39600.fb2 Shades of Grey - Geheimes Verlangen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 7

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VIER

Verdammt, küss mich !, flehe ich ihn stumm an. Ich bin wie gelähmt, vollkommen von ihm gefangen. Gebannt starre ich auf seinen Mund, und Christian Grey sieht mit dunkel verschleiertem Blick auf mich herab. Er atmet schwerer als sonst – mir hat es den Atem ganz verschlagen. Ich liege in deinen Armen. Bitte küss mich. Er schließt die Augen, holt tief Luft und schüttelt kaum merklich den Kopf, als wollte er meine unausgesprochene Frage beantworten. Als er die Augen wieder öffnet, liegt ein Ausdruck stählerner Entschlossenheit darin.

»Anastasia, du solltest dich von mir fernhalten. Ich bin nicht der Richtige für dich«, flüstert er.

Wie bitte? Wo kommt das jetzt wieder her? Das ist doch wohl meine Entscheidung. Meine Gedanken wirbeln aus Enttäuschung über seine Zurückweisung durcheinander.

»Tief durchatmen, Anastasia, tief durchatmen. Ich stelle dich jetzt wieder auf die Füße«, verkündet er und schiebt mich sanft weg.

NEIN !, schreit mein Unterbewusstsein auf, als er sich von mir löst. Plötzlich fühle ich mich sehr einsam. Seine Hände liegen auf meinen Schultern; ich bin eine Armeslänge von ihm entfernt. Er beobachtet aufmerksam meine Reaktion. Und nur ein Gedanke schießt mir durch den Kopf: Ich wollte geküsst werden, habe das verdammt offen gezeigt, und er hat’s nicht getan. Er begehrt mich nicht.

»Habe verstanden«, flüstere ich, als ich meine Stimme wiederfinde, und füge gedemütigt »Danke« hinzu. Wie hatte ich die Situation so gründlich missverstehen können?

»Wofür ?« Er runzelt die Stirn, ohne die Hände von meinen Schultern zu nehmen.

»Dafür, dass du mich gerettet hast«, antworte ich mit leiser Stimme.

»Der Idiot ist in die falsche Richtung gefahren. Gott sei Dank war ich zur Stelle. Ich will mir lieber nicht vorstellen, was hätte passieren können. Möchtest du dich einen Moment im Hotel hinsetzen?« Seine Hände sinken herab, und ich stehe vor ihm da wie ein Volltrottel.

Ich schüttle den Kopf, will nur noch weg. Alle meine vagen, unausgesprochenen Hoffnungen haben sich zerschlagen. Er begehrt mich nicht. Was habe ich mir nur gedacht?, rüge ich mich selbst. Was sollte jemand wie Christian Grey schon von dir wollen?, verspottet mein Unterbewusstsein mich. Ich schlinge die Arme um den Körper und stelle dabei erleichtert fest, dass die Ampel Grün anzeigt. Hastig überquere ich die Straße. Grey folgt mir. Vor dem Hotel wende ich mich ihm kurz zu, ohne ihm in die Augen zu sehen.

»Danke für den Tee und das Fotoshooting«, murmle ich.

»Anastasia … ich …«

Sein besorgter Tonfall lässt mich stutzen. Widerwillig hebe ich den Blick. Seine grauen Augen sind düster, als er sich mit einer Hand durch die Haare fährt. Er wirkt hin- und hergerissen, frustriert. Seine sorgfältig kultivierte Kontrolle ist dahin.

»Was, Christian?«, herrsche ich ihn an, als er schweigt. Ich will nur noch weg, meine Wunden lecken.

»Viel Glück bei den Prüfungen«, wünscht er mir mit leiser Stimme.

Wie bitte? Deshalb blickt er so traurig drein? Ist das der Rausschmeißer? Dass er mir Glück für die Prüfungen wünscht?

»Danke.« Es gelingt mir nicht, meinen Sarkasmus zu kaschieren. »Auf Wiedersehen, Mr. Grey.« Ich drehe mich um, ein wenig überrascht, dass ich nicht stolpere, und haste in Richtung Tiefgarage.

Sobald ich in dem dunklen, kühlen Betonbau mit dem kalten Neonlicht bin, lehne ich mich an die Wand und stütze den Kopf in die Hände. Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Unwillkürlich treten mir Tränen in die Augen. Warum heule ich? Ich sinke zu Boden, wütend auf mich selbst, ziehe die Knie an, möchte mich so klein machen wie möglich. Vielleicht wird der Schmerz kleiner, wenn ich kleiner bin. Ich lege den Kopf auf die Knie und schluchze hemmungslos, weine über den Verlust von etwas, das mir nie gehört hat. Wie lächerlich. Und ich trauere um etwas, das von Anfang an aussichtslos war – Hoffnungen, Träume und Erwartungen.

