kates pflaumenblaues Kleid hängt frischgewaschen und gebügelt im Schrank neben meinem BH und meinem Höschen. Mrs. Jones ist der reinste Schatz. Ich schlüpfe in Kates Schuhe, streiche mein Kleid glatt und mache mich mit einem tiefen Atemzug auf den Weg ins Wohnzimmer.
Von Christian ist weit und breit nichts zu sehen, und Mrs. Jones kramt in der Vorratskammer herum.
»Tee, Miss Steele?«, fragt sie.
»Bitte.« Ich lächle sie an. Nun, da ich angezogen bin, fühle ich mich gleich viel selbstbewusster.
»Möchten Sie auch etwas essen?«
»Nein, danke.«
»Natürlich isst du etwas«, höre ich Christian barsch hinter mir sagen. »Sie nimmt Pfannkuchen, Speck und Eier, Mrs. Jones.«
»Ja, Mr. Grey. Und was darf ich für Sie vorbereiten?«
»Ein Omelett, bitte, und etwas Obst.« Er sieht mich mit undurchdringlicher Miene an. »Setz dich«, befiehlt er und deutet auf einen der Barhocker.
Ich gehorche. Er nimmt neben mir Platz, während Mrs. Jones das Frühstück zubereitet. Meine Güte, wie unangenehm, ständig jemanden um sich zu haben, der unserer Unterhaltung lauscht.
»Hast du dein Ticket schon?«
»Nein, ich buche gleich, wenn ich nach Hause komme. Übers Internet.«
Er stützt den Kopf auf den Ellbogen und reibt sich das Kinn.
»Hast du überhaupt das Geld dafür?«
Verdammt.
»Ja«, antworte ich mit gespielter Geduld, als würde ich mit einem Kleinkind reden.
Er hebt drohend eine Braue.
Mist.
»Ja, habe ich, vielen Dank«, sage ich schnell.
»Ich habe einen Privatjet, den in den nächsten drei Tagen keiner braucht. Du kannst ihn haben.«
Ich starre ihn verdattert an. Natürlich hat er einen Privatjet. Ich habe alle Mühe, nicht die Augen zu verdrehen. Am liebsten würde ich in Gelächter ausbrechen. Doch ich verkneife es mir, weil ich nicht sicher bin, in welcher Stimmung er gerade ist.
»Ich finde, wir haben die Flotte deiner Firma schon mehr als genug missbraucht. Eigentlich will ich es nicht noch einmal tun.«
»Meine Firma, mein Jet«, gibt er fast gekränkt zurück.
Oh, Jungs und ihre Spielzeuge.
»Danke für das Angebot, aber ich würde lieber eine ganz normale Maschine nehmen.«
Einen Augenblick lang sieht es aus, als würde er widersprechen, aber dann scheint er sich eines Besseren zu besinnen.
»Wie du willst.« Er seufzt. »Musst du noch viel für das Vorstellungsgespräch vorbereiten?«
»Nein.«
»Gut. Und du willst mir immer noch nicht verraten, um welchen Verlag es sich handelt?«
»Nein.«
Ein zögerliches Lächeln spielt um seine Mundwinkel. »Ich bin ein vermögender Mann, Miss Steele.«
»Das ist mir voll und ganz bewusst, Mr. Grey. Werden Sie mein Telefon überwachen?«, frage ich unschuldig.
»Ehrlich gesagt, habe ich heute Nachmittag einiges zu tun, deshalb werde ich es wohl an jemand anderen delegieren müssen.« Er grinst breit.
Scherzt er?
»Wenn Sie ernsthaft jemanden dafür freistellen können, haben Sie offenbar zu viel Personal.«
»Ich werde eine Mail an unsere Personalleiterin schicken und sie bitten, die Belegschaftszahlen zu checken.« Seine Lippen zucken.
Gott sei Dank. Er hat seinen Humor wiedergefunden.
Mrs. Jones serviert uns das Frühstück. Wir essen schweigend. Nachdem sie abgeräumt hat, zieht sie sich taktvoll ins Wohnzimmer zurück. Ich sehe ihn an.
»Was ist los, Anastasia?«
»Du hast mir immer noch nicht erzählt, weshalb du dich nicht gern anfassen lässt.«
Er wird blass.
Augenblicklich überkommt mich ein schlechtes Gewissen.
