39755.fb2
Hasinas Befürchtungen waren wahr geworden; sie hatte mit ihrer Familie nach Lahore umziehen und ihren Cousin, den Autohändler, heiraten müssen. Am Tag der Abreise waren Laila und Giti morgens zur Freundin gegangen, um sich von ihr zu verabschieden. Hasina hatte ihnen mitgeteilt, dass ihr zukünftiger Ehemann im Begriff sei, nach Deutschland auszuwandern, wo seine Brüder lebten. Noch in diesem Jahr, sagte sie, würden sie in Frankfurt sein. Alle drei fielen sich in die Arme und weinten. Giti war untröstlich. Das letzte Mal sah Laila Hasina, als sie, von ihrem Vater geführt, auf der Rückbank eines überfüllten Taxis Platz nahm.
Die Sowjetunion zerfiel in verblüffend kurzer Zeit. Im Wochenrhythmus, so schien es Laila, meldete Babi, dass ein weiterer Teilstaat unabhängig geworden sei. Litauen. Estland. Die Ukraine. Über dem Kreml wurde die sowjetische Flagge eingeholt. Auch Russland war nun eine Republik.
In Kabul versuchte Nadschibullah, sich als frommen Muslim auszugeben und eine politische Kehrtwendung zu vollziehen. »Das ist zu wenig und zu spät«, meinte Babi. »Man kann nicht bis gestern Chef der Geheimpolizei gewesen sein und heute in einer Moschee mit anderen beten, deren Angehörige man gefoltert und getötet hat.« Weil ihm in Kabul der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, setzte sich Nadschibullah für ein Abkommen mit den Mudschaheddin ein, was diese aber strikt ablehnten.
»Richtig so«, sagte Mami von ihrem Bett aus. Sie hoffte immer noch auf den Triumphzug der Gotteskrieger und den Sturz der Feinde ihrer Söhne.
Dazu sollte es schließlich auch kommen, und zwar im April 1992, dem Jahr, als Laila vierzehn wurde.
Nadschibullah dankte ab und suchte im UN-Quartier nahe dem Darulaman-Palast im Süden der Stadt Zuflucht.
Der Dschihad war vorbei. Das kommunistische Regime, das seit Lailas Geburt mit wechselnden Vertretern über Afghanistan geherrscht hatte, war zerschlagen. Mamis Helden, die Kampfgefährten ihrer Söhne, hatten gesiegt. Jetzt, nach mehr als einem Jahrzehnt schwerster Opfer und blutiger Kämpfe, zogen die Mudschaheddin, die sich über die ganze Zeit fernab von ihren Familien in den Bergen hatten versteckt halten müssen, in Kabul ein, entkräftet und ausgezehrt, aber triumphierend.
Mami kannte sie alle mit Namen:
Dostum, der stets prunkvoll herausgeputzte usbekische Kommandeur und Anführer der Junbish-i-Milli-Truppen, von dem man wusste, dass er nicht selten die Seiten gewechselt hatte. Gulbuddin Hekmatyar, jener mürrische Gründer der Islamischen Partei Hezb-e-Islami, ein Paschtune, der Ingenieurwissenschaften studiert und einen maoistischen Kommilitonen getötet hatte. Rabbani, der tadschikische Anführer der Jamiat-e-Islami-Fraktion, der in den Tagen der Monarchie an der Kabuler Universität Islamwissenschaften unterrichtet hatte. Sayyaf, ein Paschtune aus Paghman mit Verbindungen nach Saudi-Arabien, ein unerschrockener Muslim und Anführer der Ittehad-i-Islami-Kämpfer. Abdul Ali Mazari, Gründer der Partei Hezb-e-Wahdat, von den Hazaras, seinen Stammesgenossen, auch Baba Mazari genannt, der enge Kontakte zum Iran unterhielt.
Am meisten aber verehrte Mami Rabbanis Verbündeten, den charismatischen tadschikischen Kommandeur Ahmad Schah Massoud, den Löwen von Pandschir. Sie hatte sich ein Poster von ihm ins Zimmer gehängt. Massouds stattliches Porträt mit den tiefschwarzen Augen, der nachdenklich gekrausten Stirn und seinem Markenzeichen, dem schief auf dem Kopf sitzenden pakol, sollte bald überall in Kabul zu sehen sein, auf Reklametafeln, Mauern, in Schaufenstern und auf kleinen Fahnen an den Antennen von Taxis.
