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ZWEI
Mein Herz klopft wie wild. Als der Lift im Erdgeschoss ankommt, haste ich stolpernd am Empfang vorbei, lande aber zum Glück nicht auf dem blitzblanken Sandsteinboden. Ich eile durch die breiten Glastüren, und kurz darauf hebe ich das Gesicht in den kühlen, erfrischenden Regen. Ich schließe die Augen und atme tief durch, um mich zu beruhigen.
Kein Mann hat je eine solche Wirkung auf mich ausgeübt wie Christian Grey, und ich begreife nicht, warum. Liegt es an seinem Aussehen? An seinen guten Manieren? Seinem Reichtum? Seiner Macht? Ich verstehe nicht, wie er mich so durcheinanderbringen konnte. Ich stoße einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, lehne mich an eine der Stahlsäulen des Gebäudes und bemühe mich tapfer, meine Gedanken zu sammeln.
Was um Himmels willen war das?
Erst als ich wieder in der Lage bin, normal zu atmen, gehe ich zum Wagen.
Auf dem Weg aus der Stadt lasse ich die Begegnung noch einmal gedanklich Revue passieren und komme mir allmählich albern vor. Bestimmt habe ich mir alles nur eingebildet. Gut, er ist sehr attraktiv, selbstbewusst und gelassen – aber auch arrogant und trotz seiner tadellosen Manieren selbstherrlich und kühl. Jedenfalls an der Oberfläche. Unwillkürlich bekomme ich eine Gänsehaut. Er mag arrogant sein, doch mit Recht – er hat in jungen Jahren viel erreicht, und Dummheit ist ihm ein Gräuel. Erneut ärgere ich mich darüber, dass Kate mir keinen kurzen Lebenslauf mitgegeben hat.
Während der Fahrt kreisen meine Gedanken weiterhin um Mr. Grey, und ich frage mich, was jemanden dazu bringen kann, so sehr auf Erfolg aus zu sein. Einige seiner Antworten waren hintergründig – als hätte er etwas zu verbergen. Und Kates Neugierde – puh! Die Sache mit der Adoption und die Frage, ob er schwul ist. Nicht zu fassen, dass ich die tatsächlich gestellt habe. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Daran werde ich mich bestimmt noch lange voller Scham erinnern. Verdammte Katherine Kavanagh!
Ein Blick auf den Tacho sagt mir, dass ich verhaltener fahre als sonst. Das hat mit den grauen Augen zu tun, die mich so eindringlich angesehen haben, und mit der Stimme, die mich so streng ermahnt hat, vorsichtig zu sein und nicht zu schnell zu fahren. Ich schüttle den Kopf. Christian Grey benimmt sich wie ein Mann, der doppelt so alt ist wie er.
Vergiss es, Ana, ermahne ich mich selbst. Ich komme zu dem Schluss, dass es alles in allem eine sehr interessante Erfahrung war, mit der ich mich nicht länger auseinandersetzen sollte. Hak das Kapitel ab. Zum Glück muss ich ihn nie wiedersehen. Ich schalte die Stereoanlage ein und drehe auf volle Lautstärke, lehne mich zurück und lausche wummerndem Indie-Rock, während ich das Gaspedal durchdrücke. Als ich die Interstate 5 erreiche, habe ich endlich wieder einen klaren Kopf, der mir nur eines sagt: Hey, ich kann so schnell fahren, wie ich will.
Kate und ich wohnen in einer kleinen Anlage mit zweistöckigen Apartments in der Nähe des Vancouver-Campus der Washington State. Ich kann mich glücklich schätzen – Kates Eltern haben ihr die Wohnung gekauft, und ich zahle so gut wie keine Miete, schon vier Jahre lang. Mir ist klar, dass ich Kate alles haarklein erzählen muss. Sie ist, wie Mr. Grey erwähnte, tatsächlich ziemlich beharrlich. Ich hoffe nur, dass ich ihrer für sie so typischen Inquisition auf irgendeine Art entkommen kann.
»Ana! Da bist du ja wieder.« Kate lernt im Wohnzimmer für die Abschlussprüfung. Sie trägt den pinkfarbenen Flanellpyjama mit den süßen Häschen, den sie nur anhat, wenn sie sich gerade von einem Freund getrennt hat, krank oder irgendwie niedergeschlagen ist. Sie springt auf und drückt mich.