Ich bin noch nie zurückgewiesen worden. Okay … Möglicherweise war ich immer die Letzte, die fürs Basketball- oder Volleyballteam ausgewählt wurde, aber das konnte ich verstehen  – laufen und gleichzeitig einen Ball werfen oder damit dribbeln ist einfach nicht meine Sache. Auf dem Sportplatz stelle ich eine ernsthafte Gefahr für meine Mitmenschen dar.

In der Liebe habe ich mich nie so weit aus dem Fenster gelehnt. Das liegt an meiner lebenslangen Unsicherheit – ich bin zu blass, zu dünn, zu linkisch und so weiter und so fort. Also habe ich immer potenzielle Verehrer abgewiesen. In meinem Chemiekurs gab es einen Jungen, der mich mochte, aber mich hat niemals jemand wirklich interessiert – nur dieser verdammte Christian Grey. Vielleicht sollte ich zu Männern wie Paul Clayton oder José Rodriguez netter sein, obwohl von denen bestimmt keiner je meinetwegen heulend in irgendeinem dunklen Winkel gesessen hat.

Hör auf ! Hör auf damit, und zwar sofort!, blafft mein Unterbewusstsein mich an. Fahr heim, setz dich an den Tisch und lerne. Vergiss ihn … Auf der Stelle! Und hör auf, dich in Selbstmitleid zu suhlen.

Ich hole tief Luft und stehe auf. Reiß dich zusammen, Steele. Auf dem Weg zu Kates Wagen wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Ich werde nicht mehr an ihn denken, die Begegnung mit ihm als heilsame Erfahrung verbuchen und mich voll und ganz auf die Prüfungen konzentrieren.

Kate sitzt mit dem Laptop am Esstisch. Ihr Begrüßungslächeln erlischt, als sie mich sieht.

»Ana, was ist los?«

Nein, jetzt bitte nicht die Katherine-Kavanagh-Inquisition. Ich schüttle den Kopf, doch das nützt ungefähr so viel wie bei einer taubstummen Blinden.

»Du hast geweint.« Sie besitzt ein ungewöhnliches Geschick, das Offensichtliche auszusprechen. »Was hat das Schwein dir angetan?«, knurrt sie, und ihr Gesicht … Hilfe, ich bekomme es mit der Angst zu tun.

»Nichts, Kate.« Genau das ist das Problem. Der Gedanke lässt mich spöttisch lächeln.

»Warum hast du dann geweint? Du weinst sonst nie«, sagt sie in sanfterem Tonfall. Sie steht auf, die grünen Augen voller Sorge, schlingt die Arme um mich und drückt mich. Ich muss irgendetwas sagen, damit sie Ruhe gibt.

»Fast hätte mich ein Radler umgenietet.« Etwas Besseres fällt mir nicht ein. Immerhin lenkt sie das fürs Erste von ihm ab.

»Um Gottes willen, Ana – alles in Ordnung? Bist du verletzt ?« Sie tritt einen Schritt zurück, um mich zu begutachten.

»Nein. Christian hat mich gerettet. Aber ich hatte ziemlich wacklige Knie.«

»Das wundert mich nicht. Wie war’s beim Kaffee? Ich weiß, dass du Kaffee hasst.«

»Ich hab Tee getrunken. Es war okay. Letztlich gibt’s nichts Aufregendes zu erzählen. Keine Ahnung, warum er mich gefragt hat.«

»Er mag dich, Ana.«

»Nein, ich werde ihn nie wieder treffen.« Es gelingt mir tatsächlich, sachlich zu klingen.

»Ach?«

Verdammt, sie spitzt die Ohren, also gehe ich in die Küche, damit sie mein Gesicht nicht sieht.

»Ja … Er spielt in einer anderen Liga als ich, Kate«, stelle ich so nüchtern wie möglich fest.

»Wie meinst du das?«

»Kate, das liegt doch auf der Hand.« Sie kommt zur Küchentür, und ich drehe mich zu ihr um.

»Nicht für mich«, erklärt sie. »Okay, er hat mehr Geld als du, aber schließlich ist er reicher als die meisten Leute in Amerika !«

»Kate, er ist …« Ich zucke mit den Achseln.

»Ana! Herrgott – wie oft soll ich dir das noch sagen? Du bist eine tolle Frau«, fällt sie mir ins Wort.

Nein, nicht wieder diese Leier.

»Kate, bitte. Ich muss lernen«, unterbreche ich sie.

Sie runzelt die Stirn. »Möchtest du den Artikel lesen? Er ist fertig. Die Fotos von José sind toll geworden.«

Brauche ich wirklich eine Erinnerung an den attraktiven Christian-ich-will-dich-nicht-Grey?

