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»Gut«, sagte Mami. »Das wäre also geklärt. Wo ist eigentlich Hakim? Ja, wo treibt sich mein lieber kleiner Gatte herum?«
Der Himmel war strahlend blau, das Wetter perfekt für eine Party. Die Männer saßen auf wackligen Klappstühlen im Hof. Sie tranken Tee, rauchten und diskutierten eifrig über die Pläne der Mudschaheddin. Babi hatte Laila schon einiges darüber mitgeteilt: Afghanistan nannte sich jetzt Islamischer Staat von Afghanistan. Ein von den verschiedenen Fraktionen der Mudschaheddin in Peschawar gebildeter Rat, der Islamische Dschihad-Rat, hatte unter Leitung von Sibghatullah Mujaddidi die politischen Geschäfte übernommen. Er sollte nach zwei Monaten abgelöst werden von einem Führungsrat unter Rabbani, dessen Amtszeit auf vier Monate begrenzt war. Im Laufe dieser sechs Monate sollte eine Loya Dschirga einberufen werden, eine große Versammlung der Anführer und Ältesten des Landes, mit dem Ziel, eine auf zwei Jahre begrenzte Übergangsregierung zu bilden, die unter anderem die Aufgabe hatte, demokratische Wahlen vorzubereiten.
Einer der Männer drehte Lammspieße über der zischenden Glut eines provisorischen Grills. Babi und Tariks Vater spielten im Schatten des alten Birnbaums eine Partie Schach, die Gesichter vor Konzentration zerknittert. Tarik sah ihnen dabei zu und lauschte mit einem Ohr der Diskussion am Tisch nebenan.
Die Frauen hielten sich im Wohnzimmer, im Flur und in der Küche auf. Manche hatten einen Säugling auf dem Arm und wichen geschickt den Kindern aus, die einander durchs Haus zerrten. Aus den Lautsprechern des Kassettenrekorders plärrte eine Gasele von Ustad Sarahang.
Laila stand in der Küche und füllte, von Giti unterstützt, dogh in Karaffen. Giti war längst nicht mehr so schüchtern oder ernst wie früher. Sie lachte jetzt gern und manchmal ein bisschen kokett, wie Laila zu ihrer Verwunderung bemerkte. Anstelle eines Pferdeschwanzes trug sie ihr Haar nunmehr offen und färbte rötliche Strähnchen hinein. Nach hartnäckiger Nachfrage erfuhr Laila, dass der Anstoß zu dieser Verwandlung von einem achtzehnjährigen jungen Mann ausging, den Giti auf sich aufmerksam gemacht hatte. Er hieß Sabir und war Torwart in der Fußballmannschaft, der auch ihr älterer Bruder angehörte.
»Er hat ein wahnsinnig süßes Lächeln und enorm dichtes schwarzes Haar«, hatte Giti ihrer Freundin anvertraut. Von dem Flirt wusste natürlich niemand. Giti war erst zweimal heimlich mit ihm verabredet gewesen, und das nur für jeweils eine Viertelstunde in einem kleinen Teehaus in Taimani am anderen Ende der Stadt.
»Er wird um meine Hand anhalten, Laila. Vielleicht schon im Sommer. Kaum zu glauben, oder? Ehrlich, er geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.«
»Und was ist mit der Schule?« Auf Lailas Frage hatte Giti nur die Augen verdreht.
Von Hasina war früher des Öfteren zu hören gewesen: »Wenn wir, Giti und ich, zwanzig sind, hat jede von uns schon vier oder fünf Kinder geworfen. Und auf dich, Laila, werden wir zwei Strohköpfe einmal richtig stolz sein. Aus dir wird noch was. Ich bin mir sicher, irgendwann sehe ich eine Zeitung mit deinem Foto auf der Titelseite.«
Mit verträumtem, in sich gekehrtem Blick schnitt Giti Gurken klein.
Mami, die ihr duftiges Sommerkleid trug, pellte zusammen mit der Hebamme Wajma und Tariks Mutter gekochte Eier.
»Ich werde Kommandeur Massoud ein Foto von Ahmad und Noor zukommen lassen«, sagte sie zu Wajma. Wajma nickte und versuchte, ernsthaftes Interesse vorzutäuschen.
»Er hat persönlich für ihre Beisetzung gesorgt und an ihrem Grab ein Gebet gesprochen. Dafür möchte ich mich bedanken.« Mami schlug ein weiteres gekochtes Ei an. »Er soll ja, wie man hört, ein sehr nachdenklicher und ehrenwerter Mann sein. Ich glaube, er wird meine Geste zu schätzen wissen.«
Frauen schwirrten umher, holten Schalen mit qurma, Teller voll mastawa und Brot aus der Küche ab, die sie dann auf der am Boden des Wohnzimmers ausgebreiteten sofrah verteilten.
Ab und zu zeigte sich auch Tarik, um von den Speisen zu naschen.
»Hier werden keine Männer geduldet«, sagte Giti.
»Raus, raus!«, rief Wajma.
