39704.fb2 Strafbatallion 999 - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

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Kapitel 10

Ein Berg von Kladden, Berichten über Versuchsreihen und eigenen Experimenten bedeckte die Tischplatte. Sie schob das Papier achtlos beiseite und begann auf ein großes Blatt zu schreiben:

»Mein Liebster!

Es wird ein kurzer Brief sein, denn es ist möglich, daß er der letzte ist. Man soll beim Abschied nicht zu viele Worte sagen, sie machen das Weggehen nur noch schwerer, und, was beinahe schlimmer ist - sie drohen, den Mut wegzunehmen, das bißchen Mut, den ich habe, um das zu tun, wovor mir bangt. Aber nein, ich will nicht so schwarzsehen. Ich glaube, ich bin ein bißchen übermüdet, und wenn man müde ist, dann erscheint einem Notwendiges sinnlos, Schweres noch schwerer.

Unlängst habe ich mich dabei ertappt, eitel zu sein. Fast mit Stolz habe ich daran gedacht, daß es doch eine Menge ist, was ich tue. Für Dich tue. Das kann, so sagte ich mir befriedigt, nur eine Frau tun, die fähig ist, sehr stark zu lieben. Ich kam mir wie eine kleine Heldin vor. Oder eine große? Du siehst, Liebster, selbst in diesen Situationen kann man sich von gewissen Eigenschaften und Schwächen, die uns mit auf den Lebensweg gegeben wurden, nicht befreien. Dann, etwas später, fragte ich mich, wie oft wohl Menschen aus Eitelkeit - gut waren, um sich selbst sagen zu können oder es von anderen zu hören, sie wären gut gewesen oder hätten eine gute Tat vollbracht. Ich fragte mich, wieviel von Eitelkeit oder sogar Selbstsucht in Menschen steckt, die - nennen wir es so - eine Heldentat vollbracht haben, die nach außen hin als völlige Aufgabe ihrer selbst und die Negation des angeborenen, notwendigen Egoismus oder des Selbsterhaltungstriebes erscheint? Dies und jenes ging und geht mir durch den Kopf ... Aber ich sagte ja, ich will nicht einen sehr langen Brief schreiben. Nur das noch: Wie die Zeit auch sei, in der ich leben muß, wie schwer es auch manchmal oder fast immer ist, ich habe viele neue Ansichten gewonnen und viele Einblicke. Ich bin eine andere geworden, doch nicht in dem Sinn, wie man so leichthin sagt: Du bist nicht mehr die alte. Was ich früher ahnte, weiß ich heute, und ich ahne jetzt, was mir früher ein Buch mit sieben Siegeln war. Das nennt man wohl - Entwicklung.

Wenn ich mit diesem Brief fertig bin, werde ich das Experiment wagen. Oh, Liebster, ich habe Angst! Vielleicht wird dieser Brief doch nicht so kurz werden - denn jede Zeile, jedes Wort, das ich schreibe, ist ein kleiner Aufschub.

Das alles wirst Du wahrscheinlich nie erfahren. Zumindest wirst Du es nicht wissen, wenn der Versuch mißlingt. Wenn es schiefgehen sollte, werde ich nicht mehr sein, um es Dir zu erzählen. Aber auch wenn ich am Leben bleibe, so glaube ich nicht, daß Du je heimkommen würdest, denn dieser Krieg wird noch lange dauern, und er verschlingt Menschen wie eine ewig hungrige, riesenhafte Bestie - und sicher vor allem Menschen, die verurteilt sind, in Einheiten wie dem Strafbataillon zu leben. Wir werden dann zwei von den Millionen Opfern des Krieges sein, zwei Namenlose, deren Schicksal niemand aufrütteln wird, denn es wird untergehen in vielen, vielen anderen Schicksalen, die nicht minder schwer sind. Übrigbleiben wird der geschichtliche Begriff: Krieg. Übrigbleiben wird dieses schreckliche Wort, dessen Tragweite niemand ermessen kann, der nicht gerade zu der Zeit gelebt hatte, als er wütete, und alle anonymen, tausendfachen Schicksale werden in diesem Sammelbegriff verschwinden.

In wenigen Minuten ist es soweit. Und in zehn oder zwölf Stunden werde ich wissen, ob wir recht hatten mit unserem Aktinstoff oder ob wir uns getäuscht haben. Ich verspreche Dir, tapfer zu sein ... ich werde es versuchen. Auf alle Fälle aber laß mich Abschied nehmen von Dir. Ich versuche zu lächeln, während ich das schreibe, nicht zu weinen. Ich versuche an die unzähligen schönen, glückhaften Stunden zu denken, die wir zusammen verlebt haben, und nicht an das Bittere, das danach kam. Wenn ich Lebewohl sage, dann will ich zugleich sagen: Ich habe ein erfülltes Leben hinter mir, obwohl es so kurz war.

Und ich will daran glauben, daß wir uns wiedersehen werden, daß wir beide jetzt nur durch eine tiefe, lange Nacht gehen, hinter der ein Morgen kommen muß. Ich küsse Dich in

Gedanken, wie damals, als Du mir sagtest: Gott hat die Welt erschaffen, damit es auch dich gibt. Damals war ich Dir dankbar für diese Worte, aber nicht so wie heute. Heute würde ich auch Dir dasselbe sagen.

Deine Julia.«

Sie legte den Brief, ohne ihn noch einmal zu überlesen, zu den anderen nicht abgeschickten Briefen, klappte die Ledermappe zu, in der sie die Schreiben aufbewahrte, und steckte sie in einen Koffer, den sie sorgfältig verschloß. Dann ging sie ins Labor und trat zu einem hölzernen Ständer, auf dem zwei kleine Phiolen mit leicht trüber Flüssigkeit standen.

Ohne mit der Hand zu zittern, zog sie zwei Spritzen mit der Flüssigkeit auf. Ihre Bewegungen waren knapp und ruhig.