»Klar.« Ich zaubere ein Lächeln auf mein Gesicht und schlendere zum Laptop. Und da ist er, schwarz auf weiß auf dem Monitor. Seine Miene sagt mir, dass ich seinen Ansprüchen nicht genüge.

Ich tue so, als würde ich den Artikel lesen. Dabei ruht mein Blick die ganze Zeit über auf seinem Gesicht, und ich suche darin nach Erklärungen dafür, warum er nicht der Richtige für mich ist – das waren seine Worte. Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Er sieht einfach zu unverschämt gut aus. Wir sind Äonen voneinander entfernt und stammen aus zwei verschiedenen Welten. Ich komme mir wie Ikarus vor, der sich an der Sonne die Flügel verbrennt und abstürzt. Jetzt ergeben seine Worte einen Sinn. Er ist nicht der Richtige für mich. Nun fällt es mir leichter, seine Zurückweisung zu akzeptieren. Damit kann ich leben. Endlich begreife ich.

»Sehr gut, Kate«, presse ich hervor. »Ich geh jetzt lernen.« Und denke erst einmal nicht mehr an ihn, nehme ich mir vor, während ich meine Seminarunterlagen aufschlage.

Erst im Bett lasse ich meine Gedanken zu dem seltsamen Morgen zurückwandern. Immer wieder lande ich bei seinem Satz: Eine feste Freundin, das ist nichts für mich. Es ärgert mich, dass ich das nicht früher begriffen habe, bevor ich in seinen Armen lag und ihn mit Blicken anflehte, mich zu küssen. Er hat mir nichts vorgemacht. Er will mich nicht als Freundin. Der Gedanke, dass er sexuell enthaltsam leben könnte, schießt mir durch den Kopf. Vielleicht spart er sich für jemanden auf. Aber nicht für dich. Mein Unterbewusstsein versetzt mir noch diesen letzten Stich, bevor es sich in meinen Träumen austobt.

In der Nacht träume ich von grauen Augen und Milchschaum mit Blattmustern. Ich renne durch dunkle Orte mit unheimlichem Neonlicht und weiß nicht, ob ich auf etwas zulaufe oder davon weg …

Ich lege den Stift weg. Fertig. Ende der Abschlussprüfung. Ich grinse wie ein Honigkuchenpferd, vermutlich zum ersten Mal in dieser Woche. Es ist Freitag, und am Abend wollen wir feiern, richtig abfeiern. Vielleicht werde ich mich sogar betrinken! Ich bin noch nie betrunken gewesen. Ich sehe zu Kate hinüber, die wie eine Wilde schreibt, fünf Minuten vor der Abgabe. Das ist es, das Ende meiner Zeit an der Uni. Nie wieder werde ich inmitten von eifrigen, einsamen Studenten sitzen. Innerlich – das ist der einzige Ort, an dem ich das kann – schlage ich vor Freude Rad. Kate hört auf zu schreiben und schaut zu mir herüber, ebenfalls mit einem Honigkuchenpferdgrinsen.

Wir fahren miteinander in ihrem Mercedes zu unserem Apartment zurück, ohne über die Prüfung zu reden. Kate beschäftigt mehr, was sie am Abend in der Kneipe tragen soll. Ich suche in meiner Tasche nach den Schlüsseln.

»Ana, da ist was für dich.« Kate hebt ein Päckchen von den Stufen vor der Tür auf.

Seltsam. Ich habe nichts bei Amazon bestellt. Kate gibt mir das Päckchen und nimmt meinen Schlüssel, um die Tür zu öffnen. Das Paket ist an Miss Anastasia Steele adressiert und trägt keinen Absender. Vielleicht ist es von Mom oder Ray.

»Wahrscheinlich von meinen Eltern.«

»Mach’s auf!«, weist Kate mich an, als sie in die Küche eilt, um zur Feier des Tages den Champagner aus dem Kühlschrank zu holen.

Ich öffne das Päckchen und finde darin eine Lederbox mit drei auf den ersten Blick identischen alten Büchern im Bestzustand, dazu eine schlichte Karte. Auf ihr steht in ordentlicher Schreibschrift:

Warum sagtest du mir nicht,

dass von männlichen Wesen Gefahren drohen?

Warum warntest du mich nicht?

Die vornehmen Damen wissen,

wovor sie sich zu hüten haben,

weil sie Romane lesen,

die ihnen diese Schliche schildern.

