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Berlin:
Es war wieder einmal Fliegeralarm, und die Kranken wurden in den Keller gebracht. Dr. Kukill saß an Julias Trage, tief über sie gebeugt, sie unverwandt ansehend.
»Haben Sie es ihm gesagt«, flüsterte Julia mit geschlossenen Augen.
»Nein, noch nicht«, sagte Dr. Kukill. »Ich habe es versucht, aber ich konnte keine Verbindung bekommen. Es ist sehr weit ...« Irgend jemand stöhnte. Der Keller war überfüllt, es roch nach Medikamenten, Desinfektionsmitteln, kranken Körpern, zwischen den eng aufgestellten Behelfsbetten huschten lautlos die Schwestern, an den Wänden saßen zusammengepreßt die Gehfähigen. Ab und zu, wenn die Bombenabwürfe näher lagen, ging durch die dicken Mauern ein leichtes Zittern. Die
Menschen starrten dumpf vor sich hin, jemand betete.
»Werden Sie’s noch einmal versuchen?« fragte Julia und öffnete die Augen.
»Ja«, sagte Kukill. »Sprechen Sie nicht zuviel. Versuchen Sie zu schlafen.«
»Ich fühle mich schon viel wohler«, sagte Julia und sah ihm gerade ins Gesicht. »Schon viel, viel wohler. Wenn er kommt, bin ich wieder gesund. Er kommt doch bald, Herr Kukill?«
»Ja«, sagte Dr. Kukill, »er kommt bald.«
Sie saßen in der hintersten Hütte, der, die dem Wald am nächsten lag. Sie hatten kein Feuer angezündet aus Angst, sich zu verraten. Es war kalt, aber nicht so kalt wie draußen. Oder bildeten sie sich das nur ein?
Schwanecke hielt seine Maschinenpistole auf den Knien und polierte sie liebevoll mit einem Stück Tuch, obwohl die Dunkelheit so tief war, daß er nichts sah. Seine Finger tasteten geübt über den kalten Stahl, ab und zu sah er in die Richtung, wo Deutschmann saß.
»Wir müßten wenigstens ein bißchen pennen«, sagte er. »Wie lange geht das jetzt schon.«
»Es ist die zweite Nacht«, sagte Deutschmann mit seiner toten, leeren und seltsam wachen Stimme.
»Willst du nicht auch ein bißchen pennen?«
»Nein. Du kannst schlafen. Ich werde aufpassen.« Und nach einer Weile, als Schwanecke die Augenlider schwer über die Augen fielen und sein Bewußtsein in eine weiche, bleierne Grundlosigkeit zu versinken begann: »Du wirst allein weitergehen müssen. Ich gehe zurück.«
»Was?« Schwanecke schreckte hoch.
»Ich gehe zurück.«
»Wegen ...?« »Auch.«
»Ja«, sagte Schwanecke müde. »Ich verstehe, Kumpel.«
»Schlaf jetzt«, sagte Deutschmann.
»Jaja. Ich bringe dich hin, Kumpel.«
»Wohin?«
»Die Schweine!« sagte Schwanecke murmelnd und zusammenhanglos. »Ich verstehe dich. Ich bring’ dich so weit, daß du ‘rüber kannst.«
»Das ist nicht notwendig.«
»Du kommst - nicht mal -«, murmelte Schwanecke schon halb im Schlaf, »- du kommst nicht - mal - bis zum Waldran- allein. Ich bring’ dich hin, und halt den - Mund! Halt den Mund, Kumpel, halt —«
Er schlief ein.
Sie verbrachten die ganze Nacht und den darauffolgenden Tag in der Hütte. Am Nachmittag schlief Deutschmann einige Stunden lang einen schweren Schlaf der Erschöpfung. In der größten Hütte hatten sie ein Säckchen Sonnenblumenkerne gefunden. Während Schwanecke an der Wand unter dem Fenster lehnte und mit der Maschinenpistole auf den Knien Wache hielt, kaute er an den Kernen herum und spuckte die Schalen auf den Boden. Ab und zu sah er hinüber zu Deutschmann, der wie ein Toter, mit zwei alten Säcken zugedeckt, auf dem Dielenboden lag, und nickte vor sich hin. Einmal stand er auf und zog den verrutschten Sack bis unter das Kinn des Schlafenden. Er tat es seltsam verschämt, ungeschickt, doch seine großen, klobigen Hände waren zärtlich wie die eines Vaters, der sein Kind zudeckt.