Es war 11.17 Uhr vormittags.

Sie klappte eine Kladde auf und trug die Zeit mit dem Datum als Kopf des Berichtes ein, den sie über sich selbst schreiben wollte.

Sie schrieb:

11.19 Uhr. Erste Injektion mit 2 ccm Staphylokokkus aureus intramuskulär, in den musculus vastus lateralis.

Sie hatte die Einstichstelle am Oberschenkel vorher mit Alkohol gereinigt. Hinterher mußte sie darüber lächeln. Wie selbstverständlich waren ihr die einzelnen Handgriffe geworden! Sie reinigte die Einstichstelle, in die sie Eiter injizieren wollte! Über diese Widersinnigkeit lächelte sie noch, als sie mit der dünnen Hohlnadel in den Muskel stach, die Flüssigkeit schnell in das Fleisch drückte und die Nadel wieder mit einem Ruck herauszog.

Die zweite Spritze injizierte sie sich in den Unterarm. Anschließend trug sie in die Kladde ein:

11.22 Uhr: Injektion Nr. 2 in den musculus flexor digitorum profundus. Ich unterbreche hier den Versuch und warte die

Wirkung ab.

Sie stellte den Wecker auf 21.00 Uhr und legte sich auf das alte Ledersofa. Hier hatte Ernst oft gegen Morgen, erschöpft von der durchwachten Nacht, ein oder zwei Stunden geschlafen. Die Vorhänge vor den beiden Fenstern waren zugezogen, es herrschte eine fahle Dämmerung, in der alle Gegenstände um sie unwirklich wurden. Neben dem Sofa stand auf einem Tischchen das Telefon. Daneben lag ein Zettel mit den Rufnummern Dr. Wisseks in der Charite und in seiner Wohnung.

Sie hatte versucht, an alles zu denken, bevor sie mit dem Experiment begann. Ihre Notizen wiesen auch die geringste Einzelheit auf. Kühl und überlegt ordnete sie, was zu ordnen war, wie ein alter, müder und über seinen Tod hinaus korrekter Mann, der mit seinem Leben abschloß, weil er das nahende Ende fühlte. Sie hatte sogar einen Brief an Dr. Kukill geschrieben, der - ohne daß sie es wollte - mit den bitteren Worten begann: »Wären Sie als gerichtlicher Sachverständiger mehr Ihrem Gewissen oder auch Ihrer Einsicht gefolgt und nicht den Vorurteilen des sogenannten >Gebotes der Stundec, dann wäre es nie so weit gekommen, daß Sie diesen Brief lesen müssen ...«

Es war vollbracht. Ruhig, als habe sie eine leichte Dosis Schlafmittel genommen, lag sie auf dem alten Ledersofa. Ihr Gesicht war sehr bleich und ihre Augen geschlossen. Sie dachte an Ernst. Sie dachte an den grausamen russischen Winter, von dem sie so viel gehört hatte. Ob er wohl einen Mantel hatte? Ob er wohl ihr Päckchen bekommen hatte mit den dicken Wollhandschuhen, Socken und Schal und dem Kuchen und zwei Schachteln Zigaretten und anderen Kleinigkeiten? Ob er Filzstiefel besaß? Oder sogar Pelzstiefel? Es waren kleine, vorbeifließende, zärtliche Gedanken einer Frau, die sich Sorgen um ihren Mann machte oder einer Mutter um ihren Sohn.

Am frühen Nachmittag - sie sah auf die Uhr: 14.16 - hörte sie, wie ein Wagen draußen vorfuhr. Am Motorengeräusch erkannte sie, daß es Dr. Kukills Auto war. Eine Weile war es still, dann gingen leise, über den Kies knirschende Schritte um das Haus. Dann klingelte es an der Eingangstür zweimal -dreimal - fünfmal. Einen Augenblick lang mußte sie mit aller Macht gegen den Wunsch ankämpfen, aufzustehen, zur Tür zu laufen, aufzuschließen und ihm alles zu erzählen, um Hilfe zu bitten, bevor es zu spät war. Doch sie blieb liegen, preßte die Hände gegen die Ohren und drehte den Kopf zur Wand. Und wieder nach einer langen Weile hörte sie, nun kaum vernehmbar, den Motor des Wagens anspringen. Dann entfernte sich das Geräusch schnell und erstarb.

Dr. Kukill war wieder fortgefahren.

Die Ruhe des leeren Hauses, die Dämmerung des Labors schläferten Julia ein. Sie schreckte hoch, als neben ihrem Kopf das Telefon schrill klingelte. Aber sie hob den Hörer nicht ab. Es war sicher wieder Dr. Kukill, und sie wollte ihn nicht sprechen.

18.47 Uhr: Sie sah auf die Einstichstellen. Um die am Oberschenkel hatte sich ein kleiner roter Kreis gebildet. Am Unterarm zeigten sich keinerlei Symptome. Sie trug diese Beobachtungen gewissenhaft in die Kladde ein, maß ihre Temperatur und stellte am Oberschenkel eine leichte Druckempfindlichkeit fest.

Gegen 20.30 Uhr rief sie Dr. Wissek in der Charite an, noch bevor der Wecker zu klingeln begann, getrieben von einer starken Unruhe, der sie nicht Herr werden konnte und die ihr das Gefühl gab, als bekäme sie zu wenig Luft.

»Tag, Mädchen, wie geht’s? Was kann ich für dich tun?« hörte sie die Stimme des Freundes wie durch das Rauschen einer Brandung. Sie fühlte ihre Stirn und zuckte zurück. Die Haut war glühend heiß und feucht.