Ich erkenne das Zitat aus Tess. Und bin verblüfft über den Zufall, weil ich gerade in der Abschlussprüfung drei Stunden lang über die Romane von Thomas Hardy geschrieben habe. Vielleicht ist es gar kein Zufall, sondern Absicht. Ich inspiziere die Bücher genauer, Tess von den d ’Urbervilles, eine dreibändige Ausgabe. Ich schlage einen der Bände auf. Auf dem Schmutztitel steht in altmodischer Schrift:

LONDON:

JACK R. OSGOOD, MCALVAINE AND CO., 1891

Himmel – Erstausgaben. Die sind bestimmt ein Vermögen wert. In diesem Moment fällt der Groschen, und ich weiß, von wem sie sind. Kate schaut mir über die Schulter und nimmt mir die Karte aus der Hand.

»Erstausgaben«, flüstere ich.

»Nein.« Kate sieht mich ungläubig an. »Grey?«

Ich nicke. »Wer sonst?«

»Was hat die Karte zu bedeuten?«

»Ich glaube, sie ist eine Warnung – er warnt mich ständig. Keine Ahnung, warum. Schließlich versuche ich nicht, ihm die Tür einzutreten.«

»Ich weiß, dass du nicht über ihn reden möchtest, Ana, aber er fährt total auf dich ab. Warnungen hin oder her.«

In den letzten Tagen habe ich keine Gedanken an Christian Grey zugelassen. Okay, seine grauen Augen verfolgen mich im Traum, und mir ist klar, dass es Ewigkeiten dauern wird, das Gefühl seiner Arme um meinen Körper und seinen köstlichen Geruch aus meiner Erinnerung zu verbannen. Aber warum hat er mir die Bücher geschickt? Er hat mir doch gesagt, dass ich nicht die Richtige für ihn bin.

»Hier gibt es eine Erstausgabe von Tess in New York, für vierzehntausend Dollar. Aber deine ist in deutlich besserem Zustand. Sie muss mehr gekostet haben.« Kate konsultiert ihren treuen Freund Google.

»Dieses Zitat – das sagt Tess zu ihrer Mutter, nachdem Alec d’Urberville sie brutal verführt hat.«

»Ich weiß«, brummt Kate. »Was will er dir damit mitteilen?«

»Keine Ahnung, und es interessiert mich auch nicht. Die Bände kann ich nicht annehmen. Ich schicke sie ihm mit einem ähnlich mysteriösen Zitat aus einem wenig bekannten Teil des Buchs zurück.«

»Zum Beispiel die Stelle, wo Angel Clare sagt, sie soll sich verpissen?«, fragt Kate mit todernstem Gesicht.

»Ja, genau.« Ich kichere. Ich liebe Kate; sie ist eine treue Freundin, die mir in jeder Lebenslage beisteht. Ich packe die Bücher wieder ein und lege sie auf den Esstisch.

Kate reicht mir ein Glas Champagner. »Auf das Ende der Prüfungen und unser neues Leben in Seattle.« Sie grinst.

»Auf das Ende der Prüfungen, unser neues Leben in Seattle und tolle Noten.« Wir stoßen an und trinken.

In der Kneipe herrscht Chaos. Sie ist voller Studenten, die bald das Zeugnis bekommen werden und im Moment nur noch feiern wollen. José gesellt sich zu uns. Er macht den Abschluss zwar erst im nächsten Jahr, stimmt uns aber auf unsere neu gewonnene Freiheit ein, indem er einen großen Krug Margarita für alle spendiert. Beim fünften Glas merke ich, dass das nach dem Champagner keine gute Idee war.

»Was hast du jetzt vor, Ana?«, fragt José mich mit lauter Stimme, um den Lärm zu übertönen.

»Du weißt doch, Kate und ich ziehen nach Seattle. Kates Eltern haben ihr dort eine Eigentumswohnung gekauft.«

»Dios mío, was die Reichen sich alles leisten können. Aber du kommst zu meiner Vernissage?«

»Klar, José, die würde ich mir doch nicht entgehen lassen.« Ich lächle, und er legt den Arm um meine Taille und zieht mich zu sich heran.

»Es ist mir wichtig, dass du kommst, Ana«, flüstert er mir ins Ohr. »Noch einen Margarita?«

»José Luis Rodriguez – willst du mich betrunken machen? Ich habe den Eindruck, dass deine Strategie aufgeht.« Ich kichere. »Ein Bier wäre mir lieber. Ich hole uns eins.«

»Nachschub, Ana!«, bellt Kate.

Kate hat die Konstitution eines Ochsen. Ihr Arm liegt um Levi, das ist der Englisch-Kommilitone, der normalerweise die Fotos für die Studentenzeitung schießt. Er hat es aufgegeben, die Betrunkenen rund um ihn herum zu fotografieren, und hat nur noch Augen für Kate. Sie trägt ein winziges Mieder, eine knallenge Jeans und High Heels und hat die Haare nach oben gesteckt. Ein paar Locken umrahmen ihr Gesicht. Sie sieht wie immer atemberaubend aus. Ich bin eher der Typ Converse und T-Shirt, habe aber meine vorteilhafteste Jeans an. Ich entwinde mich Josés Griff und stehe vom Tisch auf.