»Ich habe dir mehr erzählt als irgendjemandem sonst.« Seine Stimme ist ganz leise, seine Miene ausdruckslos.
Also hat er sich noch nie jemandem anvertraut. Hat er keine engen Freunde? Vielleicht hat er ja Mrs. Robinson eingeweiht. Eigentlich würde ich ihn gern fragen, aber das geht nicht – das wäre zu indiskret. Ich schüttle den Kopf. Dieser Mann ist tatsächlich eine Insel.
»Wirst du über unser Arrangement nachdenken, während du weg bist?«
»Ja.«
»Wirst du mich vermissen?«
Erstaunt sehe ich ihn an.
»Ja«, antworte ich wahrheitsgetreu.
Wie ist es möglich, dass er mir in so kurzer Zeit so sehr ans Herz gewachsen ist? Er ist ein Teil von mir geworden … im wahrsten Sinne des Wortes. Er lächelt, seine Augen leuchten.
»Ich werde dich auch vermissen. Mehr als dir bewusst ist.« Mir wird warm ums Herz. Er gibt sich wirklich alle Mühe. Zärtlich streichelt er meine Wange, beugt sich vor und küsst mich sanft.
Es ist später Nachmittag. Nervös sitze ich in der Lobby von Seattle Independent Publishing und warte auf Mr. J. Hyde. Es ist mein zweites Vorstellungsgespräch an diesem Tag und das, vor dem ich mich am meisten fürchte. Mein erstes Gespräch lief ziemlich gut, allerdings wäre ich dort nur eine von vielen Lektoratsassistentinnen in einer größeren Verlagsgruppe mit mehreren Büros in verschiedenen Städten. Ich habe die Befürchtung, in einem Konzern dieser Größe unterzugehen. Ein Verlag wie SIP wäre hingegen viel eher mein Ding – klein, unkonventionell, auf hiesige Autoren spezialisiert und mit einer außergewöhnlichen Leserschaft.
Die Lobby ist recht spärlich möbliert, was jedoch eher ein Design-Statement zu sein scheint als der Beweis für bewusste Sparsamkeit bei der Büroausstattung. Ich sitze auf einem von zwei dunkelgrünen Ledersofas, die Ähnlichkeit mit dem in Christians Spielzimmer haben. Bewundernd streiche ich über das Leder und frage mich, was er auf so einer Couch so alles treiben könnte. Meine Gedanken schweifen ab. Nein. Schluss jetzt. Mir steigt die Schamesröte ins Gesicht.
Die Empfangsdame ist eine junge Afroamerikanerin mit großen Ohrringen und langem, geglättetem Haar. Sie trägt ein fließend geschnittenes Kleid im Boho-Stil und ist genau der Typ Frau, den ich mir ohne Weiteres als Freundin vorstellen könnte. Ein tröstlicher Gedanke. Alle paar Minuten sieht sie von ihrem Computerbildschirm auf und lächelt mich aufmunternd an. Zögernd erwidere ich ihr Lächeln.
Inzwischen ist mein Flug gebucht, meine Mutter ist völlig aus dem Häuschen vor Freude über den bevorstehenden Besuch, meine Sachen sind fertig gepackt, und Kate hat versprochen, mich später zum Flughafen zu bringen. Christian hat mir befohlen, meinen BlackBerry und den Laptop mitzunehmen. Ich verdrehe die Augen, als ich daran denke, wie er mich herumkommandiert hat, aber so ist er nun mal. Er braucht die Gewissheit, alles unter Kontrolle zu haben, mich eingeschlossen. Und gleichzeitig kann er spontan und entwaffnend charmant sein. Beispielsweise hat er es sich nicht nehmen lassen, mich in die Garage zu begleiten. Lieber Himmel, ich fliege doch nur für ein paar Tage zu meiner Mutter, und er tut so, als wäre ich wochenlang weg. Ich weiß einfach nie, woran ich mit ihm bin.
»Ana Steele?« Eine Frau mit einer schwarzen Mähne und demselben lässigen Look wie die Empfangsdame reißt mich aus meinen Grübeleien. Ich schätze sie auf Ende dreißig, vielleicht auch Anfang vierzig.
»Ja.« Verlegen stehe ich auf.
