39755.fb2
»Von welchen Mädchen sprichst du?«
»Eifersüchtig?«
»Nur neugierig.«
Er paffte und blinzelte durch den Rauch. »Ich wette, man zerreißt sich gerade über uns das Maul.«
Laila dachte an die Mahnung ihrer Mutter. Wie ein Beo in geschlossener Hand. Wenn du sie auch nur ein klein wenig öffnest, fliegt er davon. Sie beschlich ein ungutes Gefühl. Laila blendete Mamis Stimme aus. Stattdessen weidete sie sich an Tariks Formulierung des Wörtchens uns. Er hatte es ganz beiläufig und wie selbstverständlich verwendet und damit ihre Verbundenheit bestätigt.
»Und was werden sie über uns sagen?«
»Dass wir auf dem Fluss der Sünde paddeln«, antwortete er. »Vom Kuchen der Untugend naschen.«
»Mit der Rikscha des Verderbens fahren?«, stimmte Laila mit ein.
»Ein Frevel-qurma kochen.«
Beide lachten. Dann bemerkte Tarik, dass ihr Haar länger geworden sei. »Ist hübsch so«, sagte er.
Laila hoffte, nicht rot zu werden. »Du lenkst ab.«
»Wovon?«
»Von den hirnlosen Mädchen, die dich sexy finden.«
»Du weißt es doch.«
»Was weiß ich?«
»Dass ich nur Augen für dich habe.«
Ihr wurde schwummrig. Sie versuchte, seine Miene zu lesen, sah aber nur ein albernes Grinsen, das so gar nicht zum Ausdruck seiner Augen zu passen schien. Ein cleverer Blick, genau abgezirkelt zwischen Spott und Ernsthaftigkeit.
Tarik drückte den Stummel unter dem Absatz des gesunden Fußes aus. »Was hältst du von alledem?«
»Von der Party?«
»Wer ist jetzt der Schwachkopf von uns beiden? Ich meine die Mudschaheddin. Ihren Einzug in Kabul.«
»Oh.«
Sie wollte gerade berichten, was Babi über die gefährliche Ehe zwischen Gewehren und Eigensinn gesagt hatte, als plötzlich Schreie laut wurden, die vom Haus ihrer Eltern kamen.
Laila rannte los. Tarik hinkte hinterher.
Im Hof herrschte helle Aufregung. Zwei Männer wälzten sich ringend am Boden. In dem einen erkannte Laila einen der Männer wieder, die zuvor miteinander über Politik diskutiert hatten. Der andere war derjenige, der die Kebabspieße gewendet hatte. Einer von ihnen hielt ein Messer in der Hand. Mehrere Männer versuchten, die beiden auseinanderzubringen. Babi war nicht dabei. Er hielt sich in sicherer Entfernung vor der Hofmauer auf. Tariks Vater, der neben ihm stand, hatte Tränen im Gesicht.
Aus den aufgebrachten Kommentaren ringsum machte sich Laila ihren Reim: Der eine, ein Paschtune, hatte Ahmad Schah Massoud einen Verräter genannt und ihm vorgeworfen, in den achtziger Jahren mit den Sowjets »krumme Geschäfte« getrieben zu haben. Der andere, ein Tadschike, hatte Anstoß daran genommen und die Zurücknahme der Behauptung verlangt. Der Paschtune weigerte sich, worauf der Tadschike sagte, dass, wenn Massoud nicht gewesen wäre, seine Schwester — die des anderen — immer noch den sowjetischen Soldaten »zu Gefallen« sein musste. Und dann war es rundgegangen. Einer von ihnen hatte ein Messer gezogen; wer von beiden, war nicht klar.
Mit Schrecken sah Laila, wie sich Tarik Hals über Kopf in das Handgemenge stürzte. Einer derjenigen, die zu schlichten versuchten, schlug nun selber mit den Fäusten zu, und ihr war, als habe sie ein zweites Messer aufblitzen sehen.
Später, am Abend, versuchte Laila noch einmal nachzuvollziehen, wie die Schlägerei um sich gegriffen hatte, bis schließlich fast alle Männer mit Geschrei und fliegenden Fäusten übereinander hergefallen waren, Tarik mitten unter ihnen. Am Ende kam er mit zerrissenem Hemd und schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Gewühl hervorgekrochen. Die Prothese war ihm verloren gegangen.
Die Ereignisse überstürzten sich.
Der Führungsrat war voreilig gebildet worden. Er wählte Rabbani zum neuen Präsidenten, was zu Rivalitäten zwischen den einzelnen Fraktionen führte. Massoud mahnte zu Geduld und Ruhe.
Hekmatyar empörte sich über seinen Ausschluss. Die Hazaras, immer schon unterdrückt und missachtet, kochten vor Wut.