Hoppla. Mir dreht sich alles.

Ich muss mich an der Rückenlehne eines Stuhls festhalten. Drinks auf Tequila-Basis sind heimtückisch.

Ich arbeite mich zur Bar vor und beschließe, auch gleich die Toilette aufzusuchen. Guter Plan, Ana. Ich stolpere durch die Menge. Natürlich steht eine Schlange vor dem Klo, aber immerhin ist es ruhig und kühl auf dem Gang. Ich ziehe mein Handy heraus, um mir die Zeit zu vertreiben. Hm … wen hab ich als Letzten angerufen? José? Davor eine Nummer, die ich nicht kenne. Ach ja, Grey. Ich glaube, das ist seine Nummer. Ich kichere. Keine Ahnung, wie viel Uhr es ist; vielleicht wecke ich ihn. Er soll mir verraten, warum er mir die Bücher und die geheimnisvolle Botschaft geschickt hat. Wenn er will, dass ich ihm fernbleibe, muss er mich auch in Ruhe lassen. Ich verkneife mir ein beschwipstes Grinsen und drücke auf die Schnellwahltaste. Er geht beim zweiten Klingeln ran.

»Anastasia?« Er klingt überrascht.

Offen gestanden, bin ich selbst erstaunt, dass ich ihn anrufe. Plötzlich frage ich mich: Woher weiß er, dass ich es bin?

»Warum hast du mir die Bücher geschickt?«, lalle ich.

»Anastasia, alles in Ordnung? Du klingst seltsam«, fragt er besorgt.

»Nicht ich bin seltsam, sondern du.« Ha – der Alkohol macht mich mutig.

»Anastasia, hast du getrunken?«

»Was kümmert dich das?«

»Ich bin nur … neugierig. Wo bist du?«

»In einer Kneipe.«

»In welcher?« Er klingt verärgert.

»In einer Kneipe in Portland.«

»Und wie kommst du nach Hause?«

»Ich finde schon eine Möglichkeit.« Das Gespräch läuft nicht ganz in die Richtung, die ich mir vorgestellt habe.

»In welcher Kneipe bist du?«

»Warum hast du mir die Bücher geschickt, Christian?«

»Anastasia, wo bist du? Sag es mir, auf der Stelle.«

Sein Tonfall ist … herrisch, ganz der Kontrollfreak. Ich stelle ihn mir als altmodischen Filmregisseur mit Reithose, Gerte und Flüstertüte vor. Bei dem Gedanken muss ich laut lachen.

»Du bist so was von … tyrannisch«, kichere ich.

»Verdammt, Ana, nun sag endlich: Wo steckst du?«

Christian Grey flucht!

Wieder kichere ich. »In Portland … weit weg von Seattle.«

»Wo in Portland?«

»Gute Nacht, Christian.«

»Ana!«

Ich lege auf. Ha! Obwohl er meine Frage mit den Büchern nicht beantwortet hat. Ich runzle die Stirn. Mission nicht erfüllt. Ich habe wirklich einen ganz schönen Schwips – mir dreht sich alles, als ich mich mit der Schlange vorwärtsbewege. Nun, das war ja der Zweck der Übung: Ich wollte mich betrinken, und das ist mir gelungen. So fühlt es sich also an – eine Erfahrung, die ich wahrscheinlich nicht wiederholen möchte. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich starre das Poster an der Rückseite der Toilettentür an, das die Vorteile von Safer Sex preist. O Mann, hab ich gerade Christian Grey angerufen? Scheiße. Mein Handy klingelt. Vor Überraschung stoße ich einen spitzen Schrei aus.

»Hallo«, blöke ich in den Apparat. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.

»Ich hole dich ab«, sagt er und legt auf. Nur Christian Grey kann gleichzeitig so ruhig und so bedrohlich klingen.

O Gott. Ich ziehe meine Jeans mit wild pochendem Herzen hoch. Er holt mich ab? O nein. Mir ist schlecht … nein … es geht wieder. Moment. Er will mich bloß verwirren. Ich habe ihm nicht gesagt, wo ich bin. Hier kann er mich nicht finden. Außerdem würde er Stunden brauchen, von Seattle herzukommen, und bis dahin wären wir alle nicht mehr da. Ich wasche mir die Hände und schaue in den Spiegel. Ich habe ein rotes Gesicht, und mein Blick ist verschwommen. Hm … Tequila.

An der Bar warte ich eine gefühlte Ewigkeit auf das Bier, so dass es eine Weile dauert, bis ich zum Tisch zurückkehre.