»Und du, wie geht es dir?« fragte sie mit Mühe. »Hast du viel zu tun?« »Wie immer. Der Operationssaal ist beinahe mein Schlafzimmer geworden.«

»Ich habe eine Bitte, Franzl .«

»Schieß los. Schon erfüllt!«

»Ich brauche ein Bett.«

»Hier in der Charite? Ausgeschlossen! Aber Julchen - wie stellst du dir das vor?« versuchte Dr. Wissek seine schroffe Absage zu mildern. »Wir haben die Patienten schon im Luftschutzkeller übereinander liegen. Hast du etwa auch -Privatpatienten?«

»Nein, ich brauche das Bett dringend, sonst würde ich nicht anrufen.«

»Um was handelt es sich denn?«

»Staphylokokkus aureus. Infektion. Unterarm und Oberschenkel«, sprach Julia langsam, schwer atmend.

»Schwer?«

»Ziemlich.«

»Also voraussichtlich Amputation. Wer ist es denn?«

»Ich«, sagte Julia.

Einen Augenblick war es auf der anderen Seite still. Dann kam aus dem Hörer ein zischendes Geräusch, als hätte der Mann am anderen Ende die Luft tief und krampfhaft eingeatmet, und dann hörte sie wieder seine Stimme, doch jetzt hoch, verändert, fassungslos: »Julia - Julia - was machst du, was ist geschehen?«

»Ich habe Ernsts Versuch wiederholt.« Julia zwang sich ruhig und klar zu sprechen, obwohl das Zimmer um sie zu tanzen begann und sie sich wie betrunken fühlte. »Die einzige Möglichkeit ist ... mit Ernsts Aktinstoff ... Hör zu, Franzl: Du kannst mich jetzt abholen. Ich liege im Labor auf dem Sofa. Auf dem Tisch wirst du den Aktinstoff finden und die Gebrauchsanweisung.« Bei dem letzten Wort nahm sie dreimal Anlauf, bevor sie es mit der trockenen, wie Glaspapier rauhen

Zunge bilden konnte. »Halt dich daran, sonst ist alles umsonst. Hast du mich verstanden?«

»Ja - aber ...«

»Ich kann jetzt nicht mehr weitersprechen. Mach’s gut, Franzl und .«

Sie wollte »Auf Wiedersehen« sagen, aber sie brachte die Worte nicht sogleich heraus, und dann vergaß sie, was sie ihm sagen wollte. Mühselig legte sie den Hörer wieder auf und sank dann zurück. Es geht weiter, dachte sie sinnlos, immer weiter und hundert Millionen kleine Biester ... eine Milliarde ...

Oberfeldwebel Krüll schien an seinen Streifzügen durch die fertigen und halbfertigen Gräben Spaß gefunden zu haben. Die überraschten Gesichter der Männer, vor denen er plötzlich auftauchte, verschafften ihm eine tiefe Befriedigung, die größer war als seine Furcht vor russischem Artilleriefeuer. Zudem war es seit einigen Tagen an der Front merkwürdig still - eine Stille, die alte Soldaten nichts Gutes ahnen ließ - und so erschien ihm das Risiko der Besichtigungen nicht allzu groß. Möglich auch, daß er sich nach seinem ersten Erlebnis im Graben selbst beweisen wollte, er wäre nach der Feuertaufe ein furchtloser Krieger geworden. Jedenfalls fuhr er eines Abends zum drittenmal zu den Gräben. Doch diesmal lief es nicht so glimpflich ab. Als der Bautrupp am Waldrand entlangfuhr, wurde er plötzlich von Partisanen beschossen. Es war kein starker Feuerüberfall, eigentlich kaum der Rede wert, und niemand hätte ein Wort darüber verloren - wenn nicht ausgerechnet Krüll etwas abbekommen hätte.

Auf dem Verbandsplatz in Barssdowka fiel Kronenberg aus allen Wolken, als sich die Tür der Scheune öffnete und Oberfeldwebel Krüll eintrat.

Kronenberg warf seine Verbände hin und schob sich zwischen den Betten auf den Gang, den Krüll entlangkam. Erst jetzt sah er, daß sich der Oberfeldwebel auf einen Stock stützte und anscheinend nur mühsam gehen konnte.

»Das ist doch nicht möglich ...«

»Was denn, mein Sohn?«

»Sie - Sie sind doch nicht verwundet?«

»Wenn es Sie beruhigt - ja, mich hat’s erwischt. Schuß in den Hintern!«

»Wo - wohin?« Kronenberg schluckte. Das war einer der schönsten Augenblicke seines Lebens. »Was haben Sie gesagt? In den ...?«:

»So ist es - genau in die linke Backe. Ich habe sie eine Zehntelsekunde zu langsam herunterbekommen.«

»Und da machte es bumm?«

Krüll verzog den Mund. Er hatte offensichtlich Schmerzen, und es war ihm nicht mehr zum Scherzen zumute. »Kronenberg«, sagte er langsam, »wenn Sie, dämliche Mißgeburt, denken, mit mir einen Zirkus zu veranstalten, dann haben Sie sich schwer getäuscht! Welches Bett?«

»Über die Einweisung ins Lazarett entscheidet der Herr Stabsarzt. Ob Sie ein Bett bekommen, Herr Oberfeldwebel, hängt davon ab, wie groß das Loch da hinten ist ... Vielleicht genügt ambulante Behandlung. Es wäre nicht das erstemal.« Kronenberg ging um Krüll herum. »Man sieht ja gar nichts -!«

»Als anständiger Mensch habe ich die Hosen gewechselt.«

»Wieder einmal - nach einem Jahr!« schrie einer aus der Tiefe der Scheune. Brüllendes Gelächter folgte. Kronenberg grinste diskret.

»Sie dürfen nicht auf sie hören, Herr Oberfeldwebel«, sagte er wie entschuldigend. »Sie wissen ja - jede Abwechslung .«

»Idioten!« schrie Krüll laut und verächtlich.