Sie sieht mich aus ihren kühlen, haselnussbraunen Augen an und lächelt höflich. Ich trage eines von Kates Kleidern, ein schwarzes Trägerkleid mit einer weißen Bluse, und meine schwarzen Pumps dazu. Genau das Richtige für ein Vorstellungsgespräch, finde ich. Mein Haar habe ich zu einem strengen Knoten frisiert, aus dem sich ausnahmsweise keine widerspenstigen Strähnen lösen. Sie streckt mir die Hand entgegen.
»Hallo Ana, ich bin Elizabeth Morgan, die Leiterin der Personalabteilung.«
»Wie geht’s?« Ich schüttle ihr die Hand. Für eine Personalchefin wirkt sie ziemlich locker.
»Bitte, kommen Sie doch mit.«
Wir treten durch eine Doppeltür hinter dem Empfangstresen in ein hell möbliertes Großraumbüro. Sie führt mich in einen kleinen, hellgrün gestrichenen Konferenzraum mit Fotos von den Covern der veröffentlichten Bücher an den Wänden. Am Kopfende des Konferenztisches aus Walnussholz sitzt ein rothaariger, junger Mann mit einem Pferdeschwanz und kleinen silbernen Ohrringen. Er trägt ein hellblaues Hemd ohne Krawatte und eine hellgraue Freizeithose. Als ich auf ihn zukomme, erhebt er sich und sieht mich aus dunkelblauen Augen an.
»Ana Steele. Ich bin Jack Hyde, Cheflektor bei SIP. Freut mich sehr, Sie kennen zu lernen.«
Wir schütteln einander die Hand. Der Ausdruck in seinen Augen ist schwer zu deuten, aber durchaus wohlwollend, soweit ich erkennen kann.
»Hatten Sie einen weiten Weg hierher?«, erkundigt er sich freundlich.
»Nein, ich bin vor ein paar Tagen in ein Apartment am Pike Place Market gezogen.«
»Das ist ja direkt um die Ecke. Bitte, setzen Sie sich doch.«
Ich nehme Platz. Elizabeth setzt sich auf einen Stuhl neben ihm.
»Weshalb möchten Sie ein Praktikum bei SIP machen, Ana?«, fragt er.
Er spricht meinen Namen ganz sanft und mit schief gelegtem Kopf aus – in derselben Art wie ein anderer Mann, den ich kenne. Ich schiebe den absurden Argwohn, den diese Geste in mir auslöst, beiseite und gebe meine sorgsam geprobte Antwort zum Besten. Eine rosige Wärme breitet sich auf meinen Wangen aus, als ich meine Gesprächspartner abwechselnd ansehe. Eines der Prinzipien aus Katherine Kavanaghs Vortrag »Wie führe ich ein erfolgreiches Vorstellungsgespräch« kommt mir wieder in den Sinn: Immer schön Blickkontakt halten, Ana! Lieber Himmel, auch Kate ist Expertin darin, andere herumzukommandieren. Jack und Elizabeth hören mir aufmerksam zu.
»Ihr Notendurchschnitt ist ja ziemlich beeindruckend, Ana. Welchen extracurricularen Aktivitäten haben Sie denn während des Studiums gefrönt?«
Extracurriculare Aktivitäten? Gefrönt? Ich sehe ihn verblüfft an. Was für eine merkwürdige Wortwahl. Ich erzähle von meiner Tätigkeit in der Uni-Bibliothek und der einmaligen Erfahrung, einen obszön wohlhabenden Despoten für die Studentenzeitung zu interviewen, wobei ich die Tatsache, dass ich den Artikel anschließend nicht selbst verfasst habe, geflissentlich unter den Tisch fallen lasse. Dann schildere ich meine Tätigkeit für die beiden Literaturclubs, denen ich angehört habe, und erzähle von meinem Job bei Clayton’s und den dort erworbenen völlig nutzlosen Kenntnissen über Eisenwaren und alles andere, was der Heimwerker so wissen muss. Sie lachen beide – genau die Reaktion, die ich erhofft habe. Allmählich entspanne ich mich.