»Ist ‘n armes Schwein«, murmelte er, als er zurück zu seinem Platz unter dem Fenster ging, »ein verflucht armes, gescheites Schwein, ein Professor, aber ein armes Schwein .«
Kurz vor der Abenddämmerung brachen sie auf.
Die russische HKL war nur dünn besetzt. Es war bitter kalt und außer einigen weit auseinanderliegenden Posten saßen alle Soldaten in ihren Unterständen. Bei solcher Kälte griffen die Deutschen nie an. Nur die Russen. Und außerdem - wann hatten in den letzten Monaten die Deutschen schon von sich aus angegriffen? Wenn sie selbst angegriffen wurden, dann schlugen sie zurück, das stimmte, aber sonst? Dazu waren es auch zu wenige. Viel zu wenige! Wo sind eigentlich die großen Armeen, die großartig ausgerüsteten Menschenmassen aus dem ersten Kriegsjahr geblieben, wo es für sie nichts anderes gab, als immer weiter gegen Osten zu stürmen?
Jetzt waren die Germanskis glücklich, wenn man sie in Ruhe ließ ...
Deutschmann und Schwanecke lagen eng aneinandergepreßt in einem Trichter.
»Siehst du dort - den Panzer?« fragte Schwanecke flüsternd.
»Ja. Du meinst den abgeschossenen?«
»Ja. Der liegt bereits im Niemandsland. Bis dahin bringe ich dich. Dann mußt du selbst weitersehen.«
»Ja.«
»Denn los. Immer robben - den Arsch am Boden lassen ... weiter!«
Schlangengleich, unhörbar, aus einer Entfernung von wenigen Metern kaum sichtbar, krochen die beiden Männer gegen die russischen Gräben und gegen die dunkle Silhouette des abgeschossenen Panzers im Niemandsland.
Der Schnee war von vielen Schritten festgetreten, die Luft war eisig und still, das Hemd klebte schweißnaß an Deutschmanns Körper, und über sein Gesicht rannen Schweißtropfen und zogen die Haut wie steifes Papier zusammen.
Der russische Graben.
Sie hatten eine Stelle gefunden, wo die Grabenränder von den Panzern eingedrückt wurden. Nun schlängelten sie sich langsam, Zentimeter um Zentimeter auf die andere Seite. Etwa zwanzig Meter Seitwärts sahen sie eine kleine, dunkle Kuppe -den Kopf eines russischen Postens, der über den Grabenrand ins Niemandsland sah. Ein roter Punkt glühte von Zeit zu Zeit auf. Er raucht, dachte Schwanecke abgerissen, er raucht, der Hundesohn ... weiß von nichts ... ich könnte hinkriechen und ihn ... er würde nichts hören ...
Hinter ihm schabte Deutschmanns Körper über den Boden, ein Geräusch, das man meilenweit hören konnte, wie es den beiden schien.
Aber der Posten seitwärts rührte sich nicht, und dann verschwand sein Kopf hinter dem Grabenrand; sie krochen weiter, langsam, langsam ... ich muß noch zurück, dachte Schwanecke kurz, noch einmal ... es ist nicht mehr weit.
Noch fünfzig Meter bis zum dunklen Schatten des abgeschossenen Panzers. Noch vierzig.
Schwanecke verharrte, bis Deutschmann an seiner Seite lag. Dann drehte er das Gesicht zur Seite und preßte den Mund gegen Deutschmanns Ohr.
»Vielleicht Minen. Wir müssen aufpassen. Bleib genau hinter mir. Kapiert?«
Deutschmann nickte. Sein Atem ging keuchend und schnell.
»Also los!«
Sie krochen weiter. Schwanecke tastete mit den Händen den Boden vor sich ab. Hier lagen keine Minen. Aber vielleicht einen Meter weiter. Vielleicht auf diesem Buckel. Er mußte ‘rum um den Buckel. Immer in den Mulden bleiben. Er mußte sich den Weg merken. Er mußte sich jede Bodenerhebung ins Gedächtnis einprägen. Wenn er zurückging, hatte er vielleicht nicht soviel Zeit, um auf Minen achtzugeben. Da -!