In der Tür erschien Dr. Hansen. Er trug einen weißen Chirurgenkittel und eine lange, blutbespritzte Gummischürze. Krüll

meldete sich, immer noch stramm. Blaß, sichtlich von Schmerzen gepeinigt, aber mit Haltung den Spott um sich herum schluckend, stand er zwischen den grinsenden Gesichtern. Dr. Hansen empfand fast Mitleid mit ihm. Er legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Kommen Sie mit, Oberfeldwebel, ich werde Sie untersuchen. Schon eine Tetanusspritze bekommen?«

»Jawohl, von Sanitäter Deutschmann.«

Krüll dachte an diese Situation nicht gern zurück. Nachdem ihn Wiedeck und Hefe nach dem Feuerüberfall in den Schlitten geschleift und nach Gorki gebracht hatten, setzte sich Deutschmann neben ihn und begann Mullbinden zu zählen.

»Nur noch 17 Stück«, sagte er bedauernd. »Herr Oberfeldwebel haben von Verschwendung gesprochen, als ich Schütze Siemsburg mit vier Binden verband. Bei Ihnen muß es jetzt wohl mit zwei gehen .«

»Machen Sie keinen Quatsch, Deutschmann!« stöhnte Krüll. Die Wunde brannte. Sein linkes Bein war gefühllos. Ich sterbe langsam ab, dachte er entsetzt.

»Zuerst die Spritze!« Deutschmann schnitt ihm die Hose auf. Als er die blutverkrusteten Fetzen der Unterhose mit einem Ruck von dem Einschuß riß, schrie Krüll auf. Es war nicht sehr viel zu sehen. Eine einfache Fleischwunde: Die kleinkalibrige Kugel einer Maschinenpistole hatte den Muskel nicht tief unter der Haut glatt durchschlagen.

»Oh, oh, oh - der halbe Hintern ist weg!« sagte Deutschmann voll spöttischen Mitleids.

»Halten Sie den Mund und geben Sie die Spritze!«

»Sofort!« Deutschmann holte die Spritze, suchte eine besonders stumpfe Nadel aus, die er eigentlich schon zurückgeben wollte, zog aus der Ampulle das Serum und klopfte Krüll väterlich auf das nackte Gesäß. »Nur ein bißchen Geduld -jetzt macht der Onkel Doktor pik, und dann ist alles vorbei!« »Ich - jei!« schrie Krüll hell auf. Deutschmann hatte die Nadel langsamer als erlaubt in das Fleisch hineingedrückt und drückte nun das Serum nicht minder langsam in den Muskel. Als er die Nadel wieder herauszog, konnte er dem tiefen Wunsch, noch einmal anzufangen, kaum widerstehen.

»Fertig?« stöhnte Krüll.

»Aber nein, ich muß die Wunde noch säubern und verbinden.«

»Macht man das nicht hinten?«

»Ab und zu kann man’s auch hier machen. Sie wissen ja, ich bin immerhin ein Gelernter.«

»Machen Sie’s mit - Betäubung?«

»Aber, aber! Bei Ihnen doch nicht. Sie sind doch nicht wehleidig, oder?«

»Und dann?«

»Mal sehen, was der Herr Oberleutnant sagt.«

»Wann bringen Sie mich zurück nach Barssdowka?«

»Ich glaube nicht, daß dies so dringend notwendig ist. Dort kommen nur schwere Fälle hin, wissen Sie, Sie haben das ja selbst befürwortet ...«

»Aber Sie sagten doch ... es ist eine große Wunde ... das kann Gasbrand geben ...«

»Und dann eine große Narbe. Sie sind doch keine Schönheitstänzerin, Herr Oberfeldwebel, da macht es ja nichts.«

Das Verbinden war für Krüll nicht weniger schmerzhaft als die Tetanusspritze. So hatte er mit zusammengebissenen Zähnen beschlossen, sich an Deutschmann bei erster sich bietender Gelegenheit zu rächen. Nachts wurde er dann nach Barssdowka gebracht. Die ganze dienstfreie Kompanie war versammelt, als er zu dem Schlitten humpelte und mit schmerzhaft verzogenem Gesicht hinaufkletterte. Als er abfuhr, sangen einige Stimmen: »Muß i denn, muß i denn, zum Städtele hinaus ...« Krüll verkroch sich in seinen dicken Pelz. Er hätte vor Wut weinen können, vor Wut und vor der plötzlichen Erkenntnis, daß er ganz allein war, daß alle gegen ihn standen und sicherlich wünschten, seine Verwundung wäre viel schwerer - oder sogar tödlich gewesen ...

Gegen 23 Uhr erschien Dr. Kukill wieder vor der Villa Dr. Deutschmanns in Dahlem. Seitdem er einige Male versucht hatte, Julia telefonisch zu erreichen, konnte er es nicht mehr aushallen. Einige Sätze und hingeworfene Worte Julias fielen ihm wieder ein, Worte, die er damals, als sie gesprochen wurden, nicht besonders ernst genommen hatte, die aber jetzt einen unheimlichen, bedeutungsschweren Sinn erhielten:

»Von meinem Selbstversuch wird niemand etwas erfahren, bis es soweit ist«, sagte Julia einmal.

Oder: »Auch Sie werden mich nicht zurückhalten können.« Oder: »Ich werde allen beweisen, daß man Ernst unrecht getan hatte.«

Diesmal begnügte sich Dr. Kukill jedoch nicht damit, um das Haus herumzugehen und in die Fenster zu sehen, ob er irgendwo einen Lichtschein bemerkte, das Bewegen einer Gardine, ein Geräusch wahrnahm, das ihm verraten würde, daß Julia zu Hause war. Er rannte sogleich auf die Rückseite des Hauses, klopfte einige Male gegen die Küchentür und drückte schließlich das Fenster ein.

Die Küche war peinlich genau aufgeräumt. Nur auf dem Herd stand ein Topf voll Bohnensuppe.