»Ich hab mir schon Sorgen gemacht. Ich hatte dich früher zurückerwartet.«
»Angesichts dessen, dass das Interview länger gedauert hat, bin ich gut durchgekommen.« Ich halte den Rekorder hoch.
»Ana, ganz herzlichen Dank. Du hast was gut bei mir. Und wie war’s? Wie ist er?« Oje – und schon beginnt die Katherine-Kavanagh-Inquisition.
Ich versuche, eine angemessene Antwort zu finden. Was soll ich sagen?
»Ich bin froh, dass ich’s hinter mir habe und ihn nicht mehr sehen muss. Er war ziemlich einschüchternd.« Ich zucke mit den Achseln. »Er ist sehr selbstgefällig – und dabei so jung. Echt jung.«
Kate sieht mich mit unschuldigem Augenaufschlag an.
»Tu nicht so. Warum hast du mir keinen Lebenslauf mitgegeben? Ich bin mir wie der größte Idiot vorgekommen, weil ich absolut nichts über ihn wusste.«
Kate schlägt die Hand vor den Mund. »Oje, Ana, tut mir leid, das hab ich glatt vergessen.«
Ich schnaube verärgert. »Er war höflich, sachlich, ein bisschen steif und wirkt älter, als er ist. Wie alt ist er überhaupt?«
»Siebenundzwanzig. Ana, tut mir wirklich leid. Ich hätte dich vorbereiten sollen, aber ich war in Panik. Gib mir den Rekorder, dann schreibe ich das Interview ab.«
»Du siehst besser aus als heute Morgen. Hast du die Suppe gegessen?«, frage ich, um das Thema zu wechseln.
»Ja. Sie war köstlich wie immer. Und mir geht’s wirklich schon viel besser.« Sie dankt mir mit einem Lächeln.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr. »Ich muss zu Clayton’s.«
»Aber du bist doch sicher müde.«
»Kein Problem. Bis später.«
Ich arbeite bei Clayton’s, seit ich an der WSU studiere. Clayton’s ist der größte unabhängige Baumarkt in der Gegend von Portland, und in den vier Jahren dort habe ich mir, obwohl ich keinerlei Begabung fürs Heimwerken besitze – Reparaturarbeiten überlasse ich meinem Dad –, Wissen über fast alle unsere Artikel angeeignet.
Ich bin froh, dass ich in die Arbeit muss, weil mich das von Christian Grey ablenkt. Es ist viel zu tun – wie immer zu Beginn der Sommersaison, denn alle renovieren ihre Wohnungen. Mrs. Clayton wirkt erleichtert, als sie mich sieht.
»Ana! Ich hatte schon befürchtet, dass Sie es heute nicht schaffen.«
»Der Termin hat nicht so lange gedauert, wie ich dachte. Ich kann noch ein paar Stunden hier mithelfen.«
»Sehr schön.«
Sie schickt mich ins Lager, Regale auffüllen, eine Arbeit, die mich tatsächlich von allen anderen Gedanken ablenkt.
Als ich später nach Hause komme, tippt Katherine, mit roter Nase und Kopfhörer über den Ohren, auf ihren Laptop ein. Hundemüde von der langen Fahrt, dem aufreibenden Interview und der Schicht bei Clayton’s falle ich aufs Sofa und denke an meine Seminararbeit und das Lernpensum, das ich heute nicht bewältigen konnte, weil ich bei … ihm war.
»Supermaterial, Ana. Gut gemacht. Nicht zu fassen, dass du sein Angebot, dir alles zu zeigen, ausgeschlagen hast. Offenbar wollte er mehr Zeit mit dir verbringen.« Sie sieht mich fragend an.
Ich werde rot, und mein Puls beschleunigt sich. Das war bestimmt nicht der Grund! Er wollte mich herumführen, um mir seine Macht zu demonstrieren. Ich ertappe mich dabei, wie ich auf meiner Lippe kaue. Hoffentlich merkt Kate das nicht. Zum Glück scheint sie ganz in ihre Arbeit vertieft zu sein.
»Jetzt verstehe ich, was du mit sachlich gemeint hast. Hast du dir irgendwelche Notizen gemacht?«, erkundigt sie sich.
»Äh … nein.«
»Egal. Aus dem Material kann ich trotzdem einen Bombenartikel basteln. Schade, dass wir keine Fotos haben. Er ist attraktiv, oder?«
»Ich denke schon.« Ich bemühe mich, nicht allzu interessiert zu klingen, und habe das Gefühl, dass mir das gelingt.