Er wartete wieder, bis Deutschmann auf seine Höhe gekrochen kam, und flüsterte: »Da - eine Mine.« Mit der Hand strich er über eine kleine Erhebung im Schnee, die sich in nichts von den anderen unterschied. »Ich rieche sie, verstehst du? Und da- rechts, wieder eine. Paß auf! Zwischendurch ... weiter!«
Fünfundzwanzig Meter.
Wirre, zerschossene Reste eines sich nach links und rechts in die Nacht ziehenden Drahtverhaues.
»Nicht berühren -!« flüsterte Schwanecke nach hinten, während er weiterkroch. Aber Deutschmann hörte ihn nicht. Sein Herz schlug in schnellen, bis hoch in den Hals reichenden Stößen. Er sah auf die vor ihm pendelnden Stiefelsohlen Schwaneckes, die manchmal in einem vorbeiziehenden Nebel verschwanden und wieder auftauchten, wenn er die Augen für zwei, drei Sekunden fest schloß und schnell aufriß. Bei dem Panzer werde ich ausruhen können, dachte er, bei dem Panzer - wie weit ist es noch dorthin? Die wenigen Meter bis zu dieser Stelle erschienen ihm eine Ewigkeit weit zu sein, so als würde ihn von dem dunklen, langsam immer größer werdenden Schatten in der Dunkelheit ein unermeßlicher Abgrund trennen.
Mit dem Gesicht stieß er gegen den kalten Stacheldraht und zuckte zurück. Er hatte ihn nicht gesehen, und plötzlich wurde er sich bewußt, daß er bereits einige Sekunden, die ihm sehr lange erschienen, nichts mehr gesehen hatte und wie durch eine tiefe Finsternis kroch. Ich muß mich zusammennehmen, dachte er mit zusammengebissenen Zähnen, ich muß ...
Schwaneckes schattengleicher Körper wand sich zwischen den Drähten. Deutschmann blieb genau hinter ihm, manchmal berührte sein Körper einen Pfahl oder den Draht, dann war Schwanecke durch, drehte sich zurück, grinste, seine Zähne leuchteten weiß, er kroch weiter, und dann war auch Deutschmann halb draußen, der Panzer war jetzt ganz nahe, nur noch zehn oder fünfzehn oder zwanzig Meter: Dort würde er sich ausruhen können.
Er blieb mit einem Bein hängen und zog ungeduldig an, um freizukommen. Das Klappern leerer Konservendosen, die im
Drahtverhau hingen, war in der stillen Nacht laut wie plötzliche Gewehrschüsse. Schwanecke drehte sich erschrocken um: »Idiot -! Leise -!« Aber Deutschmann hörte ihn nicht; verzweifelt zerrte er an dem Draht, wo sich seine Hose verfangen hatte, die Konservendosen klapperten, er kam los, kroch weiter- und in diesem Augenblick erwachte die Front aus ihrem scheinbaren, sprungbereiten Schlaf.
Ein russisches MG begann zu rattern, in den Gräben wurde es lebendig, man hörte heisere, aufgeregte Rufe, trampelnde Schritte, das Schießen wurde dichter, es kam von allen Seiten auf sie zu. Ein Granatwerfer. Leuchtkugeln zischten empor und erhellten das Vorfeld mit einem weißen, gleißenden Licht. Und dann begann es auch auf der deutschen Seite, aus den Bunkern krochen Landser und eilten in die Gräben - Schwanecke sah dieses Bild so lebendig vor sich, als wäre er liegend mittendrin- deutsche Leuchtkugeln, das rasende Rattern eines MG-42, Gewehrgranaten und mittendrin die beiden Männer, die sich, so tief es ging, in den Schnee drückten.
»Ruhe - nur Ruhe!« zischte Schwanecke nach hinten. »Es geht vorbei, die haben nichts gesehen - nur Ruhe - Ruhe!«
Leuchtspurmunition des deutschen MGs streute rasende Perlenschnüre über sie hinweg, zwei - drei - vier Minen schlugen ganz nahe ein, neue Leuchtkugeln, aber es war, als wäre das Feuer zögernder geworden, weniger wütend. »Nur Ruhe -Ruhe -!« zischte Schwanecke zu dem in einer Bodenmulde liegenden Deutschmann. »Der Feuerzauber geht vorbei .«
Hinter dem Panzer konnten sie ausgezeichnete Deckung finden. Es galt nur, bis dahin zu kommen und dort abzuwarten.