»Warst ganz schön lange weg«, rügt Kate mich. »Wo hast du dich rumgetrieben?«

»Ich musste vor dem Klo warten.«

José und Levi unterhalten sich angeregt über unser örtliches Baseballteam. José unterbricht die Diskussion gerade lange genug, um uns allen ein Bier einzuschenken. Ich nehme einen großen Schluck.

»Kate, ich glaub, ich muss mal raus, frische Luft schnappen.«

»Ana, du verträgst wirklich nichts.«

»Bin in fünf Minuten wieder da.«

Erneut kämpfe ich mich durch die Menge. Nun wird mir tatsächlich übel, mir dreht sich der Kopf, und ich bin unsicher auf den Beinen. Noch unsicherer als sonst.

Als ich die kühle Abendluft auf dem Parkplatz einatme, merke ich, wie betrunken ich bin. Ich sehe tatsächlich alles doppelt wie in den alten Folgen von Tom und Jerry. Mir ist sterbenselend. Warum nur habe ich so über die Stränge geschlagen?

»Ana.« José gesellt sich zu mir. »Bist du okay?«

»Ich glaube, ich hab zu viel getrunken.« Ich lächle schwach.

»Ich auch«, murmelt er und betrachtet mich mit einem intensiven Blick aus seinen dunklen Augen. »Soll ich dich stützen?«, fragt er und tritt näher, um einen Arm um mich zu legen.

»José, ich hab alles im Griff.« Halbherzig schiebe ich ihn weg.

»Ana, bitte«, flüstert er und zieht mich näher zu sich heran.

»José, was soll das?«

»Du weißt, dass ich dich mag, Ana. Bitte.« Eine Hand wandert auf meinen Rücken und drückt mich an ihn. Mit der anderen berührt er mein Kinn und schiebt meinen Kopf nach hinten. Oje … Er will mich küssen.

»Nein, José, stopp – nein.« Ich versuche, mich ihm zu entwinden, aber er ist stärker als ich und hält meinen Kopf fest.

»Bitte, Ana«, flüstert er noch einmal, dicht an meinen Lippen. Sein Atem riecht süßlich nach Margarita und Bier. Sanft arbeitet er sich mit Küssen von meinem Kinnbogen zu meinem Mundwinkel vor.

Panik! Ich fühle mich machtlos, und dieses Gefühl erstickt mich fast.

»José, nein«, flehe ich ihn an. Ich will nicht. Du bist mein Freund, und ich muss kotzen.

»Ich denke, die Dame hat Nein gesagt«, ertönt eine leise Stimme aus der Dunkelheit. Mist! Christian Grey. Wo kommt der her?

José lässt mich los. »Grey«, stellt er bitter fest.

Ich sehe Christian voller Angst an. Er mustert José mit finsterer Miene und ist stinksauer. Ich würge, krümme mich zusammen und übergebe mich.

»Igitt – Dios mío, Ana!« José springt angewidert zurück.

Grey dagegen schiebt meine Haare vom Mund weg und dirigiert mich sanft zu einem Blumenbeet am Rand des Parkplatzes. Dankbar stelle ich fest, dass es im Halbdunkel liegt.

»Wenn du dich nochmal übergeben musst, dann mach’s hier. Ich halte dich.« Er legt einen Arm um meine Schultern – mit der anderen Hand fasst er meine Haare zu einer Art Pferdeschwanz zusammen, so dass sie mir nicht ins Gesicht fallen.

Und tatsächlich muss ich schon wieder kotzen … wieder … und wieder. O Gott … Wie lange wird das so weitergehen? Selbst als mein Magen leer ist und nichts mehr hochkommt, erschüttert noch trockenes Würgen meinen Körper. Ich schwöre mir insgeheim, nie mehr Alkohol zu trinken. Endlich hört es auf.

Mit wackligen Beinen stütze ich mich an der Ziegeleinfassung des Blumenbeets ab. Sich so heftig zu übergeben ist ganz schön anstrengend. Grey löst die Hände von mir und reicht mir ein frischgewaschenes Stofftaschentuch mit Monogramm: CTG. Ich wusste gar nicht, dass man so etwas noch kaufen kann. Während ich mir den Mund abwische, überlege ich trotz allem, wofür das »T« steht. Es gelingt mir nicht, ihn anzusehen. Ich schäme mich so, finde mich selbst absolut Ekel erregend.