»Ach, Ana – nicht mal du bist immun.« Sie hebt eine perfekt gezupfte Augenbraue.
Scheiße! Da meine Wangen rot werden, versuche ich, sie mit Schmeichelei abzulenken. Das ist immer eine gute Strategie.
»Du hättest wahrscheinlich viel mehr aus ihm herausgekitzelt.«
»Das bezweifle ich. Er hat dir doch praktisch ein Jobangebot gemacht. Angesichts der Tatsache, dass ich dir das Interview im allerletzten Moment aufgehalst habe, ist es absolut prima gelaufen.«
Hastig ziehe ich mich in die Küche zurück.
»Was hältst du denn wirklich von ihm?«
O Mann, kann sie nicht lockerlassen? Warum gibt sie keine Ruhe? Denk dir was aus – schnell.
»Er ist kontrollsüchtig, arrogant, unheimlich, aber sehr charismatisch. Ich kann verstehen, warum die Leute von ihm fasziniert sind«, füge ich wahrheitsgetreu hinzu, in der Hoffnung, dass sie endlich mit der Fragerei aufhört.
»Du, fasziniert von einem Mann? Das ist ja mal ganz was Neues«, spottet sie.
Ich hole die Zutaten für ein Sandwich aus dem Kühlschrank, so dass sie mein Gesicht nicht sehen kann.
»Warum wolltest du wissen, ob er schwul ist? Die Frage war mir schrecklich peinlich, und er war sauer.«
»Zu gesellschaftlichen Anlässen kommt er immer ohne Begleitung.«
»Es war eine scheißpeinliche Situation, und ich bin heilfroh, dass ich nie wieder etwas mit ihm zu tun haben werde.«
»Ana, so schlimm kann’s doch nicht gewesen sein. Ich finde, er klingt richtig angetan von dir.«
Angetan von mir? Kate, das ist absurd!
»Möchtest du ein Sandwich?«
»Ja, gern.«
An dem Abend reden wir Gott sei Dank nicht mehr über Christian Grey. Nach dem Essen setze ich mich mit Kate an den Tisch, und während sie an ihrem Artikel schreibt, wende ich mich meiner Seminararbeit über Thomas Hardys Tess von den d ’Urbervilles zu. Verdammt, die Frau hat am falschen Ort, zur falschen Zeit und im falschen Jahrhundert gelebt. Als ich fertig bin, ist es Mitternacht und Kate längst im Bett. Erschöpft schleppe ich mich in mein Zimmer, bin jedoch froh, dass ich an diesem Tag so viel geschafft habe.
Ich rolle mich in meinem Bett mit dem weißen Metallgestell zusammen, schlinge den Quilt meiner Mutter um meinen Körper und schlafe sofort ein, träume jedoch von düsteren Orten, weißen Böden und grauen Augen.
Den Rest der Woche lerne ich für die Prüfung und arbeite bei Clayton’s. Auch Kate hat viel zu tun. Sie stellt die letzte Ausgabe der Studentenzeitung zusammen, bevor sie sie der neuen Herausgeberin übergibt, und büffelt ebenfalls für die Abschlussprüfung. Am Mittwoch fühlt sie sich deutlich besser, und ich muss nicht länger den Anblick des pinkfarbenen Flanellpyjamas mit den Häschen ertragen.
Als ich mich bei meiner Mutter in Georgia melde, um mich zu erkundigen, wie es ihr geht, erzählt sie mir von ihrem neuesten Projekt, dem Kerzenziehen – Mom versucht sich ständig an neuen Geschäftsideen. Im Grunde langweilt sie sich und sie ist stets auf der Suche nach etwas, mit dem sie sich die Zeit vertreiben kann, aber leider besitzt sie die Konzentrationsfähigkeit eines Goldfischs. Nächste Woche hat sie sich garantiert schon dem nächsten Projekt zugewendet.Trotzdem mache ich mir ihretwegen Sorgen. Hoffentlich hat sie zur Finanzierung der Kerzensache nicht das Haus beliehen. Und hoffentlich hat Bob – ihr vierter, noch relativ neuer, jedoch älterer Ehemann – ein Auge auf sie, nicht so wie Ehemann Nummer drei.