Jetzt belebte sich das Feuer wieder, wurde wütender, in der Ferne hörte man dumpfe Artillerieabschüsse. Und wahrscheinlich hatten die Russen doch etwas gesehen, denn das Feuer lag immer besser, es konzentrierte sich immer genauer dorthin, wo sie lagen, und es konnte nur noch Augenblicke dauern, bis es sie erwischte. Schwanecke drehte den Kopf zurück, schrie: »Auf - Panzer -!« sprang wie von einem Katapult abgeschossen auf und durchraste mit wenigen, großen Sätzen die Entfernung zum Panzer und warf sich dort nieder, wühlte sich in den Schnee unter dem Stahlkoloß, heftig atmend, doch sich bereits einigermaßen sicher wähnend. Es mußte schon ein Artillerievolltreffer kommen, wenn es ihn hier erwischen sollte!
Dann sah er zurück.
Jetzt sprang auch Deutschmann hoch. Tief gebückt, ein laufender, keuchender Schatten, Leuchtspurmunition zischte an ihm vorbei, zwei, drei Minenexplosionen, jetzt war er bereits ganz nahe, noch einige Schritte - und nun sah Schwanecke, er sah es richtig, er bildete sich das nicht nur ein, er sah, wie die rötliche Linie eines Phosphorgeschosses durch Deutschmanns Kopf schlug, in der Augenhöhe, er sah, wie es Deutschmann mitten im Satz zurück und zugleich steil in die Höhe riß, wie immer bei Kopfschüssen, gleichzeitig schlug ganz in der Nähe eine Mine ein, umgab Deutschmann mit einer Schneewolke und schleuderte Schwanecke Schnee und Dreck ins Gesicht.
Er wischte sich die Augen aus, fuhr sich mit der Hand verzweifelt über das Gesicht und rief: »Ernst - he - Professor -Professor!«
Und wieder: »Professor - Professor -!«
Nichts.
Schwanecke kroch zurück, schnell, auf Knien und Ellbogen, sich nicht mehr um die Hölle um sich kümmernd.
Deutschmann stöhnte. Lallend, kaum verständlich kamen heisere, glucksende Laute aus seinem weit aufgerissenen Mund: »Kopf - Karl - Karl -!« Und nun schrie er laut, gedehnt, schrill: »Karl - Karl -!«
»Ja - ich bin hier - ich bin hier - ich bin hier!« keuchte Schwanecke und sah entsetzt auf den Blutbrei oberhalb Deutschmanns Mund. Es gab keine Nase mehr, keine Augen, keine Augenbrauen, nur Fleischfetzen, Knochensplitter, und mitten daraus kamen pfeifende, gurgelnde Laute und lallende, unverständliche Worte.
Schwanecke sah sich verzweifelt um, richtete sich dann kurzentschlossen auf, packte Deutschmann unter den Armen und zog ihn gegen den Panzer auf die den russischen Gräben abgewandte Seite. Deutschmann schrie, und sein Schreien schnitt wie mit tausend Messern in Schwaneckes Gehirn, er sah auf Deutschmanns schleifende Beine und sagte sich: »Auch das- auch das -! Mein Gott!«
Deutschmanns linkes Bein schleifte ganz verdreht und viel länger als das rechte hinter dem Körper. Unter dem Knie war das Hosenbein zerfetzt und blutig.
Dann lagen sie halb unter dem Panzer.
»Ich bringe dich zurück, Doktor, Professor, ich bringe dich zurück«, keuchte Schwanecke, »keine Bange, ich bring’ dich zurück!«
»Bein - was ist - mein Bein ...!«:
»Dich hat’s ein bißchen erwischt, Professor, wart mal!«
»Bein - ich - ich - ich -«
Schwanecke schnallte mit fliegenden Händen Deutschmanns Koppel los und band das zerschmetterte Bein oberhalb des Knies ab. Dann riß er das zerfetzte Tuch der Hose auseinander und schloß für einen Augenblick die Augen, als er die schreckliche Wunde sah: Deutschmanns Bein hing nur noch an zwei, drei Hautfetzen. Seine Kopfwunde konnte warten. Aber dies hier - er konnte verbluten ... Er sagte: »Ich bring’ dich zurück, Professor, is’ nicht so schlimm, Professor, is’ halb so schlimm, ich bring’ dich zurück, keine Bange!«
»- Ja - nicht du mußt - du mußt - ‘rüber .«
»Halt jetzt die Klappe!«
Verbandspäckchen! Wo war das Verbandspäckchen?
