39755.fb2 Tausend strahlende Sonnen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 14

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Von Schuldgefühlen gepeinigt, ging Mariam in solchen Momenten in die Knie und flehte um Vergebung dafür, dass sie solchen Gedanken nachgehangen hatte.

Seit dem Tag im Badehaus zeigte sich Raschid verändert. Er verlor schnell die Geduld mit Mariam und herrschte sie dann an. Wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam, wechselte er kaum ein Wort mit ihr. Er aß, rauchte, ging zu Bett und kam manchmal mitten in der Nacht zu ihr, um sich abzureagieren, wobei er in letzter Zeit immer gröber zur Sache ging. Er war schnell beleidigt, mäkelte an dem Essen, das sie ihm vorsetzte, beschwerte sich über die Unordnung im Vorhof und machte sie im Haus auf Stellen aufmerksam, die seiner Meinung nach nicht sauber genug waren. Zwar führte er sie freitags immer noch manchmal in die Stadt aus, ging aber immer mehrere Schritte vor ihr her, sprach kein Wort und achtete nicht auf sie, die fast rennen musste, um ihm folgen zu können. Lachen sah sie ihn kaum noch. Er kaufte ihr auch keine Süßigkeiten oder Geschenke mehr und verzichtete darauf, Sehenswürdigkeiten zu benennen, wie er es früher getan hatte. Auf ihre Fragen antwortete er, wenn überhaupt, unwirsch.

Eines Abends saßen sie gemeinsam im Wohnzimmer und hörten Radio. Der Winter ging seinem Ende entgegen. Die kalten Winde, die einem Schnee ins Gesicht bliesen und die Augen tränen ließen, hatten sich gelegt. Der Schnee auf den Zweigen der hohen Ulmen taute. An seiner Stelle würden sich in wenigen Wochen hellgrüne Knospen ausbilden. Raschid wippte gedankenverloren mit dem Fuß zum Takt der tabla eines Hamahang-Liedes und zwinkerte den Rauch seiner Zigarette aus den Augen.

»Bist du mir gram?«, fragte Mariam.

Raschid antwortete nicht. Nach der Musik kamen die Nachrichten. Eine Frauenstimme berichtete, der Präsident habe erneut eine Gruppe sowjetischer Berater nach Moskau zurückgeschickt, wogegen der Kreml aller Voraussicht nach Protest einlegen werde.

»Ich mache mir Sorgen und fürchte, dass ich dich verärgert haben könnte.«

Raschid seufzte.

»Ist das so?«

Er sah sie an. »Wie kommst du darauf?«

»Ich weiß nicht, aber seit ich das Kind…«

»Glaubst du etwa, so einer wäre ich? Nach allem, was ich für dich getan habe?«

»Nein. Natürlich nicht.«

»Dann hör auf damit!«

»Tut mir leid. Bebakhsh, Raschid. Entschuldige.«

Er drückte den Stummel aus, steckte sich eine neue Zigarette an und drehte das Radio lauter.

»Aber ich habe nachgedacht«, sagte Mariam und versuchte, die Musik zu übertönen.

Raschid seufzte wieder, ungehaltener diesmal, und drehte die Lautstärke herunter. Müde fuhr er sich mit der Hand über die Stirn. »Was jetzt?«

»Ich finde, wir sollten es anständig beisetzen. Das Kind, meine ich. Nur wir zwei, ein paar Gebete, sonst nichts.«

Diesen Gedanken hatte Mariam schon seit einiger Zeit. Sie wollte das Kind nicht vergessen und seinem Verlust ein dauerhaftes Zeichen setzen.

»Wozu? Das ist doch blödsinnig.«

»Mir wäre dann wohler zu Mute, glaube ich.«

»Dann tu’s«, schnappte er. »Einen Sohn habe ich schon begraben. Das reicht mir. Und jetzt lass mich bitte in Ruhe. Ich will Radio hören.«

Er drehte die Lautstärke wieder auf, lehnte sich zurück und schloss die Augen.

An einem sonnigen Morgen noch in derselben Woche suchte sich Mariam eine Stelle im Hof aus und grub ein Loch.

»Im Namen Allahs und mit Allah und im Namen Seines Gesandten, auf dem die Segnungen und der Friede Allahs ruhen«, murmelte sie, als sie das Wildledermäntelchen, das Raschid für das Kind gekauft hatte, ins Grab legte und mit Erde bedeckte.

»Du lässt die Nacht zum Tag und den Tag zur Nacht werden, Du lässt die Lebenden aus den Toten hervortreten und die Toten aus den Lebenden und segnest, wenn es Dir gefällt, einen jeglichen über die Maßen.«

Sie klopfte die Erde mit der Schaufel fest, hockte sich neben den kleinen Grabhügel und schloss die Augen.

Gib uns Deinen Segen, Allah. Und sei mir gnädig.

15

Am 17. April 1978, dem Jahr, in dem Mariam neunzehn werden sollte, wurde ein Mann namens Mir Akbar Khaibar ermordet aufgefunden. Zwei Tage später gab es in Kabul eine Großdemonstration. Auch alle Nachbarn waren auf der Straße. Mariam sah sie vom Fenster aus zusammenlaufen, aufgeregt miteinander diskutieren und Transistorradios ans Ohr halten. Sie sah Fariba, an die Mauer ihres Hauses gelehnt, im Gespräch mit einer Frau, die neu war in Deh-Mazang. Fariba lächelte und hielt mit beiden Händen ihren schwellenden Bauch umfasst. Die andere Frau — Mariam hatte ihren Namen vergessen — war allem Anschein nach älter als Fariba und hatte einen eigentümlich purpurnen Schimmer in ihrem dunklen Haar. Sie hielt einen kleinen Jungen an der Hand. Er hieß Tarik, wie Mariam wusste, denn sie hatte diese Frau nach ihm rufen hören.