Beleidigungen machten die Runde. Finger zeigten auf andere. Vorwürfe flogen hin und her. Versammlungen wurden unter Protest abgebrochen, Türen geknallt. Die Stadt hielt den Atem an. In den Bergen griff man wieder zu den Kalaschnikows.
In Ermangelung eines gemeinsamen Feindes bekämpften sich die bis an die Zähne bewaffneten Mudschaheddin untereinander.
Für Kabul war der Tag der Abrechnung gekommen.
Raketen prasselten auf die Stadt nieder; ihre Bewohner verbarrikadierten sich. Mami trug wieder Schwarz, ging auf ihr Zimmer, zog die Vorhänge zu und vergrub sich unter den Decken.
»Am schlimmsten finde ich das Pfeifen«, sagte Laila zu Tarik,
»dieses verdammte Pfeifen.«
Tarik nickte zustimmend.
Später dachte Laila, dass es nicht so sehr das Pfeifen als solches war als vielmehr die Sekunden bis zum Aufprall. Die kurze unbestimmte Zeitspanne in der Schwebe. Nicht das Wissen, sondern das Warten. Wie für den Angeklagten vor Gericht der Augenblick unmittelbar vor dem Urteilsspruch.
Es war häufig zur Abendzeit, wenn sie und Babi zu Tisch saßen. Wenn es einsetzte, schreckten sie auf. Wie gebannt lauschten sie dem Pfeifen, die Gabeln in der Luft, die Kaubewegungen angehalten. Laila beobachtete ihre schwach beleuchteten Gesichter im Spiegel der schwarzen Fensterscheibe, die reglosen Schatten an der Wand. Das Pfeifen. Dann die Detonation, glücklicherweise irgendwo anders, da, wo mit Geschrei und unter erstickenden Rauchwolken jetzt wahrscheinlich bloße Hände in Trümmern wühlten und zu bergen versuchten, was von einer Schwester, einem Bruder, einem Enkelkind übrig geblieben war.
Doch verschont geblieben zu sein ersparte einem nicht die quälende Frage, wen es getroffen haben mochte. Nach jedem Raketeneinschlag rannte Laila nach draußen und stammelte ein Gebet, um die schreckliche Vorstellung abzuwehren, dass man diesmal Tarik unter rauchenden Trümmern begraben finden würde.
Nachts sah Laila, im Bett liegend, weiße Blitze im Fenster aufzucken. Sie hörte das Rattern automatischer Gewehre und zählte das Kreischen von Raketen, während das Haus bebte und Verputz von der Decke herabregnete. Manchmal, wenn der Feuerschein der Raketen so hell war, dass man ein Buch hätte lesen können, war an Schlaf nicht zu denken. Wenn sie aber schlief, träumte Laila von abgerissenen Gliedmaßen, Feuersbrünsten und dem Schreien Verwundeter.
Der Morgen brachte keine Erleichterung. Wenn der Muezzin zum namaz rief, legten die Mudschaheddin ihre Waffen nieder und wandten sich gen Westen zum Gebet. Danach aber wurden die Teppiche sofort wieder eingerollt, die Gewehre geladen und das Feuer von den Bergen über Kabul neu eröffnet. Laila und alle anderen Städter waren ohnmächtige Zeugen der Gefechte, hilflos wie der alte Santiago, der mit ansehen musste, wie die Haie seinen großen Fang zerfleischten.
Überall traf Laila auf Massouds Männer. Sie sah sie durch die Straßen ziehen, Autos anhalten und deren Insassen verhören. In ihren Kampfanzügen und dem unverzichtbaren pakol auf dem Kopf saßen sie rauchend auf Panzern oder beobachteten an Straßenkreuzungen, hinter Sandsäcken verbarrikadiert, die Passanten.
Laila wagte sich nur selten ins Freie. Wenn sie es tat, wurde sie immer von Tarik begleitet, dem diese ritterliche Pflicht zu gefallen schien.
»Ich habe mir eine Pistole gekauft«, sagte er eines Tages. Sie hockten unter dem Birnbaum in Lailas Hof. Er zeigte ihr die Waffe. Es sei eine halbautomatische, sagte er, eine Beretta. Für Laila war sie nur ein schwarzes, tödliches Ding.
»So etwas macht mir Angst«, sagte sie.
Tarik hantierte mit dem Magazin herum.
»Letzte Woche sind in einem Haus in Karteh-Seh drei Leichen gefunden worden«, berichtete er. »Hast du davon gehört? Schwestern. Vergewaltigt alle drei. Mit aufgeschlitzten Kehlen. Jemand hat ihnen die Ringe von den Fingern gebissen. Das war an den Spuren zu erkennen, die eindeutig von Zähnen…«
»Davon will ich nichts hören.«