»Tut’s weh, Professor?«
»Ja - die Augen ...«
Das Feuer der russischen Schützen konzentrierte sich auf den Panzer. Aber Schwanecke kümmerte sich nicht darum. »Die Augen, bloß der Luftdruck«, log er, »is’ bloß der Luftdruck, du kennst das, Professor, wir kennen das, is’ doch klar!« und während er sprach, holte er aus der Tasche ein verstecktes Klappmesser, das er bei dem Zimmermannstrupp organisiert hatte, er wandte kein Auge ab von Deutschmanns Bein, als er das Messer aufklappte, er sagte: »Nur verbinden, Professor - keine Bange, is’ gleich fertig, dann bring’ ich dich zurück zu den unseren ...«
»Die Augen - die Augen -«, wimmerte Deutschmann.
»Ja - gleich«, sagte Schwanecke, setzte das Messer an und schnitt mit zwei, drei schnellen, starken Schnitten die Fleisch-und Hautfetzen durch, an denen Deutschmanns Bein hing.
Deutschmann schrie. Schwanecke glaubte, noch keinen Menschen so schreien gehört zu haben, aber es war schon vorbei, und er sagte beruhigend: »War bloß ‘n Hautfetzen, Kumpel, bloß ‘n Hautfetzen, mußte weg, verstehst du, verstehst du ... ich ... gleich ist’s vorbei!«
»Ja - ja - die Augen ...«:, stöhnte Deutschmann.
Schwanecke verband den Beinstumpf so gut er konnte, dann nahm er sein eigenes Verbandspäckchen und machte sich an Deutschmanns Kopfwunde, die fast aufgehört hatte zu bluten. Es war aus, ein Blinder konnte sehen, daß es mit Deutschmanns Augen vorbei war, weg, herausgerissen, die Nasenwurzel zerschmettert, der Stirnknochen, es war ein Wunder, daß kein Gehirn herauskam, aber vielleicht ging die Wunde nicht so tief, solche Sachen sahen im ersten Augenblick immer schlimmer aus, als sie waren, klar, vielleicht ...
Als er fertig war, richtete er sich halb auf und brüllte gegen die deutschen Linien: »Nicht schießen - nicht schießen! He -ihr Idioten - nicht schießen!« Er brüllte es immer wieder, bis das Feuer von den deutschen Gräben wirklich aufhörte, und dann schrie er: »Feuerschutz -! Hört ihr - Feuerschutz -!«
Sie gaben ihn.
Er lud den jetzt ohnmächtigen Deutschmann auf die Schulter, stand schwankend auf, beugte sich noch einmal herunter und hob auch Deutschmanns abgeschnittenes Bein auf und klemmte es unter den Arm.
Dann lief er gegen die deutschen Gräben.
Er war mitten auf dem Weg, der taghell erleuchtet war von immerfort aufsteigenden Leuchtkugeln, als ihm plötzlich schien, daß irgend etwas fehlte, und es dauerte eine Zeitlang, bis er wußte, was es war:
Das Feuer war verstummt. Die Front war totenstill, nur die hohlen, kurzen Abschüsse der Leuchtpistolen unterbrachen ab und zu das Schweigen.
Gut so -, dachte er grimmig. In Ordnung. Gut so.
Langsam, Schritt für Schritt, ging er weiter durch die taghell erleuchtete Nacht, hochaufgerichtet, und warf einen huschenden, unförmig-veränderlichen Schatten auf die weiße Schneefläche. Er kümmerte sich nicht um Minen. Vielleicht - vielleicht wünschte er sogar, auf eine zu treten. Es war aus. Er war auf dem Wege zurück. Er ging in seinen Tod, er wußte es. Aber er ging weiter. Er tat es, obwohl er glaubte, daß der Mann, den er trug, nicht am Leben bleiben würde. Vielleicht auch war er bereits tot - genauso tot wie dieses Bein, das er unter dem Arm geklemmt trug. Aber er hatte es ihm versprochen, ihn zurückzubringen, er hatte gesagt: Ich bringe dich zurück, Professor! Und nun tat er es - gleichgültig, ob er noch lebte oder schon tot war, gleichgültig, daß er damit so gut wie sicher in den Tod schritt.