Mariam und Raschid blieben im Haus. Sie hörten Radio, während sich Tausende von Menschen in den Straßen versammelten und vor dem Regierungssitz auf und ab marschierten. Raschid erklärte, dass Mir Akbar Khaibar ein prominenter Kommunist gewesen sei und dass seine Anhänger dem Präsidenten Daoud Khan vorwürfen, seine Ermordung veranlasst zu haben. Raschid sah sie nicht an, als er das sagte. Das tat er schon seit Tagen nicht, weshalb Mariam im Unklaren darüber blieb, ob er überhaupt mit ihr sprach oder nur mit sich selbst.

»Was ist ein Kommunist?«, fragte sie.

Raschid schnaubte und kniff die Augenbrauen zusammen. »Nicht einmal das weißt du? Das weiß doch jeder. Du hast… Ach. Warum rege ich mich überhaupt auf?« Er legte die Beine auf den Tisch und brummte etwas von Leuten, die an Karl Marxist glaubten.

»Wer ist Karl Marx?«

Raschid stöhnte.

Eine Sprecherin im Radio berichtete, dass Taraki, der Anführer des Khalq-Flügels der kommunistischen Partei PDPA, unter den Demonstranten sei und aufrührerische Parolen ausgebe.

»Ich meinte bloß, was wollen sie?«, fragte Mariam. »Diese Kommunisten. Woran glauben sie?«

Raschid verzog das Gesicht, doch hatte Mariam den Eindruck, dass er unsicher war. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sagte: »Hast du denn von nichts eine Ahnung? Du bist wie ein Kind. Strohdumm.«

»Ich frage, weil…«

»Chup ko. Halt’s Maul.«

Mariam gehorchte.

Es fiel ihr schwer, seine abfällige Art zu ertragen, hinzunehmen, dass er sich über sie mokierte, sie beleidigte und ansonsten kaum zur Kenntnis nahm. Aber nach inzwischen mehr als vier Ehejahren wusste Mariam sehr genau, wie viel eine Frau, die Angst hatte, zu ertragen im Stande war. Und Mariam hatte Angst. Sie lebte in ständiger Furcht vor seinen Launen, davor, dass er keinen Anlass ausließ, um mit ihr zu streiten, manchmal sogar gewalttätig wurde und sie schlug oder mit dem Fuß nach ihr trat, wofür er sich anschließend, wenn auch beileibe nicht immer, halbherzig entschuldigte.

In den vier Jahren seit dem Tag im Badehaus hatte Mariam sechs weitere Male Hoffnung schöpfen können, doch immer folgte schon bald Verlust und Zusammenbruch, und jeder weitere Arztbesuch ließ sie mehr verzweifeln als der vorhergegangene. Mit jeder Enttäuschung rückte Raschid weiter von ihr ab. Durch nichts ließ er sich versöhnlich stimmen. Sie hielt Ordnung im Haus, sorgte dafür, dass er immer saubere Hemden hatte, kochte seine Lieblingsgerichte. Einmal kaufte sie sich sogar Make-up und machte sich hübsch für ihn. Doch als er am Abend nach Hause kam, sah er sie nur einmal kurz an und wandte sich ab, offenbar so angewidert, dass sie zum Waschbecken rannte und die Schminke mit Tränen der Scham und Seifenwasser abwischte.

Inzwischen fürchtete Mariam sogar den Moment, wenn sein Schlüssel im Schloss klickte und die Tür aufging. Schon allein diese Geräusche brachten ihr Herz zum Rasen. Wenn sie im Bett lag, lauschte sie angestrengt seinen Schritten im Haus. Sie versuchte sich vorzustellen, was er tat, wenn Stuhlbeine über den Boden kratzten, der Korbsessel knarrte, das Geschirr klapperte, Zeitungsseiten raschelten oder Wasser in ein Glas geschüttet wurde. Und verängstigt fragte sie sich dann jedes Mal, woran er an diesem Abend Anstoß nehmen könnte. Der geringste Anlass brachte ihn in Rage, und so eifrig sie auch darum bemüht war, seinen Wünschen und Forderungen nachzukommen, gelang es ihr nicht, ihn zufrieden zu stellen. Denn eines vermochte sie nicht. Ihm den Sohn zurückzugeben. In dieser entscheidenden Hinsicht hatte sie versagt, nicht weniger als siebenmal, und jetzt war sie ihm nur noch eine Last. Daran ließ er keinen Zweifel; sie konnte es seinen Blicken ansehen, wenn er sie denn anblickte. Sie war ihm eine Last.

»Was wird jetzt geschehen?«, fragte sie.

Schnaubend nahm Raschid die Beine vom Tisch, schaltete das Radio aus und ging damit auf sein Zimmer. Er schloss sich darin ein.

Am 27. April beantwortete sich Mariams Frage mit krachenden Salven und ohrenbetäubendem Lärm. Auf bloßen Füßen eilte sie nach unten ins Wohnzimmer, wo Raschid im Unterhemd und mit wirren Haaren bereits am Fenster stand, die Handflächen an die Scheiben gepresst. Mariam ging ans andere Fenster. Am Himmel jagten Militärflugzeuge kreischend nach Norden und Osten. In der Ferne waren Donnerschläge zu hören. Schwarzer Rauch stieg auf.

»Was ist los, Raschid?«, fragte sie. »Was hat das zu bedeuten?«

»Weiß Gott«, murmelte er. Das Radio gab nur ein Rauschen von sich.

»Was machen wir jetzt?«

Nervös antwortete er: »Wir warten ab.«