Diesen Tag hatte sich Mami herbeigesehnt. Es war für sie die Erfüllung nach all den Jahren des Wartens.
Endlich konnten ihre Söhne in Frieden ruhen.
Am Tag der Kapitulation Nadschibullahs verließ Mami ihr Bett als neue Frau. Nach dem shaheed-Tod ihrer Söhne vor fünf Jahren verzichtete sie erstmals auf Schwarz und zog ein weiß gepunktetes kobaltblaues Leinenkleid an. Sie putzte die Fensterscheiben, scheuerte den Boden, lüftete das Haus und nahm ein langes Bad. Ihre Stimme war schrill vor Freude.
»Das muss gefeiert werden«, erklärte sie.
Sie schickte Laila los, um die Nachbarn einzuladen. »Sag ihnen, dass es morgen Mittag ein Festessen bei uns gibt.«
Die Hände in die Hüften gestemmt, schaute sich Mami in der Küche um und sagte in freundlich-vorwurfsvollem Ton: »Was hast du nur angestellt, Laila? Wooy. Hier ist ja nichts mehr an seinem Platz.«
Sie machte sich daran, Töpfe und Pfannen umzustellen, und ging dabei so theatralisch zu Werke, dass es den Anschein hatte, als versuchte sie, ihr Territorium neu abzustecken. Laila hütete sich, ihr zu nahe zu kommen. Das war sicherer so, denn Mami konnte, in Euphorie geraten, ebenso unbeherrscht sein wie in ihren Wutanfällen. Mit beunruhigender Energie fing sie zu kochen an: aush-Suppe mit roten Bohnen und getrocknetem Dill, kofta, feurig scharfen mantu, mariniert in Joghurt und frischer Pfefferminze.
»Zupfst du dir etwa die Augenbrauen?«, fragte Mami, als sie einen großen Sack Reis öffnete.
»Nur ein bisschen.«
Mami schaufelte mit einer Kelle Reis in einen großen, mit Wasser gefüllten schwarzen Topf, krempelte sich die Ärmel
hoch und begann zu rühren.
»Wie geht’s Tarik?«
»Sein Vater ist krank«, antwortete Laila.
»Wie alt ist er jetzt überhaupt?«
»Keine Ahnung. In den Sechzigern, schätze ich.«
»Ich meine Tarik.«
»Oh. Sechzehn.«
»Netter Junge. Findest du nicht auch?«
Laila zuckte mit den Achseln.
»Im Grunde kein Junge mehr, oder? Sechzehn. Fast ein Mann. Was meinst du?«
»Worauf willst du hinaus, Mami?«
»Wieso?« Mami lächelte unschuldig. »Nichts. Ich dachte nur… Ach, am besten sage ich gar nichts.«
»Nur keine falsche Zurückhaltung«, entgegnete Laila, irritiert von Mamis gezierten Umschweifen.
»Nun.« Sie faltete die Hände auf dem Rand des Topfes. Beides, das gespreizte »nun« und die Art, wie sie die Hände faltete, machte auf Laila einen unnatürlichen Eindruck; ihr schien es fast, als habe ihre Mutter diese Geste einstudiert. Es war zu befürchten, dass sie eine Rede halten wollte.
»Wenn zwei kleine Kinder ständig zusammen sind, wie ihr es gewesen seid, hat niemand was dagegen. Im Gegenteil. Es ist drollig. Aber jetzt? Mir ist aufgefallen, dass du einen BH trägst, Laila.«
Laila verschlug es die Sprache.
»Du hättest mir übrigens ruhig etwas sagen können. Dass du einen BH brauchst. Davon wusste ich nichts. Es enttäuscht mich, dass du dich mir nicht anvertraut hast.« Jetzt, da sie ihre Tochter in der Defensive wusste, kam sie auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen. »Nun, es geht nicht um mich oder den BH, sondern um dich und Tarik. Er ist ein Junge, verstehst du, und als solcher macht er sich um Anstandsfragen keine Gedanken. Die solltest du dir aber machen. Es steht nicht weniger als dein Ruf auf dem Spiel. Und der Ruf eines Mädchens, zumal eines so hübschen, wie du es bist, ist eine delikate Sache. Wie ein Beo in geschlossener Hand. Wenn du sie auch nur ein klein wenig öffnest, fliegt er davon.«
»Und wie war das bei dir, als du über die Mauer gestiegen bist, um dich mit Babi im Obstgarten zu treffen?«, fragte Laila, froh darüber, wie schnell sie sich von dem Überfall ihrer Mutter erholt hatte.