Ein junger Leutnant nahm ihn in Empfang, als er über den Grabenaufwurf in die Stellung kletterte. Auch zwei Sanitäter mit einer Bahre warteten bereits. Langsam, vorsichtig, behutsam legte Schwanecke Deutschmanns Körper auf die Bahre und richtete sich wieder auf.
Ein Sanitäter beugte sich über Deutschmann.
»Lebt er noch?« fragte der Leutnant.
Schwanecke zuckte mit den Schultern.
»Was wollen Sie denn damit?« Der Leutnant zeigte schaudernd auf Deutschmanns Bein.
»Ach so -.« Schwanecke legte das Bein auf die Bahre. »Ich hab’ ihn zurückgebracht«, sagte er dann. »Verstehen Sie - ganz -!«
»Er lebt noch!« sagte ein Sanitäter.
»Beeilen Sie sich!« sagte der Leutnant. Und dann fragte er Schwanecke: »Wo kommen Sie eigentlich her?«
»Von drüben. Wir sind - Strafbataillon, kapiert? 999. Wir haben einen Ausflug gemacht.«
»Ja - ja, ich verstehe«, nickte der Leutnant. Er kannte die Tragödie der zweiten Kompanie dieses Bewährungsbataillons. War es nicht so, daß bloß einer mit erfrorenen Füßen zurückkam? Und jetzt noch diese beiden ... es war eine verdammte Sache! Er sagte: »Ich lasse Sie zurückbringen, Sie können sich dann ausruhen. Ich glaube, Sie haben’s verdient.«
Deutschmann wurde sofort über Babinitschi wegtransportiert. Der Arzt einer Reserveeinheit, die jetzt die Stellungen besetzt hielt, gab ihm eine Antitetanus- und Antigasbrandspritze und schüttelte zweifelnd den Kopf, als ihn ein Sanitäter fragend ansah.
»Beide Augen und das Bein ...«, sagte er leise. »Ich glaube nicht ... aber man kann nie wissen. Geben Sie mir bitte noch eine Morphiumampulle.«
Auch der Stabsarzt auf dem Hauptverbandsplatz reichte Deutschmann, der inzwischen zu sich gekommen war, sofort weiter. »Sie werden nach Orscha gebracht, Herr Kollege, ins Kriegslazarett. Dort wird man weitersehen.«
Deutschmann tastete nach seinen Augen und befühlte den dicken Verband, den man ihm angelegt hatte. »Was ist mit den Augen - und mit dem Bein - ich weiß nicht ...«
»Was?«
»Ich erinnere mich .«
»Das Bein ist hin.« Die Stimme des Arztes bemühte sich, burschikos zu klingen. Er nahm Deutschmanns tastende Hand vom Verband und legte sie auf die Decke. »Und - mit den Augen, das ist halb so schlimm. Wir werden Sie zurechtflicken, dem Nerv ist offenbar nichts geschehen, und das ist ja die Hauptsache.«
»Früher einmal - habe ich - oft so gelogen ...«, flüsterte Deutschmann. Der Stabsarzt schwieg bedrückt. »Und - was ist mit Schwanecke -?«
»Wer ist das?«
»Der Mann, mit dem ich -«
»Ach so. Der ist wohlauf, soviel mir bekannt ist.«
»Ist - ist er nicht - .«
»Was meinen Sie?«
»Wo ist er?«
»Ich glaube, er befindet sich bei einer der übriggebliebenen Kompanien.«
»Ja«, sagte Deutschmann. »Ich ...« Er schwieg. Was sollte er auch noch sagen? Schwanecke hatte ihn zurückgebracht und sich damit selbst ausgeliefert. Wie viele Menschenleben hatte er, Deutschmann, auf dem Gewissen? Obwohl er nie geschossen hatte - wie viele hatte er umgebracht -? Julia - Tanja -Schwanecke ...