»Julia!« rief Dr. Kukill. »Julia - wo sind Sie? Warum verstecken Sie sich vor mir?«

Keine Antwort. Seine Stimme hallte durch das stille Haus, und Dr. Kukill wußte plötzlich, daß er umsonst rief. Das Haus war leer. Er rannte weiter - durch die Diele - in das Wohnzimmer - in das Arbeitszimmer.

Als er die schwere Tür des Labors aufriß, blieb er wie festgenagelt stehen. In dem großen, sorgfältig verdunkelten Raum brannten alle Lampen. Auf dem Ledersofa in der Ecke lag eine zusammengeknüllte Decke. Das Telefon stand auf einem Beistelltisch neben dem Sofa und neben dem Telefon ein weißes Viereck: ein Brief.

Langsam, wie unter einem Zwang ging er hin. Der Brief war an ihn adressiert. Sein Blick blieb an einem Zettel hängen, der halb unter das Telefon geschoben war: Dr. Franz Wissek, Charite, und dann die Nummer. Ohne den Blick von dem Zettel zu lösen, riß er das Kuvert auf.

Dann las er:

»Wären Sie als gerichtlicher Sachverständiger mehr Ihrem Gewissen oder auch Ihrer Einsicht gefolgt und nicht den Vorurteilen des sogenannten >Gebotes der Stundec, dann wäre es nie soweit gekommen, daß Sie diesen Brief lesen müssen.

Ich werde den Selbstversuch unternehmen. Und wenn Sie diese Zeilen lesen, werde ich entweder nicht mehr am Leben sein oder - den Beweis erbracht haben, daß die Verurteilung meines Mannes ein Irrtum war.

Vermuten Sie in mir keine Heldin. Ich habe entsetzliche Angst. Aber es ist der einzige Weg, Ernst zu rehabilitieren und das Werk fortzusetzen, von dem er überzeugt war und an das auch ich glaube ...«

Er zwang sich, den Brief Zeile für Zeile, Wort für Wort durchzulesen. Und gerade, weil Julia nicht anklagte, sondern kühl und sachlich mitteilte, empfand er seine Schuld um so tiefer. Es stimmte genau, was Julia im ersten Satz schrieb. Doch - wo war sie jetzt?

Vielleicht half ihm der Zettel mit der Telefonnummer weiter? Charite - natürlich! Sie wird dort irgend jemanden, nein -diesen Dr. Wissek angerufen haben ... sicher war sie jetzt dort

Es war, als hätte eine Welle fieberhaften Lebens Dr. Kukill erfaßt und ihn emporgehoben. Seine Hände zitterten, als er den Telefonhörer von der Gabel riß und die Nummer wählte, die auf dem Zettel angegeben war.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er die Verbindung bekam.

Kukill trommelte mit den Fingern nervös auf die Tischplatte, und dann hörte er Schritte, die näherkamen, und eine männliche Stimme:

»Dr. Wissek.«

»Ist Julia - Frau Julia Deutschmann bei Ihnen?« Dr. Kukill zwang sich mit aller Macht zur Ruhe.

»Wer spricht dort?«

»Kukill - Dr. Kukill - antworten Sie mir, Mann! Ist Frau Julia bei Ihnen?«

»Ja. Warum wollen Sie denn das wissen?«

»Herrgott - fragen Sie nicht - was ist los?«

»Es sieht schlecht aus ... eine allgemeine Infektion .«

»Schlecht?«

»Sehr.«

Es war Dr. Wissek, als höre er ein leises, unterdrücktes Schluchzen. Aber das war völlig unmöglich, er mußte sich getäuscht haben. Der junge Arzt kannte Dr. Kukill - wer kannte ihn nicht? -, und es schien ihm unvorstellbar, daß Dr. Kukill weinen könnte. Es war völlig absurd, und doch ...

»Ich komme sofort!« hörte Dr. Wissek nach einer Weile Kukill sagen. Und dann, wie der Hörer am anderen Ende aufgelegt wurde. Einige Sekunden stand er noch ratlos da, schüttelte den Kopf, legte selbst auf und sagte zur Telefonistin: »Wenn mich nicht alles täuscht, hat es jetzt jemanden schwer erwischt!«

In einem abseits liegenden kleinen Zimmer lag Julia und rang mit dem Tode. Verzweifelt und hilflos standen die Ärzte um ihr Bett und sahen zu, wie Professor Dr. Burger, den Dr. Wissek aus dem Bett geholt hatte, die dritte Injektion mit dem von Dr. Deutschmann entwickelten Aktinstoff machte. Er injizierte das Serum in die Armvene, damit es schneller wirken sollte.

Julia lag im Koma. Ihre Haut war fahl, blaß, mit kaltem Schweiß überzogen, ihre Fingerkuppen waren weißlich, und die Nase stach erschreckend hart aus dem verfallenen Gesicht.

»Ich weiß nicht, ob es viel Sinn hat«, sagte Professor Dr. Burger, als er die Spritze leergedrückt hatte. »Bei einer solch irrsinnigen Infektion versagen alle konventionellen Mittel. Und an diesen Aktinstoff glaube ich nicht. Ich habe mir abgewöhnt, an Märchen zu glauben.«

Dr. Wissek nickte. Dann sagte er unvermittelt: »Dr. Kukill hat angerufen, daß er hierherkommen will.«

»Was will denn der hier?« Professor Burger sah überrascht auf. Seine hellen Augen im faltigen Gesicht unter dem schlohweißen Haar waren müde.

Dr. Wissek erwiderte: »Er war sehr aufgeregt ...«

»Ach so, ach so. Nun - das kann ich mir ja denken ... schließlich hat er ja ... Sie kennen doch die Geschichte?«

»Es war eine Schweinerei«, sagte Dr. Wissek hart.

Professor Burger antwortete nicht. Er schob Julias Lider hoch und sah auf die Augäpfel. Sie waren starr, gläsern.