José beobachtet uns vom Eingang der Kneipe aus. Ich lege ächzend den Kopf in meine Hände. Dies ist vermutlich der schlimmste Moment in meinem Leben. Mir dreht sich immer noch alles, als ich versuche, mich an eine noch peinlichere Situation zu erinnern – mir fällt nur Christians Zurückweisung ein. Doch das hier ist viel demütigender. Grey mustert mich mit ausdrucksloser Miene. Ich schaue zu José hinüber, der ziemlich verlegen wirkt und wie ich von Grey eingeschüchtert zu sein scheint. Ich bedenke ihn mit einem wütenden Blick. Mir würden schon ein paar saftige Worte einfallen für meinen sogenannten Freund, aber die kann ich in Gegenwart von Christian Grey, CEO, nicht aussprechen. Ana, wem machst du was vor? Er hat gerade miterlebt, wie du die Blumen vollgekotzt hast. Dass du keine Lady bist, dürfte ihm spätestens jetzt klar sein.

»Äh … wir sehen uns drinnen«, murmelt José. Grey und ich schenken ihm keine Beachtung. Er schleicht zurück ins Gebäude.

Ich bin allein mit Grey. Verdammt, was soll ich ihm sagen? Ich muss mich wohl für den Anruf entschuldigen.

»Tut mir leid«, sage ich kleinlaut und starre das Taschentuch an, an dem ich hektisch herumnestle.

»Was tut dir leid, Anastasia?«

Mist, er erspart mir aber auch gar nichts.

»Hauptsächlich der Anruf. Und das Kotzen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.« Ich spüre, wie ich rot werde. Erde, tu dich auf.

»Das haben wir alle schon mal erlebt, vielleicht nicht ganz so drastisch wie du«, erwidert er trocken. »Man muss seine Grenzen kennen, Anastasia. Ich bin ja dafür, Grenzen auszuloten, aber das geht nun wirklich zu weit. Machst du das öfter?«

Mir brummt der Kopf von dem vielen Alkohol. Was zur Hölle geht ihn das an? Ich habe ihn nicht hergebeten. Er klingt wie jemand, der ein unartiges Kind zurechtweist. Am liebsten würde ich ihm antworten, dass es ganz allein meine Entscheidung wäre, mich jeden Abend zu betrinken, aber dazu fehlt mir, nachdem ich mich vor ihm übergeben habe, der Mut. Was will er noch hier?

»Nein«, sage ich zerknirscht. »Ich bin noch nie zuvor betrunken gewesen, und im Moment habe ich auch nicht das Bedürfnis, die Erfahrung zu wiederholen.«

Ich begreife einfach nicht, warum er hier ist. Mir wird schwummerig. Er merkt es, packt mich, bevor ich hinfalle, und drückt mich an seine Brust wie ein Kind.

»Ich bringe dich heim.«

»Ich muss Kate Bescheid sagen.« Das zweite Mal in seinen Armen …

»Das kann mein Bruder machen.«

»Wie bitte?«

»Mein Bruder Elliot spricht gerade mit Miss Kavanagh.«

»Ach.«

»Er war bei mir, als du angerufen hast.«

»In Seattle?«, frage ich verwirrt.

»Nein, im Heathman.«

»Wie hast du mich gefunden?«

»Ich habe den Anruf zurückverfolgt, Anastasia.«

Natürlich. Aber wie ist das möglich? Ist das legal? Stalker, flüstert mein Unterbewusstsein mir durch eine Wolke aus Tequila zu. Doch weil er es ist, stört es mich nicht.

»Hast du eine Jacke oder eine Handtasche?«

»Ja, beides. Christian, bitte, ich muss Kate Bescheid sagen, sonst macht sie sich Sorgen.«

Sein Mund wird hart, und er stößt einen tiefen Seufzer aus. »Wenn’s sein muss.«

Er nimmt meine Hand und führt mich zurück in die Kneipe. Ich fühle mich schwach und betrunken, bin erschöpft, verlegen und auf merkwürdige Weise total aufgedreht. Er hält meine Hand fest – was für verwirrende Gefühle! Ich werde mindestens eine Woche brauchen, um die alle zu verdauen.

Kate sitzt nicht mehr an unserem Tisch, José ist verschwunden, und Levi wirkt verloren und einsam.

»Wo ist Kate?«, brülle ich ihm zu, um den Lärm zu übertönen. Mein Kopf beginnt, im Rhythmus mit dem wummernden Bass der Musik zu dröhnen.

»Tanzen!«, brüllt Levi zurück, und ich merke, dass er wütend ist. Er beäugt Christian misstrauisch.

Ich mühe mich ab, in meine schwarze Jacke zu schlüpfen, und schnappe mir meine kleine Tasche. Sobald ich mit Kate gesprochen habe, können wir gehen.

Ich berühre Christians Arm und schreie ihm ins Ohr: »Sie ist auf der Tanzfläche!« Dabei berührt meine Nase seine Haare, und ich rieche seinen sauberen, frischen Duft. All die verbotenen, unbekannten Gefühle, die ich zu leugnen versucht habe, drängen an die Oberfläche. Ich werde rot, und tief in mir ziehen sich die Muskeln auf höchst angenehme Weise zusammen.