Reglos, still lag er da und betete: Er betete zu Gott, daß er ihn sterben ließe, und dann verfluchte er ihn, weil er immer noch lebte, er betete und bat, und seine Flüche waren eine einzige Bitte.
Schwanecke hatte man zu der nächsten Kompanie gebracht, die von dem Strafbataillon in der Gegend lag. Es war die erste Kompanie Oberleutnant Wernhers, die den russischen Stoß in die Flanke bekommen und sehr schwere Verluste hatte, aber nicht völlig aufgerieben worden war wie Obermeiers zweite Kompanie.
Wernher sah durch das Fenster seiner Hütte Schwanecke in Begleitung eines Unteroffiziers der Infanterie näher kommen. Er hatte bereits telefonisch die Meldung von dem Drama im Niemandsland erhalten und den Leutnant, in dessen Abschnitt sich das Ganze abgespielt hatte, gebeten, Schwanecke in Begleitung zu ihm bringen zu lassen.
»Wieso?« hatte der Leutnant gefragt. »Hat der Kerl etwas auf dem Kerbholz?«
»Ja.«
»Er hat sich großartig gehalten .«
»Das glaube ich.«
»Ihr seid schon eine komische Gesellschaft«, hatte der Leutnant am Telefon geseufzt. »Also gut - ich schicke ihn in Begleitung eines Unteroffiziers.«
Jetzt stand Wernher am Fenster und sah den langsam daherschlendernden und nach links und rechts grinsenden Schwanecke.
Drei Mann überlebten den Untergang der zweiten Kompanie, ein Blinder, ein Schwerverbrecher und ein Feigling, der sich, wie man erzählte, diebisch freute, daß er den Fuß verloren hatte und damit für ewige Zeiten von der Front erlöst war. Was ist schon ein Fuß - der Staat zahlt ja eine hübsche Rente, und überdies: Ein Spieß braucht keinen Fuß, er kann auch ohne ihn die Mutter der Kompanie sein. Gute Spieße wurden gebraucht, ob mit oder ohne Fuß ... es war herrlich, ein Spieß zu sein -wenn’s nicht zu nahe an der Front war.
Es klopfte. »Herein!« sagte Wernher.
Schwanecke trat langsam in den Raum. Als er Wernher sah, breitete sich über sein Gesicht das gleiche Grinsen wie vorher, als er durch die Straßen ging und alte Bekannte begrüßte. Er nahm keine Haltung an, er grüßte nicht ... er stand einfach da und grinste Wernher an. Was er wohl dachte?
Wernher entließ den Unteroffizier, der Schwanecke hierhergebracht hatte. Er vermied es, Schwanecke anzusehen, dessen Tarnjacke blutbefleckt und dessen Hände braun vom geronnenen Blut waren. Selbst über sein Gesicht zogen sich einige Streifen Blut.
»Ich habe - ich habe gehört«, begann Wernher heiser, »daß Sie sich großartig gehalten haben - Sie haben Deutschmann gerettet .«
Schwanecke grinste nur.
»Es ist mir nicht leicht - aber ich habe Befehl aus Orscha, Sie festzusetzen und dorthin bringen zu lassen. Falls Sie auftauchen. Haben Sie dazu etwas zu sagen?«
Schwanecke sagte nichts. Er zuckte bloß mit den Schultern, legte den Kopf etwas schief und grinste weiter. Wernher ging einige Schritte auf und ab, drehte sich dann abrupt um und maß Schwanecke mit einem langen ernsten Blick.
»Warum sind Sie eigentlich zurückgekommen? Wußten Sie, daß ...?«
»Klar«, sagte Schwanecke.
»Warum sind Sie gekommen?«
»Ich hatte Sehnsucht nach Ihnen, Herr Oberleutnant«, sagte Schwanecke.
Aber Wernher kümmerte sich nicht um seinen Spott. »Sie -Deutschmann und Krüll sind die einzigen, die übriggeblieben sind«, murmelte er. »Alle anderen ... Oberleutnant Obermeier.«
»Krüll?« fragte Schwanecke. »Er ist -?« Jetzt war das Grinsen aus seinem Gesicht verschwunden.