»Wie läuft’s bei dir, Ana?«
Als ich zögere, sehe ich förmlich vor mir, wie Mom die Ohren spitzt.
»Gut, danke.«
»Ana? Hast du jemanden kennen gelernt?«
Wow – wie macht sie das? Die Erregung in ihrer Stimme ist fast mit Händen zu greifen.
»Nein, Mom. Du wärst die Erste, die’s erfahren würde.«
»Ana, Schätzchen, du musst mehr ausgehen. Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Mom, bei mir ist wirklich alles in Ordnung. Wie geht’s Bob?« Ablenkung ist wie immer die beste Strategie.
Später am Abend rufe ich Ray, meinen Stiefvater, an, Moms Ehemann Nummer zwei, den ich als meinen Vater erachte und dessen Namen ich trage. Das Gespräch dauert nicht lange. Letztlich handelt es sich weniger um ein Gespräch als um eine Reihe von Grunzern seinerseits auf vorsichtige Fragen meinerseits. Ray ist grundsätzlich maulfaul. Er schaut gern Fußball im Fernsehen, geht Kegeln oder Fliegenfischen und schreinert Möbel, worin er sehr geschickt ist. Von ihm wusste ich schon vor Clayton’s, was ein Fuchsschwanz ist. Bei ihm scheint alles in bester Ordnung zu sein.
Am Freitag, gerade als Kate und ich darüber diskutieren, was wir mit dem Rest des Abends anfangen sollen, klingelt es an der Tür. Es ist José mit einer Flasche Champagner.
»José! Schön, dich zu sehen!« Ich umarme ihn zur Begrüßung. »Komm rein.«
José war der Erste, den ich an der Washington State kennen lernte; er irrte genauso einsam und verloren herum wie ich. Wir erkannten einander sofort als Seelenverwandte und sind seitdem befreundet. Wir lachen nicht nur über dieselben Dinge, sondern haben außerdem festgestellt, dass Ray und José Senior in derselben Einheit der Armee waren. Deshalb sind unsere Väter ebenfalls gute Freunde geworden.
José, ein kluger Kopf, studiert Maschinenbau und ist bisher der Einzige in seiner Familie, der es auf die Uni geschafft hat. Seine wahre Leidenschaft gilt jedoch der Fotografie. Er hat den richtigen Blick dafür.
»Ich habe Neuigkeiten.« Er grinst, seine dunklen Augen funkeln.
»Lass mich raten – du hast’s geschafft, wieder eine Woche nicht rausgeschmissen zu werden«, necke ich ihn.
Er reagiert gespielt schockiert. »Nächsten Monat werden meine Fotos in der Portland Place Gallery ausgestellt.«
»Toll – Gratuliere!« In meiner Freude umarme ich ihn ein zweites Mal.
Kate strahlt. »Super, José! Das muss in die Zeitung. Es geht doch nichts über neue Artikel in allerletzter Minute.« Sie tut so, als wäre sie ihm böse.
»Lasst uns feiern. Du musst zur Ausstellungseröffnung kommen.« José sieht mir tief in die Augen. »Ihr seid natürlich beide eingeladen«, fügt er mit einem unsicheren Blick in Richtung Kate hinzu.
José und ich sind gute Freunde, doch ich ahne, dass er mehr möchte. Er ist witzig und irgendwie süß, aber nicht der Richtige für mich. Ich sehe in ihm eher den Bruder, den ich nie hatte. Kate zieht mich oft auf, dass mir das Ich-brauche-unbedingteinen-Freund-Gen fehlt, doch in Wahrheit ist mir einfach noch keiner begegnet, bei dem ich weiche Knie und Schmetterlinge im Bauch kriege.
Manchmal frage ich mich, ob mit mir etwas nicht stimmt. Vielleicht verbringe ich zu viel Zeit mit den romantischen Helden in meinen Büchern und stecke meine Erwartungen zu hoch.
Bis vor Kurzem, flüstert die Stimme meines Unterbewusstseins. NEIN! Sofort schiebe ich den Gedanken beiseite. Nach dem katastrophalen Interview will ich mich damit nicht mehr befassen. Sind Sie schwul, Mr. Grey? Bei der Erinnerung daran verziehe ich das Gesicht. Mir ist bewusst, dass ich seit der Begegnung mit ihm fast jede Nacht von ihm geträumt habe – vermutlich, um diese schreckliche Erfahrung zu bewältigen.