Jack Hyde stellt mir eine Reihe forscher, intelligenter Fragen, von denen ich mich allerdings nicht aus dem Konzept bringen lasse. Und auch als die Rede auf meine Lieblingsautoren und -bücher kommt, schlage ich mich recht wacker. Jack scheint sich ausschließlich mit der amerikanischen Literatur nach 1950 zu beschäftigen; keine Klassiker – nicht einmal Henry James, Upton Sinclair oder F. Scott Fitzgerald. Elizabeth sagt gar nichts, sondern macht sich lediglich Notizen und nickt ab und zu. Jack ist zwar ein streitlustiger, aber durchaus charmanter Gesprächspartner, und ich ertappe mich dabei, dass mein anfänglicher Argwohn mit jeder Minute abnimmt.
»Und wo sehen Sie sich in fünf Jahren?«, erkundigt er sich.
An Christian Greys Seite, schießt es mir unwillkürlich durch den Kopf. Ich runzle die Stirn.
»Als Lektorin, vielleicht? Oder als Literaturagentin. Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Ich bin für alles offen.«
Er grinst. »Sehr gut, Ana. Ich habe für den Augenblick keine weiteren Fragen. Sie?«
»Wann könnte ich anfangen?«
»So schnell wie möglich«, schaltet sich Elizabeth ein. »Wann ginge es bei Ihnen?«
»Ab nächste Woche.«
»Gut zu wissen«, sagt Jack.
»Wenn das alles ist« – Elizabeth sieht zwischen Jack und mir hin und her –, »würde ich sagen, wir machen Schluss für heute.« Sie lächelt.
»Es war mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen, Ana«, sagt Jack leise, nimmt meine Hand und drückt sie kaum merklich.
Ich sehe auf.
Ein leises Unbehagen beschleicht mich, als ich zum Wagen gehe, auch wenn ich nicht sagen kann, weshalb. Ich habe das Gefühl, als wäre das Gespräch ganz gut gelaufen, aber das ist schwer zu sagen. Vorstellungsgespräche haben immer etwas Gekünsteltes – jeder zeigt sich von seiner Schokoladenseite und bemüht sich verzweifelt, sein wahres Ich hinter einer Fassade der Professionalität zu verbergen. Hat ihnen meine Nase gefallen? Ich beschließe, einfach abzuwarten, was passiert.
Ich steige in meinen Audi und fahre nach Hause. Ich bin auf dem Nachtflug mit einem Zwischenstopp in Atlanta gebucht, aber meine Maschine geht erst um 22:25 Uhr, deshalb habe ich mehr als genug Zeit.
Kate ist gerade dabei, weitere Kartons auszupacken, als ich nach Hause komme.
»Und? Wie ist es gelaufen?«, fragt sie aufgeregt. Kate ist der einzige Mensch auf der Welt, der auch in einem ausgeleierten T-Shirt und zerschlissenen Jeans noch umwerfend aussieht.
»Gut. Danke, Kate. Allerdings bin ich nicht sicher, ob mein Outfit so ganz das Richtige war.«
»Wirklich?«
»Boho-Chic hätte voll und ganz ausgereicht.«
Kate hebt eine Braue. »Du und Boho-Chic.« Sie legt den Kopf schief – aaaah! Wieso zum Teufel erinnert mich jeder an Christian Grey? »Rein zufällig gehörst du zu den wenigen, die diesen Look wirklich tragen können.«
Ich grinse. »Der zweite Verlag war wirklich toll. Ich glaube, dort könnte ich gut reinpassen. Der Typ, der das Gespräch geführt hat, war zwar ein bisschen nervig, aber …« Ich verstumme. Mist – ich rede hier mit Kate Kavanagh, der Erfinderin des Klatsch-Rundrufs. Halt die Klappe, Ana!
»Ach so?« Kates Radar für pikante Details ist bereits auf Empfang – Details, die meist in den peinlichsten, ungünstigsten Momenten wieder ans Tageslicht kommen. Apropos peinlich.
»Könntest du endlich damit aufhören, Christian zuzusetzen? Die Bemerkung über José gestern Abend war absolut unmöglich. Du weißt genau, wie eifersüchtig Christian ist. Du tust niemandem einen Gefallen damit, das ist dir hoffentlich klar.«
»Wäre er nicht Elliots Bruder, hätte ich noch ganz andere Sachen gesagt. Der Typ ist ein Kontrollfreak. Keine Ahnung, wie du das aushältst. Ich habe doch bloß versucht, ihn ein bisschen eifersüchtig zu machen und ihm zu helfen, seine Bindungsphobie zu überwinden.« Sie hebt resigniert die Hände. »Aber wenn du nicht willst, dass ich mich einmische, lasse ich es natürlich bleiben«, fügt sie hastig hinzu, als sie meinen finsteren Blick sieht.