»Hat sie Cardiazol bekommen?«

»Ja.«

Der Professor stand auf. »Sie sind ja hier, bleiben Sie bei ihr. Wenn irgend etwas geschehen sollte, rufen Sie mich.«

Dr. Wissek nickte. Er konnte jetzt nichts sagen. In seinem Hals saß ein Kloß, er fürchtete sich, zu sprechen.

»Ich möchte nicht diesen - diesen Kukill sehen«, sagte Professor Burger und ging dann wortlos hinaus.

Dr. Wissek zog einen Stuhl zum Bett und setzte sich hin. Seine straffe, jugendliche Gestalt sank in sich zusammen. Er hatte den ganzen Tag gearbeitet. Mechanisch griff er nach Julias Arm

und fühlte den Puls.

So fand ihn Dr. Kukill.

Es war ein anderer Dr. Kukill, dieser Mann, der ins Zimmer gestürmt kam, mit wirren Haaren, ohne Mantel, mit einem heruntergerutschten Schlips und schweißnassem Gesicht, als derjenige, den Dr. Wissek in Erinnerung hatte: von einigen Gesellschaften her, Empfängen, zuletzt vom Prozeß gegen Ernst. Er war um Jahre gealtert, und seine kühle und spöttische Selbstsicherheit schienen verpufft. Ohne sich um Wissek zu kümmern, kniete er vor Julias Bett nieder.

»Warum hat sie das bloß getan?« fragte er heiser, und Dr. Wissek hatte den Eindruck, daß er ihn nicht fragte, sondern sich selbst oder einfach fragte, wie schon so viele vor ihm, denen gesagt werden mußte, daß ein Mensch, den sie liebten, gestorben sei: Warum? Warum mußte das geschehen?

»Guten Abend, Kollege Kukill«, sagte Dr. Wissek leise. In seiner Stimme schwang bitterer Sarkasmus.

»Was?« Kukill sah verständnislos zu ihm auf und blickte dann wieder auf Julia. »Wieviel Aktinstoff haben Sie injiziert?«

»Zweimal 5 ccm.«

»Mein Gott - ist das nicht zuviel?«

»Was kann hier noch passieren?« sagte Dr. Wissek.

»Und sonst? Haben Sie sonst nichts unternommen? Sulfonamide?«

»Wir haben alles getan.«

Dr. Kukill prüfte Julias Puls, zog - genauso wie Professor Burger vor ihm - ihre Lider hoch, blieb noch eine Weile knien, stand dann langsam, sich auf das Bett stützend, auf. »Und Sie meinen?« fragte er dann, ohne den Blick von Julias Gesicht zu wenden. Er erwartete keine Antwort, denn er wußte selbst: Hier schien nichts mehr zu helfen. Dann drehte er sich um und ging langsam hinaus, als ob er sich zu jedem Schritt zwingen mußte.

Dr. Wissek sah hinter ihm her und fühlte jetzt keinen Zorn mehr gegen diesen Mann.

In Barssdowka war der Teufel los.

Nicht allein, daß Oberfeldwebel Krüll mit seinem Hinternschuß Mittelpunkt des Feldlazaretts wurde, mit Kronenberg erregte Diskussionen beim Verbandwechseln führte und sich auch sonst bemerkbar machte, auch Schwanecke sorgte für Abwechslung.

Das zweite und das dritte Verhör durch Oberleutnant Obermeier waren genauso ergebnislos verlaufen wie das erste. Schwanecke leugnete, irgend etwas mit Beverns Tod zu tun zu haben. Er machte es sehr geschickt und überzeugte Obermeier beinahe, daß alle Verdächtigungen gegen ihn gegenstandslos seien. So sagte er zum Beispiel: »Klar, ich hab’ manchmal daran gedacht, den Herrn Oberleutnant ... Sie verstehen schon. Aber welcher Rekrut tut das nicht?

Und sagen Sie mir, Herr Oberleutnant, welcher Landser hat solche Gedanken nicht, wenn ein Vorgesetzter ... na ja, Sie wissen schon! Aber das zu tun? Um Gottes willen! Und Sie sagen selbst, das Ganze soll sehr gut vorbereitet gewesen sein. Ach, du liebe Zeit, und wann hätt’ ich die Zeit, das vorzubereiten? Zuerst lag ich hier im Lazarett, und dann mußte ich Wache schieben ... wie sollte ich wissen, wann Herr Oberleutnant zur Inspektion und daß er ausgerechnet zu mir kommen würde? Es war genau, wie ich es erzählt habe. Ich sagte: >Da drüben sind Scharfschützen, da muß man aufpassenc. Und der Herr Oberleutnant sagte: >Haben Sie etwa Angst, Sie Scheißkerl?< Und guckte ‘rüber, und da hat’s schon geknallt. Genauso war’s!«

Obermeier gab das Protokoll der Verhöre mit dem Bericht Dr. Hansens an Hauptmann Barth weiter und sprach selbst mit ihm über das Telefon, das ausnahmsweise einmal intakt war.

»Es sind doch alles Vermutungen ...«, sagte Barth. »Sie können dem Kerl ja nichts beweisen. Niemand hat irgend etwas gesehen ...«

»Was soll ich mit ihm machen? Festsetzen?«

»Nein, warum?«

»Er könnte immerhin .«

»Sie meinen - fliehen? Wohin soll er gehen? Zu den Partisanen? Er weiß ganz genau, daß die keine Gefangenen machen. Und über die HKL wird er kaum kommen. Nein, nein, halten Sie ihn in greifbarer Nähe. Irgendwo beim Stab, er ist ja recht brauchbar. Und lassen Sie ihn nicht fühlen, daß Sie weiterhin Verdacht gegen ihn haben, damit er nicht kopfscheu wird. Ach

- was ich noch fragen wollte ... warum bemühen Sie sich eigentlich so sehr um die Aufklärung des angeblichen Mordes? Wenn ich mich nicht irre, mochten Sie Bevern nie so recht.«

»Es geht ums Prinzip, Herr Hauptmann.«

»Mein lieber Junge, Sie werden an einem Ihrer Prinzipien noch einmal ersticken. Lassen Sie sich das gesagt sein von einem, der es wissen muß .«

So kam es, daß Schwanecke in Barssdowka blieb und beim Stab Dienst machte. Doch allen, die ihn von früher her kannten, fiel sein verändertes Wesen auf. Er war noch mürrischer und verschlossener geworden, und seine Antworten auf neugierige Fragen bestanden meist aus Flüchen. Er schien keine Ruhe zu finden und gönnte sich kaum Schlaf. Wie ein gefangenes Raubtier strich er, wenn er nur konnte, um Barssdowka herum. Er wanderte ruhelos durch den Schnee, die Straße nach Babinitschi hinab, die Straße nach Gorki oder nach Orscha ...