José öffnet die Flasche Champagner. Er ist groß, und unter seiner Jeans und dem T-Shirt zeichnen sich seine Muskeln und breite Schultern ab. Er hat sonnengebräunte Haut, dunkle Haare und Glutaugen. Ja, José ist ziemlich heiß. Vielleicht begreift er ja allmählich, dass wir nur Freunde sind. Der Korken knallt, und José strahlt übers ganze Gesicht.
Der Samstag im Baumarkt ist der Horror. Er wird von Heimwerkern gestürmt, die ihre Häuser auf Vordermann bringen wollen. Mr. und Mrs. Clayton, John und Patrick – die beiden anderen Teilzeitkräfte – und ich werden von Kunden belagert. Als es mittags etwas ruhiger wird, bittet Mrs. Clayton mich, die Bestellungen zu überprüfen, also verschwinde ich hinter die Ladentheke neben der Kasse. Während ich die Katalognummern mit den Produkten, die wir bestellt haben oder brauchen, vergleiche, gönne ich mir einen Bagel. Mein Blick huscht zwischen dem Bestellbuch und dem Bildschirm des Computers hin und her. Irgendwann hebe ich den Kopf … und sehe in die grauen Augen von Christian Grey, der mich beobachtet.
Vor Schreck bleibt mir fast das Herz stehen.
»Miss Steele, was für eine angenehme Überraschung.«
Was zum Teufel macht der denn hier? Mit seinen zerzausten Haaren, dem cremefarbenen Pullover, der Jeans und den bequemen Schuhen wirkt er, als wollte er Wandern gehen.
Ich starre ihn mit offenem Mund an, kann keinen einzigen vernünftigen Gedanken fassen.
»Mr. Grey«, presse ich schließlich hervor.
Ein Lächeln spielt um seine Lippen, und seine Augen funkeln belustigt. »Ich war gerade in der Gegend«, erklärt er. »Ich brauche ein paar Dinge. Freut mich, Sie wiederzusehen, Miss Steele.« Seine Stimme klingt warm und verführerisch wie dunkler Schokoladenkaramell.
Mein Herz schlägt rasend schnell, und unter seinem durchdringenden Blick werde ich wieder einmal tiefrot. Er bringt mich völlig aus der Fassung. Das Bild, das ich von ihm hatte, wurde ihm nicht gerecht. Er ist nicht nur attraktiv, sondern der Inbegriff männlicher Schönheit, und er steht hier vor mir. In Clayton’s Baumarkt. Wie das?
»Ana«, murmle ich. »Mein Name ist Ana. Womit kann ich Ihnen dienen, Mr. Grey?«
Er lächelt amüsiert. Das verunsichert mich. Ich hole tief Luft und setze meine Profimiene auf, die sagt: Ich arbeite seit Jahren in diesem Laden. Ich bin kompetent.
»Ich brauche einige Dinge, zum Beispiel Kabelbinder.«
Kabelbinder?
»Wir führen unterschiedliche Längen. Darf ich sie Ihnen zeigen?«, frage ich mit zitternder Stimme. Reiß dich zusammen, Steele.
Grey runzelt die Stirn. »Gern, Miss Steele.«
Während ich hinter der Theke hervortrete, versuche ich, den Anschein von Lässigkeit zu erwecken, obwohl ich mich mächtig darauf konzentrieren muss, nicht über die eigenen Füße zu stolpern – plötzlich sind meine Beine wacklig. Zum Glück trage ich meine beste Jeans.
»Gang acht, bei den Elektroartikeln«, verkünde ich ein wenig zu fröhlich. Ich sehe Grey an und bedaure es sofort. Gott, ist der Mann schön!
»Nach Ihnen.« Er signalisiert mir mit seiner langfingrigen, manikürten Hand, dass er mir den Vortritt lässt.
Was macht er in Portland? Warum ist er hier bei Clayton’s? Aus einem kleinen, selten benutzten Teil meines Gehirns – wahrscheinlich irgendwo am unteren Ende der Medulla oblangata, ganz in der Nähe meines Unterbewusstseins – steigt der Gedanke hoch: Er ist da, um dich zu sehen. Vergiss es! Warum sollte dieser attraktive, mächtige, weltläufige Mann mich sehen wollen? Absurd!