»Gut. Das Leben mit Christian ist schon kompliziert genug, das kann ich dir versichern.«
Meine Güte, jetzt klinge ich schon so wie er.
»Ana.« Sie hält inne. »Ist auch wirklich alles in Ordnung? Oder ist dieser Besuch bei deiner Mutter in Wahrheit eine Art Flucht?«
Ich laufe rot an. »Nein, Kate, ist es nicht. Du bist doch diejenige, die gesagt hat, ich bräuchte dringend ein bisschen Abstand.«
Sie tritt vor mich und nimmt meine Hände – eine höchst ungewöhnliche Geste für Kate. O nein … jetzt bloß nicht weinen.
»Du bist nur irgendwie … keine Ahnung … anders als sonst. Ich will doch nur, dass es dir gut geht, das ist alles. Und welche Probleme du auch immer mit deinem Mr. Geldsack haben magst – du kannst jederzeit zu mir kommen. Ich werde ihn auch nicht mehr auf die Palme bringen, obwohl das ziemlich schwierig werden wird, weil er wegen jeder Kleinigkeit die Wände hochgeht. Sollte irgendetwas nicht in Ordnung sein, Ana, dann sag es mir. Ich werde dir bestimmt keinen Strick daraus drehen, sondern versuchen, es zu verstehen.«
Ich blinzele gegen die Tränen an. »Oh, Kate.« Ich umarme sie. »Ich glaube, ich habe mich ernsthaft in ihn verliebt.«
»Das sieht jeder Blinde, Ana. Und er ist in dich verliebt. Der Typ ist völlig verrückt nach dir.«
Ich lache unsicher. »Glaubst du?«
»Hat er dir das denn nicht längst gesagt?«
»Nicht mit so vielen Worten.«
»Hast du es ihm gesagt?«
»Auch nicht mit so vielen Worten.« Ich zucke mit den Schultern.
»Ana! Einer muss den ersten Schritt machen, sonst verläuft sich das Ganze.«
Wie bitte … ich soll ihm sagen, wie ich für ihn empfinde?
»Ich habe Angst, ihn zu vergraulen.«
»Und woher willst du wissen, dass es ihm nicht ebenfalls so geht?«
»Christian? Angst? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er vor irgendetwas Angst hat.« In diesem Moment sehe ich ihn als kleinen Jungen vor mir. Vielleicht war Angst das Einzige, was er damals kannte. Bei dem Gedanken blutet mir das Herz.
Kate mustert mich mit geschürzten Lippen und zusammengekniffenen Augen, wie mein Unterbewusstsein es immer tut – fehlt nur noch die Lesebrille.
»Ihr müsst euch hinsetzen und über alles reden.«
»Geredet haben wir in letzter Zeit nicht allzu viel«, räume ich errötend ein. Stattdessen haben wir eher auf nonverbale Kommunikation gesetzt. Was okay war. Mehr als okay sogar.
Sie grinst. »Hauptsache, der Sex ist gut. Wenn es im Bett funktioniert, ist das schon die halbe Miete. Ich werde jetzt etwas vom Chinesen holen. Hast du deine Sachen schon gepackt?«
»Ja. Wir haben noch zwei Stunden, bis wir los müssen.«
»Nein, ich hole dich in zwanzig Minuten ab.« Sie schnappt sich ihre Jacke und stürmt hinaus, ohne die Tür hinter sich zuzumachen. Ich schließe sie und gehe in mein Zimmer. Mir gehen immer noch ihre Worte im Kopf herum.
Hat Christian Angst vor seinen Gefühlen für mich? Hegt er überhaupt Gefühle für mich? Er legt sich ziemlich ins Zeug und sagt ständig, ich würde nur ihm gehören – aber das hängt wohl eher mit seinem Wunsch zusammen, jeden um sich herum zu dominieren und zu kontrollieren. Tja, mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als all unsere Gespräche noch einmal Revue passieren zu lassen und sie auf verräterische Hinweise zu überprüfen, solange ich weg bin.