Tarik schmunzelte. Es schien ihm zu gefallen, nicht willkommen zu sein und die Frauenwirtschaft mit seinem männlich respektlosen Grinsen zu verärgern.
Laila tat ihr Bestes, ihn zu ignorieren, um den Frauen nicht noch mehr Stoff für Klatsch und Tratsch zu bieten. Also hielt sie den Blick gesenkt und sagte nichts, erinnerte sich aber an das, was sie vor einigen Nächten geträumt hatte: sein und ihr Gesicht im Spiegel hinter einem zarten grünen Schleier. Und Reiskörner, die, aus ihrem Haar fallend, mit einem kleinen Pling vom Glas abprallten.
Tarik langte mit einem Löffel in den Eintopf aus Kalbfleisch und Kartoffeln.
»Ho bacha!« Wajma klatschte ihm auf die Hand. Tarik stahl den Happen dennoch und lachte.
Er war inzwischen fast einen Kopf größer als Laila und musste sich rasieren. Die Gesichtszüge waren markanter geworden, die Schultern breiter. Er trug jetzt meist Bundfaltenhosen, schwarze, blank polierte Slipper und Hemden mit kurzen Ärmeln, um mit seinen Muskeln angeben zu können, die er tagtäglich mit zwei alten rostigen Hanteln im Hof trainierte. In letzter Zeit setzte er gern eine streitlustige Miene auf, neigte, wenn er sprach, den Kopf ein bisschen zur Seite und lupfte eine Braue, wenn er lachte. Auch das spöttische Grinsen war neu an ihm.
Tarik war kurz zuvor schon einmal aus der Küche verscheucht worden, und seine Mutter hatte Laila dabei ertappt, dass sie ihm einen heimlichen Blick zuwarf. Laila war zusammengezuckt und hatte sich schnell wieder darangemacht, die Gurkenstücke unter den gesalzenen Joghurt zu rühren. Sie spürte die Augen von Tariks Mutter auf sich gerichtet, ihr wissendes, wohlmeinendes Schmunzeln.
Die Männer gingen mit gefüllten Tellern und Gläsern zurück in den Hof. Nachdem sie versorgt waren, nahmen die Frauen und Kinder rund um die sofrah auf dem Fußboden Platz und fingen zu essen an.
Als später die sofrah wieder fortgeräumt und das Geschirr in die Küche gebracht worden war, als es nun galt, Tee zuzubereiten und sich daran zu erinnern, wer grünen beziehungsweise schwarzen Tee bevorzugte, nickte Tarik Laila mit dem Kopf zu und schlüpfte durch die Tür nach draußen.
Laila wartete fünf Minuten und folgte dann.
Sie fand ihn weiter unten auf der Straße, wo er neben der Mündung einer engen Gasse an der Mauer lehnte. Er summte ein altes paschtunisches Lied von Ustad Awal Mir:
Und er rauchte — auch das eine neue Angewohnheit, die er von den Jungs übernommen hatte, mit denen er in letzter Zeit häufig zusammen war. Laila konnte sie nicht leiden, seine neuen Freunde. Sie alle trugen Bundfaltenhosen und enge Hemden, die ihre Schultern und Arme betonten. Außerdem rochen alle nach Eau de Cologne. Und sie rauchten, ausnahmslos. In Gruppen stolzierten sie durch die Nachbarschaft, alberten herum, lachten laut und riefen den Mädchen nach, wobei sie samt und sonders das gleiche dümmliche, selbstgefällige Grinsen im Gesicht trugen. Einer von ihnen hielt sich anscheinend für ein Double von Sylvester Stallone und bestand darauf, Rambo genannt zu werden.
»Deine Mutter würde dir die Hölle heiß machen, wenn sie dich rauchen sähe«, sagte Laila. Sie schaute sich nach allen Seiten um und trat in die Gasse.
»Davon erfährt sie nichts«, entgegnete er und rückte zur Seite, um ihr Platz zu machen.
»Vielleicht doch.«
»Von wem? Von dir vielleicht?«
Laila scharrte mit dem Fuß. »Sprich deine Geheimnisse in den Wind, aber mach ihm keinen Vorwurf, wenn er sie den Bäumen weitererzählt.«
Tarik lächelte und hob die linke Braue. »Wer hat das gesagt?«
»Khalil Gibran.«
»Angeberin.«
»Gib mir auch eine.«
Er schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. Auch das gehörte zum Repertoire seiner neuen Posen: mit dem Rücken an eine Wand gelehnt, die Arme verschränkt, eine Zigarette im Mundwinkel und das gesunde Bein lässig angewinkelt.
»Warum nicht?«
»Ist schlecht für dich«, antwortete er.
»Für dich nicht?«
»Ich tu’s, um den Mädchen zu gefallen.«
»Welchen Mädchen?«
Er grinste. »Sie finden es sexy.«
»Von wegen.«
»Nein?«
»Glaub mir.«
»Nicht sexy?«
»Du siehst aus wie ein khila, ein Schwachkopf.«