»Ja. Er liegt in Orscha im Lazarett.«
»Solche Schweine haben immer Dusel -!«
»Sie sprechen von einem Oberfeldwebel, Schwanecke!«
»Na und? Wo steht’s denn, daß ein Oberfeldwebel kein Schwein sein kann?«
Wernher schwieg. Was sollte er darauf antworten? Er konnte den Mann zurechtweisen, aber hatte das noch einen Sinn? Hatte er am Ende nicht recht? Ob recht oder nicht, sagte er sich, ich müßte ihn anbrüllen, dachte er, ich müßte ihn hinausjagen ... Aber er tat es nicht. Er wußte manches von Schwanecke, mit ihm konnte man nicht auf die gleiche Art fertigwerden wie mit den anderen.
»Was haben Sie eigentlich ausgefressen?« fragte er. »Ist es das - mit Oberleutnant Bevern?«
Schwanecke zuckte mit den Schultern.
»Oder das mit dem Gesetz über Schwerverbrecher ?«
Keine Antwort.
»Was wird man mit Ihnen anfangen?«
Schwanecke strich sich mit der Handfläche vor dem Hals, machte »Hrrk -«, blinzelte und grinste dann breit. Wernher war fassungslos. Dieser Mann machte sich offenbar lustig über seinen eigenen Tod, und dabei hatte er Deutschmann, seinen Kameraden, zurückgebracht, obwohl er hätte überlaufen können und am Leben bleiben und den Russen Märchen aufbinden vom politisch verfolgten Märtyrer - bitte, war ich nicht im Strafbataillon? Ich, ein Kommunist, Heil Stalin - ... Und trotzdem kam er zurück und ...
Es hatte keinen Sinn.
»Ich werde Sie über Nacht einsperren müssen«, sagte er. »Und morgen lasse ich Sie nach Orscha bringen. Dann .«
Er zuckte mit den Schultern, als hätte er gesagt: Was kann ich dann weiter tun? Nichts. Es tut mir leid, aber da ist nichts zu machen -!
»Und wenn ich abhaue?« Schwanecke sagte es mit einem lauernden Unterton in der Stimme und zugleich so, als würde er sich über den Oberleutnant lustig machen.
»Abhauen? Wie meinen Sie das?«
»Ich meine - einfach ab durch die Mitte! Ich, wissen Sie, Herr Oberleutnant, ich war mal berühmt dafür. König der Ausbrecher! Keine Mauer hält ihn zurück, kein Gitter ist eng genug ... stand sogar mal in der Zeitung.«
»So?«
»Bestimmt. Ich könnte in einem Zirkus auftreten. Sie wissen Entfesselungskünstler und so ... ich hab’ mal einen gesehen ... ich hätte es allemal fertiggebracht, Ehrenwort. Hokuspokus -weg ist er ... der Schwanecke, der verfluchte -!«
Das letzte sagte er mit tiefer Stimme, es genußvoll in die Länge ziehend.
»Es dürfte Ihnen schlecht bekommen«, sagte Wernher, der zur Tür ging und den Posten rief. »Es wird scharf geschossen, mein Lieber! Machen Sie keine Dummheiten!«
»Mich trifft keiner«, grinste Schwanecke. »Hokuspokus, weg ist er, aufgelöst in der Luft, wie der Geist meines Onkels, den die Tante mal gerufen hatte. Spiritieren oder wie das heißt, spinitisieren ... er kam, sagte >Guten Tag< und weg war er wieder, obwohl ich versucht habe, ihn zu erwischen, einfach weg, kein Wunder, wo er aus der Familie Schwanecke war, ich mach’s nämlich ebenso .«
Wernher ließ ihn reden. Er glaubte, den anderen zu durchschauen: Es war die Angst, die ihn so reden ließ, und die Worte versuchten sie zu verdecken. Er wußte nicht, wie überrascht und fassungslos er am nächsten Morgen in der Hütte stehen würde, in die er Schwanecke einsperren ließ - und sich an diese Worte erinnern, Wort für Wort, von denen er jetzt glaubte, ihnen nicht das geringste Gewicht beimessen zu brauchen ...
»Ab mit Ihnen!« sagte er, als zwei Posten kamen, um
Schwanecke abzuführen. »Machen Sie sich zuerst sauber.«
»Mache ich«, nickte Schwanecke und blinzelte dann den Oberleutnant über die Schulter an, als würde zwischen ihnen eine Verschwörung bestehen, ein Geheimnis, um das nur sie beide wußten.