Ich werde dich auch vermissen … mehr als dir bewusst ist …
Du hast mich vollkommen verzaubert …
Ich schüttle den Kopf. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken. Ich musste den Akku meines BlackBerrys laden, deshalb hatte ich ihn den ganzen Nachmittag über nicht dabei. Vorsichtig checke ich das Display und stelle enttäuscht fest, dass keine Nachrichten eingegangen sind. Ich fahre den Laptop hoch, doch ich habe auch keine Mails bekommen. Ist doch logisch, die Mailadresse ist ein und dieselbe, Ana – mein Unterbewusstsein verdreht die Augen. Zum ersten Mal kann ich nachvollziehen, wieso Christian der Wunsch überkommt, mich übers Knie zu legen, wenn ich in seiner Gegenwart die Augen verdrehe.
Okay. Dann schreibe ich ihm eben eine Mail.
Von: Anastasia Steele
Betreff: Vorstellungsgespräche
Datum: 30. Mai 2011, 18:49 Uhr
An: Christian Grey
Sehr geehrter Mr. Grey,
meine Vorstellungsgespräche heute liefen sehr gut.
Ich dachte, das interessiert Sie vielleicht.
Wie war Ihr Tag?
Ana
Ich starre auf den Bildschirm. Normalerweise antwortet Christian innerhalb von Sekunden. Ich warte … und warte. Endlich höre ich das vertraute Ping.
Von: Christian Grey
Betreff: Mein Tag
Datum: 30. Mai 2011, 19:03 Uhr
An: Anastasia Steele
Sehr geehrte Miss Steele,
alles, was Sie tun, interessiert mich. Sie sind die faszinierendste Frau, die ich kenne.
Freut mich, dass die Gespräche gut gelaufen sind.
Mein Morgen hat all meine Erwartungen übertroffen.
Mein Nachmittag war im Vergleich dazu sterbenslangweilig.
CHRISTIAN GREY
CEO, Grey Enterprises Holdings, Inc.
Von: Anastasia Steele
Betreff: Schöner Morgen
Datum: 30. Mai 2011, 19:05 Uhr
An: Christian Grey
Sehr geehrter Mr. Grey,
der Morgen war auch für mich schön – trotz Ihres Grauls, mit dem Sie mich nach unserem untadeligen Schreibtischsex vertrieben haben. Bilden Sie sich bloß nicht ein, ich hätte es nicht gemerkt.
Danke übrigens noch für das Frühstück. Beziehungsweise danke an Mrs. Jones.
Ich hätte da eine Frage zu Mrs. Jones – will aber nicht riskieren, schon wieder Ihren Graul zu erregen.
Ana
Mein Finger verharrt über der »Senden«-Taste. Das Einzige, was mich in diesem Moment beruhigt, ist die Gewissheit, dass ich morgen um diese Uhrzeit am anderen Ende des Kontinents sein werde.
Von: Christian Grey
Betreff: Sie und eine Verlagskarriere?
Datum: 30. Mai 2011, 19:10 Uhr
An: Anastasia Steele
Anastasia,
»Graul« ist kein Substantiv und sollte folglich nicht von jemandem in den Mund genommen werden, der eine Karriere in der Verlagsbranche anstrebt. Untadelig? Im Vergleich wozu, bitte? Welche Frage haben Sie denn zu Mrs. Jones? Ich bin neugierig.
CHRISTIAN GREY
CEO, Grey Enterprises Holdings, Inc.
Von: Anastasia Steele
Betreff: Sie und Mrs. Jones
Datum: 30. Mai 2011, 19:17 Uhr
An: Christian Grey
Sehr geehrter Mr. Grey,
Sprache verändert und entwickelt sich ständig weiter. Sie ist organisch und sitzt nicht in einem Elfenbeinturm voll teurer Kunstgegenstände, mit einem Helikopterlandeplatz auf dem Dach und einem Ausblick über die Skyline von Seattle.
Untadelig – im Vergleich zu den restlichen Malen, als wir – wie lautete Ihre Bezeichnung nochmal? – gefickt haben. Meiner bescheidenen Meinung nach war das Ficken ziemlich untadelig, andererseits verfüge ich, wie Sie ja wissen, lediglich über einen beschränkten Erfahrungsschatz.
Ist Mrs. Jones eine Exsub von Ihnen?