Er suchte Tartuchin.

Über Bevern machte er sich keine Gedanken. Die Sache war für ihn erledigt. Für ihn - aber nicht für die anderen. Und er wußte nicht, daß zwischen Orscha und dem Stammlager in

Posen, zwischen Posen und Frankfurt/Oder und wieder zurück Schriftstücke, Meldungen und Telefongespräche gewechselt wurden, die sich mit ihm befaßten, mit ihm und Oberleutnant Bevern. Man hatte zwar keine Beweise für Schwaneckes Schuld, aber man kannte sein Vorleben. Und selbst wenn sein Vorleben weiß wie neugefallener Schnee gewesen wäre, so war er verdächtig. Und verdächtig sein konnte zu jener Zeit nicht nur den Soldaten eines Bewährungsbataillons den Kopf kosten.

Für Deutschmann kam wieder der Tag, an dem er von Stabsarzt Dr. Bergen nach Orscha geschickt wurde.

»Sie kennen ja diesen Apotheker«, sagte der Arzt, als er Deutschmann eine lange Liste in die Hand drückte. »Wenn Sie nur ein Viertel von diesem Zeug mitbringen, das ich hier aufgeschrieben habe, dann sind wir glücklich.«

Je näher der Schlitten Orscha und dem Dnjepr kam, um so unruhiger wurde Deutschmann. Er wußte, daß er Zeit genug haben würde, Tanja wiederzusehen. Er würde sie im Schlaf überraschen, wie das letztemal ... er würde neben ihrem Lager knien und ihren Kopf zwischen seine Hände nehmen, und dann würde er wieder jenseits der Vergangenheit und der Gegenwart sein, auch jenseits jeglicher Erinnerung: An Julia, an Berlin, an Dr. Ernst Deutschmann aus Dahlem, an das Leben, aus dem man ihn herausgerissen hatte. Er würde weiter nichts sein als der Landser Deutschmann, ein Schütze der 2. Kompanie des Strafbataillons, der Hilfssani, der Verbände, Morphium, Car-diazol, Tetanusserum und Evipan holen mußte. Weiter nichts: Eine Nummer in einer Wehrstammrolle, ein Name wie alle anderen Namen. Und: Ein glücklicher Mann. Ein Mann ohne Reue und ohne Gewissensbisse und in den Augenblicken des Vergessens ohne den Gedanken, daß er Verrat an einer anderen Frau übte - einer Frau, die so weit weg von seinem jetzigen Leben war, so unerreichbar, daß sie ihm wie ein schönes Bild erschien, das er einmal vor langer Zeit betrachtete, bewundert und besessen hatte.

An der hölzernen Dnjeprbrücke kontrollierten Feldgendarmen die Urlaubsscheine und Marschbefehle.

Während die Gespräche und die vielfältigen Geräusche an seine Ohren plätscherten, sah Deutschmann hinab auf die kleine Hütte am Dnjeprufer. Dort hatte sich nichts verändert. Die Holzstapel waren noch da, die Stalltür hing schief in ihrer Angel, ein schmaler schmutzig-weißer Pfad zog sich durch den Schnee zur verschlossenen Bohlentür ...

Die Ausgabe des Sanitätsmaterials ging schneller vonstatten als das letztemal. Der Apotheker war nicht da, und ein stiller, freundlicher Sanitäter holte zusammen, was Deutschmann verlangte. Er bekam zwar nicht alles, aber es war mehr als ein Viertel ... Er konnte sich das zufriedene Gesicht Dr. Bergens genau vorstellen. Doch alles dies, die Stadt, die von Soldaten wimmelte, der freundliche, hilfsbereite Sanitäter, seine eigene Zufriedenheit über den gut erfüllten Auftrag, all dies berührte ihn nicht, als ginge es ihn nichts an. Alle seine Gedanken und sein Sehnen waren in der kleinen Hütte am Dnjepr.

Die Nacht war sehr dunkel. Deutschmann tastete sich den Hang hinunter und öffnete leise die Tür zu Tanjas Kate, nur so weit, daß er hineinschlüpfen konnte.

Als er in der warmen Dunkelheit des Raumes stand, war es ihm, als habe er eine neue Welt betreten, die allein ihm gehörte, eine Welt ohne Krüll, ohne Schwanecke, ohne Obermeier, ohne Dr. Bergen, ohne Krieg ... Es war seine Welt, und sie war zugleich sein Traum und sein Vergessen.

»Es wird kein Ende nehmen ...«, sagte Tanja gegen Morgen.