»Sind Sie geschäftlich in Portland?«, frage ich. Meine Stimme klingt zu hoch, als hätte ich mir den Finger in der Tür eingeklemmt. Versuch, cool zu sein, Ana!
»Ich habe gerade die landwirtschaftliche Abteilung der Washington State in Vancouver besucht, weil ich deren Forschungsarbeit über Bodenbeschaffenheit und wechselnde Bewirtschaftung von Feldern finanziell unterstütze«, erklärt er sachlich.
Siehst du? Er ist nicht deinetwegen da, spottet mein Unterbewusstsein, ziemlich laut und schadenfroh.
»Gehört das auch zu Ihrem Welternährungsprogramm?«, erkundige ich mich.
»So ähnlich.« Seine Lippen verziehen sich zu einem leichten Lächeln.
Er betrachtet die Auswahl an Kabelbindern, die Clayton’s zu bieten hat. Was will er bloß mit denen? Ich kann ihn mir nicht als Heimwerker vorstellen. Seine Finger gleiten über die Packungen, er bückt sich und wählt eine aus.
»Die da«, sagt er.
»Brauchen Sie sonst noch etwas?«
»Ja, Kreppband.«
Kreppband?
»Wollen Sie malern?«, platze ich heraus. Bestimmt erledigen das Handwerker für ihn.
»Nein, das will ich nicht«, antwortet er mit einem süffisanten Grinsen.
Ich habe das bittere Gefühl, dass er sich über mich lustig macht. Findet er mich komisch? Oder sehe ich irgendwie merkwürdig aus?
»Hier entlang«, nuschle ich verlegen. »Das Kreppband ist bei den Malersachen.«
»Arbeiten Sie schon lange hier?«, will er wissen.
Wieder werde ich rot. Warum, verdammt, übt er eine solche Wirkung auf mich aus? Ich komme mir wie eine Vierzehnjährige vor – linkisch wie immer und fehl am Platz. Augen geradeaus, Steele!
»Seit vier Jahren«, murmle ich, als wir unser Ziel erreichen und ich zwei Rollen mit unterschiedlich breitem Kreppband aus dem Regal hole.
»Das da«, sagt Grey und deutet auf das breitere.
Ich reiche es ihm. Dabei berühren sich unsere Finger kurz – wieder dieses Knistern. Ich schnappe nach Luft, als ich spüre, wie sich alles in meinem Bauch zusammenzieht. Verzweifelt versuche ich, meine Fassung wiederzuerlangen.
»Darf es sonst noch etwas sein?«, hauche ich.
Seine Pupillen weiten sich ein wenig. »Ein Seil, denke ich.« Seine Stimme klingt genauso kehlig wie meine.
»Hier entlang.« Ich gehe mit gesenktem Kopf voran. »Was genau haben Sie sich vorgestellt? Wir haben Seile aus synthetischen und aus natürlichen Fasern … Taue … Kordeln …« Ich verstumme, als ich merke, wie seine Augen dunkler werden. Hilfe!
»Fünf Meter von dem Naturfaserseil, bitte.«
Mit zitternden Fingern messe ich fünf Meter ab. Dabei wage ich nicht, ihn anzusehen. Herrgott, sehr viel nervöser könnte ich nicht sein. Ich ziehe mein Teppichmesser aus der Gesäßtasche meiner Jeans, schneide das Seil ab, rolle es auf und verschlinge es zu einem Schlippstek. Wie durch ein Wunder gelingt es mir, mir dabei nicht in den Finger zu schneiden.
»Waren Sie mal bei den Pfadfindern?«, fragt er, die sinnlichen Lippen belustigt verzogen.
Schau nicht auf seinen Mund!
»Organisierte Gruppenaktivitäten sind nicht so mein Ding, Mr. Grey.«
Er hebt eine Augenbraue. »Was ist denn dann Ihr Ding, Anastasia?« Wieder dieses geheimnisvolle Lächeln.
Ich sehe ihn mit großen Augen an, unfähig, etwas Vernünftiges zu antworten. Ich habe das Gefühl, die Erde tut sich vor mir auf. Ganz ruhig, Ana, fleht mein gequältes Unterbewusstsein mich an.
»Bücher«, flüstere ich, doch mein Unterbewusstsein kreischt: Dich will ich! Ich bringe es zum Schweigen, entsetzt darüber, dass es zu solcher Vehemenz fähig ist.