Ana
Wieder schwebt mein Finger über der Taste. Ich drücke sie.
Von: Christian Grey
Betreff: Vorsicht! Wortwahl!
Datum: 30. Mai 2011, 19:22 Uhr
An: Anastasia Steele
Anastasia,
Mrs. Jones ist eine Mitarbeiterin, die ich zwar sehr schätze, zu der ich jedoch nie eine Beziehung gepflegt habe, die über unser Arbeitsverhältnis hinausging. Ich stelle niemanden an, mit dem ich sexuell verkehre. Es schockiert mich, dass Sie mir so etwas zutrauen. Die Einzige, bei der ich eine Ausnahme machen würde, sind Sie – weil Sie eine sehr kluge junge Frau mit bemerkenswertem Verhandlungsgeschick sind. Wenn Sie sich aber weiterhin derartige verbale Ausfälle leisten, werde ich diese Möglichkeit vielleicht noch einmal überdenken müssen. Ich bin froh, dass Ihr Erfahrungsschatz beschränkt ist, und so wird es auch bleiben – beschränkt auf mich. Ich werte den Begriff »untadelig« als Kompliment – auch wenn ich mir bei Ihnen nie sicher bin, ob Sie meinen, was Sie sagen, oder ob, wie so oft, Ihre Ironie mit Ihnen durchgeht.
CHRISTIAN GREY
CEO, Grey Enterprises Holdings, Inc.
(aus seinem Elfenbeinturm)
Von: Anastasia Steele
Betreff: Nicht für alle Reichtümer dieser Erde
Datum: 30. Mai 2011, 19:27 Uhr
An: Christian Grey
Sehr geehrter Mr. Grey,
ich glaube, ich habe meine Vorbehalte gegenüber einer Tätigkeit in Ihrem Unternehmen bereits zum Ausdruck gebracht. Meine Meinung hierzu hat sich nicht geändert und wird sich auch in naher und ferner Zukunft nicht ändern. Ich muss Sie jetzt verlassen, weil Kate mit dem Essen gekommen ist. Mein Sinn für Ironie und ich wünschen Ihnen eine gute Nacht.
Ich melde mich, sobald ich in Georgia angekommen bin.
Ana
Von: Christian Grey
Betreff: Armut ist keine Schande, Reichtum auch nicht
Datum: 30. Mai 2011, 19:29 Uhr
An: Anastasia Steele
Gute Nacht, Anastasia.
Ich wünsche dir und deinem Sinn für Ironie einen guten Flug.
CHRISTIAN GREY,
CEO, Grey Enterprises Holdings, Inc.
Kate hält vor dem Abflugbereich des Flughafens Sea-Tac an, beugt sich über den Sitz und umarmt mich.
»Viel Spaß auf Barbados, Kate. Amüsier dich gut.«
»Wir sehen uns, wenn ich zurück bin. Lass dich nicht von alten Geldsäcken niedermachen.«
»Das werde ich nicht.«
Wir umarmen uns ein letztes Mal, dann bin ich allein. Ich stelle mich mit meinem Handgepäck in die Schlange am Check-in-Schalter – einen Koffer brauche ich nicht, nur den praktischen Rucksack mit Rollen, den Ray mir zum Geburtstag geschenkt hat.
»Ticket, bitte«, sagt der gelangweilte junge Mann und streckt die Hand aus, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
Ebenso gelangweilt reiche ich ihm mein Ticket und meinen Führerschein. Hoffentlich kann ich wenigstens einen Fensterplatz ergattern.
»Okay, Miss Steele. Sie sind in die Firstclass upgegradet worden.«
»Was?«
»Ma’am, wenn Sie in der Lounge der Firstclass warten möchten, bis Ihr Flug aufgerufen wird …« Plötzlich scheint er aus seiner Lethargie erwacht zu sein und strahlt mich an wie der Weihnachtsmann und der Osterhase in Personalunion.
»Hier muss ein Missverständnis vorliegen.«
»Nein, nein.« Er sieht auf seinen Bildschirm. »Anastasia Steele – Upgrade in die First.« Er lächelt affektiert.
Ich starre ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Er reicht mir mein Ticket, und ich mache mich leise schimpfend auf den Weg zur Lounge. Dieser elende Christian Grey, dieser verdammte Kontrollfreak, kann einfach keine Ruhe geben.