»Wir waren Cousin und Cousine. Und wir haben ja schließlich geheiratet. Hat dieser Junge um deine Hand angehalten?«
»Er ist ein Freund. Ein rafiq. Mehr ist da nicht zwischen uns«, entgegnete Laila, was allerdings nicht besonders überzeugend klang. »Er ist für mich wie ein Bruder«, fügte sie ungeschickterweise hinzu. Und noch bevor sich die Miene ihrer Mutter verfinsterte, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
»Das ist er nicht«, blaffte Mami. »Du wirst diesen einbeinigen Tischlersohn doch wohl nicht mit deinen Brüdern vergleichen wollen. An unsere beiden Jungen reicht keiner heran.«
»Ich habe ja auch nicht behauptet, dass er… So war es nicht gemeint.«
Mami seufzte und presste die Lippen aufeinander.
»Wie dem auch sei«, fuhr sie fort, nun aber sehr viel ernster als vorher. »Was ich dir begreiflich zu machen versuche, ist, dass die Leute über dich reden werden, wenn du nicht vorsichtig bist.«
Laila wollte etwas entgegnen. Nicht, dass sie ihrer Mutter widersprochen hätte. Laila wusste, dass sie nicht länger so unbekümmert mit Tarik herumtollen konnte wie früher. Seit einiger Zeit war ihr selbst ein wenig merkwürdig zumute, wenn sie sich mit ihm in der Öffentlichkeit zeigte. Dann empfand sie eine Scheu, die ihr früher unbekannt gewesen war — und womöglich auch jetzt noch unbekannt wäre, hätte sich nicht eines grundlegend verändert: Sie hatte sich in Tarik verliebt. Hoffnungslos. Wenn er in ihrer Nähe war, kamen ihr unwillkürlich die skandalösesten Gedanken, und sie stellte sich vor, seinen schlanken nackten Körper zu umschlingen und zu küssen. Wenn sie nachts in ihrem Bett lag, malte sie sich aus, wie es sein mochte, seine Hände und weichen Lippen im Nacken, auf der Brust, am Rücken und noch tiefer zu spüren. Wenn sie auf diese Weise an ihn dachte, kam sie sich verdorben und schuldig vor; und dann war da noch ein sonderbares, warmes Gefühl, das vom Bauch ausging und ausstrahlte, bis sie den Eindruck hatte, als glühte ihr Gesicht.
Nein. Mamis Bedenken waren wahrhaftig nicht von der Hand zu weisen. Manche Nachbarn, wenn nicht alle, hatten sich wahrscheinlich längst ihr Bild gemacht. Nicht selten waren den beiden verstohlene Blicke zugeworfen worden, und Laila ahnte, dass über sie und Tarik getuschelt wurde. Erst kürzlich war ihnen Raschid, der Schuhmacher, mit seiner verhüllten Frau Mariam im Schlepp auf der Straße begegnet. Im Vorübergehen hatte er grinsend gesagt: »Wen haben wir denn da? Leila und Madschnun!«, womit er auf das Liebespaar in Nizamis Gedicht aus dem 12. Jahrhundert anspielte — eine Farsi-Version von Romeo und Julia, wie ihr Babi später erklärte; allerdings habe Nizami seine Geschichte der unglücklichen Liebe bereits vierhundert Jahre vor Shakespeare verfasst.
Mami hatte durchaus recht.
Was Laila wurmte, war, dass Mami nicht verdiente, recht zu behalten. Auf Babis Meinung hätte sie mehr Wert gelegt. Aber Mami? Nach all den Jahren, in denen sie sich abgesondert und kaum einen Gedanken an ihre Tochter verschwendet hatte… Das war unfair. Laila kam sich vor wie eins dieser Küchenutensilien, die man je nach Laune vernachlässigen oder in Beschlag nehmen konnte.
Dennoch, dies war ein großer und für alle wichtiger Tag. Es wäre kleinlich, Anstoß zu nehmen und die Stimmung zu verderben.