»Was für Bücher?« Er legt den Kopf ein wenig schief.
Warum interessiert ihn das?
»Ach, das Übliche. Klassiker. Hauptsächlich britische Literatur.«
Er streicht nachdenklich mit Zeigefinger und Daumen über sein Kinn. Vielleicht ist ihm langweilig, und er versucht, das zu überspielen.
»Benötigen Sie sonst noch etwas?« Ich muss das Thema wechseln – die Finger an seinem Kinn sind zu verführerisch.
»Ich weiß es nicht. Könnten Sie mir denn noch etwas empfehlen ?«
Empfehlen? Ich weiß ja nicht mal, was du mit dem Zeug vorhast!
»Hier von den Werkzeugen?«
Er nickt. Wieder dieser belustigte Ausdruck in seinen Augen.
Mein Blick wandert zu seiner engen Jeans. »Einen Overall«, antworte ich, ohne nachzudenken.
Er hebt fragend eine Augenbraue.
»Sie wollen sich sicher nicht die Kleidung ruinieren.« Ich mache eine vage Geste in Richtung seiner Jeans.
»Die könnte ich ausziehen.« Er grinst spöttisch. »Hm.« Wieder schießt mir die Röte ins Gesicht. Wahrscheinlich leuchte ich wie das Kommunistische Manifest. Halt den Mund. AUF DER STELLE.
»Okay, einen Overall. Schließlich will ich mir nicht die Kleidung ruinieren«, wiederholt er trocken.
Ich versuche, mir nicht vorzustellen, wie er ohne Jeans aussieht.
»Brauchen Sie sonst noch etwas?«, krächze ich, als ich ihm den blauen Overall reiche.
Ohne auf meine Frage einzugehen, erkundigt er sich: »Wie kommen Sie mit dem Artikel voran?«
Endlich etwas Klares ohne Andeutungen und verwirrende Doppeldeutigkeiten … eine Frage, die ich beantworten kann. Ich klammere mich mit beiden Händen daran fest wie an einem Rettungsring und entscheide mich für Aufrichtigkeit.
»Den verfasse nicht ich, sondern Katherine, Miss Kavanagh, meine Mitbewohnerin. Sie schreibt gern und ist die Herausgeberin der Studentenzeitung. Sie war ganz geknickt, dass sie das Interview nicht selbst führen konnte.« Ich habe das Gefühl, wieder frei atmen zu können – endlich ein normales Gesprächsthema. »Sie findet es nur schade, dass sie keine Fotos von Ihnen hat.«
»Was für Fotos hätte sie denn gern?«
Mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet. Ich zucke mit den Achseln, weil ich es nicht weiß.
»Ich bleibe fürs Erste in der Gegend. Vielleicht morgen …«
»Sie wären zu einem Fotoshooting bereit?« Kate wäre im siebten Himmel, wenn ich das hinkriege, flüstert dieser dunkle Ort in meinem Gehirn. Mein Gott, wie albern …
»Kate würde sich freuen – vorausgesetzt, wir treiben so schnell einen Fotografen auf.«
Sein Mund öffnet sich, als wollte er tief Luft holen, und er blinzelt. Den Bruchteil einer Sekunde wirkt er irgendwie verloren.
Wow, Christian Grey kann auch verloren aussehen! Wer hätte das gedacht?
»Lassen Sie es mich wissen, ob es morgen klappt.« Er zieht seine Brieftasche hervor. »Meine Visitenkarte mit meiner Handynummer. Sie müssen vor zehn Uhr morgens anrufen.«
»Okay.« Kate wird aus dem Häuschen sein.
»Ana!«
Am anderen Ende des Gangs taucht Paul auf, Mr. Claytons jüngster Bruder. Ich hatte zwar schon gehört, dass er von Princeton auf einen Besuch nach Hause kommen würde, ihn aber nicht heute erwartet.
»Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick, Mr. Grey.«
Er runzelt die Stirn, als ich mich von ihm abwende.
Paul ist ein Kumpeltyp. In diesem merkwürdigen Augenblick mit dem reichen, mächtigen, hyperattraktiven Kontrollfreak Grey finde ich es wunderbar, mit einem normalen Menschen wie ihm sprechen zu können. Paul umarmt mich zur Begrüßung.