»Was?«

»Das Glück.«

»Wir müssen daran glauben. Dann wird es vielleicht bleiben.«

»Es ist schwer, immer zu glauben.«

»Dann kannst du es nicht zurückhalten, Tanja.«

»Ich würde sterben, Michael. Aber trotzdem - nur der Tod kann mein Glück beenden.«

»Es ist Krieg, Tanjascha.«

»Kann man den Krieg nicht besiegen - durch Liebe?«

»Nicht wir beide allein. Ich fürchte ...«

»Was?« Sie hob den Kopf ein wenig und blickte ihn an. Er starrte gegen die Decke. Sein Gesicht war kantig, schmal, fremd. »Du darfst nicht wieder weggehen, Michael«, sagte sie beschwörend, »du darfst nicht!«

»Ich werde es wohl müssen.«

»Wann?«

»Wie kann ich das wissen? Das weiß nur Gott allein.«

»Glaubst du an Gott?«

»Ja. Und du?«

»Ich bin bei den Komsomolzen groß geworden, verstehst du? Ich habe gelernt, daß es keinen Gott gibt, nur Stalin und Lenin, die Partei und den Sozialismus. Meine Mutter ... ich kann mich erinnern, sie sprach oft von Gott. Meine gute, arme Mamuschka, sie ist gestorben, als ich noch ein ganz kleines Mädchen war.«

»Und dein Vater?«

»Er wurde verschleppt. Ich weiß nicht wohin, ich habe nie mehr von ihm gehört. Und ich kam in ein Komsomolzenheim.« Jetzt sah sie gegen das verhangene, gegen die Kälte mit Papier an den Seiten verklebte Fenster. Der Morgen dämmerte ... der schreckliche Morgen mit dem letzten Kuß und mit dem schrecklichen Wort »Auf Wiedersehen«.

»Woran denkst du?« fragte er und zog ihren Kopf wieder zu sich herab.

»Warum bleibst du nicht bei mir?«

»Ich kann nicht.«

Vor der Hütte, am Ufer des Dnjeprs, fingen Motoren an zu dröhnen. Über die Holzbrücke polterten die Lastwagen des Nachschubs. Stimmen schrien dünn und kaum hörbar durch den eisigen Morgen. Weiter oben zerbarst das Eis unter den Sprengladungen der Pioniere. Als Deutschmann aufstehen wollte, hielt sie ihn fest. Sie klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende.

»Bleib! Nur noch eine Stunde, eine einzige Stunde!«

»Es geht nicht. Ich muß weg.«

»Ich sehe dich nie wieder!« schrie sie grell. »Ich weiß es, ich weiß es ganz genau. Du bist gekommen, und du warst hier. Jetzt gehst du und wirst nie mehr wiederkommen. Ich liebe dich ... Du darfst nie gehen, du darfst nicht!«

Er nahm den Krug mit Krimwein, den Tanja am Abend, als er gekommen war, aus einem Versteck geholt hatte, und trank einen langen Schluck.

»Ich töte dich, wenn du gehst«, sagte Tanja leise.

Deutschmann schwieg.

»Du bleibst hier, Michael!« sagte sie, noch leiser geworden, während sie zum Ofen ging.

Er schüttelte den Kopf. »Sei doch vernünftig, Tanja. Wir müssen vernünftig sein.«

»Die Welt ist verrückt, sie zerreißt sich, geht unter, und du sagst - vernünftig sein! Immer - vernünftig. Du - Deutscher! Bleib doch hier. Du kannst später bei uns leben, ich werde dich jetzt verstecken, und wenn ihr ... wenn es keine deutschen Soldaten mehr hier gibt, werde ich hintreten und sagen: >Das ist Michael, Michael, den ich liebe.< Bleib hier!«

»Und deine Leute werden uns an die Wand stellen und erschießen, was?«

»Michael!«

Deutschmann sah zu ihr und erschrak. Sie hatte eine russische Pistole in der Hand und zielte auf ihn.

»Mach keine Dummheiten«, sagte er dumpf und fast ein we-nig überdrüssig.

»Ich töte dich, wenn du gehst!«

Er sah sie an und bemerkte in ihren Augen einen erschrek-kenden, kalten Funken, der ihren Willen, das Angedrohte auch wirklich zu tun, auszudrücken schien. Er beugte sich vor, als wollte er nach dem Stiefel greifen und stürzte sich dann überraschend auf sie, drückte sie gegen die Wand und preßte die Knöchel ihrer Hand, daß sie aufschrie und die Pistole zur Erde fallen ließ. Er trat die Waffe gegen die Tür und versuchte, sich gegen ihre Hände und Arme, die nach ihm schlugen, zu wehren.

»Hund«, schrie sie und hieb mit ihren Fäusten in sein Gesicht. »Oh - du Hund, du Hund ...! Ich hasse dich! Ich hasse dich, ich will dich töten ... töten!«

Doch plötzlich sank sie weinend in sich zusammen. »Bitte laß mich!« bat sie und warf sich auf das Bett. Deutschmann wußte nicht, was er tun sollte. Alles Trösten war hier umsonst. So stand er noch eine Weile da, trat dann zu ihr, strich ihr hilflos über die Schulter und ging. Bevor er die Hütte verließ, hob er die Pistole auf und legte sie auf den Tisch.

»Tanja!«

Sie antwortete nicht. Sie lag auf dem Bett, und ihr ganzer Körper zitterte. Aber sie weinte nicht mehr laut.

»Tanja!«

»Geh!« sagte sie müde.

»Du sollst wissen, daß ... ich liebe dich, du hast mir eine neue Welt gezeigt ... ich werde dich nie vergessen ...«

»Geh!«

»Ja, ich gehe schon. Und versteck das«, sagte er und sah auf die Pistole. »Wenn sie dich damit erwischen, dann erschießen sie dich.«

Sie antwortete nicht, und er wandte sich ab und verließ die Hütte. Die Tür zog er hinter sich zu wie einen Vorhang nach einem Stück, das man nur einmal spielen konnte; er würde es nie wieder sehen auf der Bühne des Lebens.

In der kleinen Hütte am Dnjeprufer lag Tanja wie ausgebrannt auf den Decken und vergrub ihr Gesicht in den Kissen -dorthin, wo sich noch die kleine Mulde von Deutschmanns Kopf abzeichnete.

»Michael«, wimmerte sie, »oh, Michael ... ich liebe dich ... ich hasse alle - alle .«