Er verdreht die Augen und dirigiert mich zur Bar. Er wird sofort bedient; Mr. Kontrollfreak Grey muss natürlich nicht warten. Fliegt ihm alles so zu? Ich kann nicht hören, was er bestellt. Wenig später reicht er mir ein sehr großes Glas eisgekühltes Wasser.

»Trink«, befiehlt er mir mit lauter Stimme.

Die Lichter tanzen im Takt der Musik und werfen bunte Reflexe und Schatten auf Theke und Gäste. Grey ist abwechselnd grün, blau, weiß und dämonisch rot. Er beobachtet mich mit Argusaugen. Ich nehme zögernd einen Schluck.

»Runter damit!«, brüllt er.

Gott, ist der Mann herrisch! Grey fährt sich mit der Hand durch die widerspenstigen Haare. Er wirkt frustriert und wütend. Was hat er jetzt wieder für ein Problem? Abgesehen von dem albernen betrunkenen Mädchen, das ihn mitten in der Nacht anruft, damit er denkt, er müsste es retten. Am Ende musste er das tatsächlich, und zwar vor dem zudringlichen Freund. Und dann sieht er zu, wie es sich vor ihm auskotzt. O Ana … wie willst du das jemals verdauen? Mein Unterbewusstsein gibt missbilligende Geräusche von sich und bedenkt mich über die Lesebrille hinweg mit finsteren Blicken.

Ich schwanke ein wenig. Grey legt mir stützend die Hand auf die Schulter. Ich tue, was er sagt, trinke das Glas leer, woraufhin er es auf der Theke abstellt. Wie durch einen Nebel hindurch registriere ich, was er anhat: ein weit geschnittenes, weißes Leinenhemd, eng anliegende Jeans, schwarze Converse-Sneakers und ein dunkles Jackett mit Nadelstreifen. Das Hemd steht am Kragen offen, darunter entdecke ich ein paar Haare.

Erneut ergreift er meine Hand und führt mich auf die Tanzfläche. Hilfe, nein, ich kann nicht tanzen. Er spürt mein Zögern. In dem bunten Licht erkenne ich sein amüsiertes Lächeln. Er zieht mich mit einem Ruck an sich, und zum dritten Mal liege ich in seinen Armen. Grey beginnt, sich zu bewegen, und reißt mich mit. Mann, kann der tanzen! Und noch erstaunlicher: Ich folge ihm Schritt für Schritt. Vielleicht liegt es daran, dass ich betrunken bin. Er drückt mich an sich; ich spüre seinen Körper an dem meinen … hielte er mich nicht so fest gepackt, würde ich ihm sicher zu Füßen sinken. Ich meine, die Lieblingswarnung meiner Mutter zu hören: Trau keinem Mann, der tanzen kann.

Er schiebt uns durch die Masse der Tanzenden zur anderen Seite der Tanzfläche, wo wir auf Kate und Elliot, Christians Bruder, stoßen. O nein, Kate zieht alle Register und tanzt sich die Seele aus dem Leib. Das tut sie nur, wenn sie wirklich auf jemanden abfährt. Was bedeutet, dass wir morgen früh zu dritt frühstücken. Kate!

Christian beugt sich zu Elliot hinüber und brüllt ihm etwas ins Ohr. Ich verstehe nicht, was. Elliot ist groß, hat breite Schultern, lockiges blondes Haar und spöttisch funkelnde Augen. Im pulsierenden Licht kann ich ihre Farbe nicht erkennen. Elliot zieht Kate grinsend in seine Arme, und sie lässt es sich nur zu gern gefallen … Kate! Trotz meines betrunkenen Zustands bin ich schockiert. Sie hat ihn doch gerade erst kennen gelernt! Sie nickt bei allem, was Elliot sagt, und winkt mir fröhlich zu. Christian zieht mich hastig von der Tanzfläche herunter.

Aber ich bin gar nicht dazu gekommen, mit ihr zu reden! Ist bei ihr alles in Ordnung? Ich sehe, wo das mit ihr und Elliot hinführen wird. Ich muss sie an die Sache mit dem Safer Sex erinnern. Hoffentlich liest sie das Poster an der Innenseite der Toilettentür. Meine Gedanken bahnen sich einen Weg durch dieses beschwipste, benebelte Gefühl. Es ist so warm hier drin, so laut und bunt – zu grell. Mir dreht sich alles … o nein … ich spüre, wie der Boden näher kommt, so fühlt es sich jedenfalls an. Das Letzte, was ich höre, bevor ich in Christian Greys Armen das Bewusstsein verliere, ist sein gezischtes: »Scheiße!«