»Ana, hallo, schön, dich zu sehen!«
»Hi, Paul, wie geht’s? Bist du zum Geburtstag deines Bruders da?«
»Ja. Du siehst gut aus, Ana, wirklich gut.« Er mustert mich lächelnd und legt einen Arm um meine Schulter.
Verlegen trete ich von einem Fuß auf den anderen, denn Paul ist wie immer einen Tick zu vertraulich.
Christian Grey beobachtet uns mit zusammengepressten Lippen. Mit einem Mal ist aus dem seltsam aufmerksamen Kunden ein kühler, distanzierter Mann geworden.
»Paul, ich habe gerade einen Kunden, den ich dir vorstellen möchte«, sage ich, um der Feindseligkeit, die ich in Greys Blick erkenne, entgegenzuwirken. Ich schleife Paul zu ihm, und sie taxieren sich gegenseitig. Plötzlich ist die Atmosphäre arktisch.
»Paul, das ist Christian Grey. Mr. Grey, das ist Paul Clayton. Seinem Bruder gehört der Baumarkt.« Aus mir unerklärlichen Gründen habe ich das Gefühl, weitere Erklärungen abgeben zu müssen. »Obwohl ich Paul kenne, seit ich hier arbeite, sehen wir uns nicht oft. Er studiert in Princeton Business Administration.« Ich gerate ins Plappern … Halt die Klappe!
»Mr. Clayton.« Grey streckt ihm mit undurchdringlicher Miene die Hand hin.
»Mr. Grey.« Paul erwidert seinen Händedruck. »Moment – doch nicht der Christian Grey von Grey Enterprises Holdings?« , fragt Paul zutiefst beeindruckt. Grey bedenkt ihn mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreicht. »Wow – kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
»Danke, Anastasia ist sehr aufmerksam, Mr. Clayton.« Er wirkt ruhig, doch seine Worte … Ich habe den Eindruck, dass sie etwas vollkommen anderes bedeuten – wie verwirrend.
»Okay«, antwortet Paul. »Bis später, Ana.«
»Ja, Paul.« Ich sehe ihm nach, wie er ins Lager verschwindet. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Mr. Grey?«
»Danke, das wäre alles.« Er klingt kühl.
Mist … habe ich etwas falsch gemacht? Ich hole tief Luft, drehe mich um und gehe zur Kasse. Was hat der Mann bloß für ein Problem?
Ich gebe die Preise für das Seil, den Overall, das Kreppband und die Kabelbinder in die Kasse ein.
»Macht dreiundvierzig Dollar.« Ich sehe direkt in Greys Augen und bereue es sofort, denn er beobachtet mich mit einem Adlerblick, der mich völlig aus der Fassung bringt.
»Wollen Sie eine Tüte?«, frage ich, als ich seine Kreditkarte entgegennehme.
»Ja, bitte, Anastasia.« Seine Zunge liebkost meinen Namen, und mein Herzschlag setzt einen Moment aus. Ich bekomme fast keine Luft mehr. Hastig verstaue ich seine Sachen in einer Plastiktüte.
»Sie rufen mich an, wenn Sie über den Fototermin Bescheid wissen?« Nun ist er wieder ganz Geschäftsmann.
Ich nicke und gebe ihm seine Kreditkarte zurück.
»Gut. Vielleicht bis morgen.« Er wendet sich zum Gehen und hält inne. »Ach, und Ana: Ich bin froh, dass Miss Kavanagh das Interview nicht führen konnte.«
Mit energischen Schritten verlässt er den Laden, und ich bleibe als zitterndes Häuflein weiblicher Hormone zurück. Mehrere Minuten starre ich wie benommen auf die geschlossene Tür, durch die er soeben gegangen ist, bevor ich auf die Erde zurückkehre.
Na gut, ich mag ihn. Es hat keinen Sinn, mir noch länger etwas vorzumachen. Und ja, ich finde ihn attraktiv, sehr attraktiv. Doch das Ganze ist aussichtslos, das weiß ich, und ich seufze in bittersüßer Verzweiflung. Es war reiner Zufall, dass er hier aufgetaucht ist. Aber okay, dann werde ich ihn eben aus der Ferne anhimmeln. Das ist ungefährlich. Und falls ich einen Fotografen auftreibe, kann ich ihn morgen weiter anhimmeln. Ich grinse wie eine verliebte Vierzehnjährige, dann ermahne ich mich, Kate anzurufen, um mit ihr einen Fototermin zu organisieren.