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Raschid verzog das Gesicht. »Ich sagte, draußen ist es warm genug«, brüllte er noch lauter.
»Ich gehe nicht mit ihr nach draußen.«
Das Singen setzte wieder ein.
»Irgendwann, ich schwör’s, irgendwann werde ich das Ding in einer Kiste auf dem Kabul aussetzen. Wie Moses.«
Mariam hatte ihn seine Tochter noch nie bei ihrem Namen –Aziza, die Verehrte — nennen hören. Er bezeichnete sie nur als »das Baby« oder, wenn er gereizt war, »das Ding«.
In manchen Nächten gab es Streit zwischen den Eltern. Mariam schlich dann auf Zehenspitzen an die Schlafzimmertür und lauschte. Sie hörte ihn über das Kind klagen, über das andauernde Schreien, die stinkenden Windeln und Spielzeuge, über die er immer wieder stolperte, darüber, dass er von Laila gar nicht mehr beachtet wurde, weil sich alles nur um das Ding drehte, das ständig gefüttert, gewaschen und gehalten werden wollte. Das Mädchen hingegen schimpfte, dass er im Zimmer rauchte und das Kind nicht mit in ihrem Bett schlafen ließ.
Es gab auch andere Auseinandersetzungen, ausgetragen in wütendem Flüsterton.
»Der Arzt sagt, allenfalls sechs Wochen.«
»Jetzt noch nicht, Raschid. Nein. Lass mich. Bitte. Tu’s nicht.«
»Es ist schon zwei Monate her.«
»Psst, leise. Na prima, jetzt hast du das Baby aufgeweckt.« Und mit schärferer Stimme: »Kosh shodi? Endlich zufrieden?«
Mariam war dann zurück in ihr Zimmer geschlichen.
Jetzt jammerte Raschid: »Kannst du nicht irgendwie helfen?«
»Ich kenne mich mit Babys nicht aus«, antwortete Mariam.
»Raschid! Bringst du mal das Fläschchen? Es steht auf der almari. Sie will nicht trinken. Ich muss es mit der Flasche versuchen.«
Das Baby fing wieder zu schreien an.
Raschid schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Dieses Ding ist ein Warlord. Ich sag’s dir, Laila hat einen zweiten Gulbuddin Hekmatyar zur Welt gebracht.«
Mariam sah, dass das Mädchen ausschließlich mit dem Baby beschäftigt war. Es musste geschaukelt, unterhalten und in regelmäßigen Abständen gestillt werden. Wenn es schlief, waren Windeln zu waschen. Das Mädchen ließ sie in einem Trog einweichen und benutzte dafür ein Desinfektionsmittel, das Raschid auf ihr Drängen hin besorgt hatte. Sie feilte der Kleinen die Fingernägel mit feinem Sandpapier, wusch die Strampler und Nachthemdchen und hängte sie zum Trocknen auf. Auch wegen dieser Sachen gab es immer wieder Streit.
»Was ist dagegen einzuwenden?«, wollte Raschid wissen.
»Es sind Sachen für Jungen. Für einen bacha.«
»Glaubst du etwa, ihr würde der Unterschied auffallen? Ich habe für das ganze Zeug gutes Geld ausgegeben. Und noch etwas: Mir gefällt dein Ton nicht. Versteh meinen Hinweis als Warnung.«
Regelmäßig einmal in der Woche erhitzte das Mädchen eine kleine Pfanne überm Feuer, röstete darin eine Prise Rautensamen und fächerte den daraus aufsteigenden espandi-Rauch ihrem Kind zu, um es vor bösen Einflüssen zu schützen.
Mariam konnte die Begeisterung des Mädchens für das Kind kaum ertragen, musste sich aber eingestehen, dass sie auch so etwas wie Bewunderung empfand. Sie bemerkte, wie die Augen des Mädchens geradezu ehrfürchtig leuchteten, selbst morgens nach schlafloser Nacht, wenn ihr Gesicht abgespannt aussah und die Haut wächsern. Das Mädchen konnte herzhaft lachen, wenn das Baby pupste. Die winzigste Veränderung entzückte sie, und jede Regung des Kindes war für sie ein spektakuläres Ereignis.
»Sieh nur! Sie greift nach der Rassel. Wie clever sie ist.«
»Ich sollte wohl die Presse rufen«, knurrte Raschid.
Abends gab es immer kleine Vorführungen, und wenn das Mädchen darauf bestand, dass Raschid Kenntnis davon nahm, hob er das Kinn und warf seinen mürrischen Blick über den blau geäderten Haken seiner Nase.
»Schau. Schau, wie sie lacht, wenn ich mit den Fingern schnippe. Da. Hast du’s gesehen?«
Raschid gab dann meist einen Grunzlaut von sich und stocherte weiter in seinem Essen herum. Mariam erinnerte sich, dass ihn vor nicht allzu langer Zeit allein schon die Anwesenheit des Mädchens überwältigt hatte. Jedes Wort von ihr war ihm eine Offenbarung gewesen, jede Geste ein Grund, aufzumerken und anerkennend mit dem Kopf zu nicken.
Dass das Mädchen bei ihm in Ungnade gefallen war, hätte Mariam mit einem Gefühl von Triumph quittieren können, was sich aber seltsamerweise nicht einstellen wollte. Zu ihrer eigenen Überraschung empfand Mariam Mitleid mit dem Mädchen.
Das Mädchen war immerzu von Sorgen geplagt, die es allabendlich am Esstisch wortreich zum Ausdruck brachte. An erster Stelle stand die Befürchtung, das Kind könnte an einer Lungenentzündung erkranken, und jedes noch so kleine Husten bestärkte sie darin. Wenn es Durchfall hatte, sah sie schon das Gespenst der Ruhr vor Augen, und jeder Hautausschlag deutete für sie auf Windpocken oder Masern hin.
»Du solltest dein Herz nicht so sehr daran hängen«, sagte Raschid eines Abends.
»Was soll das heißen?«
»Ich habe vor kurzem einen Radiobericht gehört. Von Voice of America. Da wurde eine interessante Statistik genannt. Es heißt, dass in Afghanistan von vier Kindern eines nicht älter wird als fünf. Das spricht wohl für sich — he, was ist? Wo willst du hin? Komm zurück. Komm sofort zurück!«
Er warf Mariam einen irritierten Blick zu. »Was hat sie bloß?«
Als Mariam im Bett lag, brach das Gezänk wieder aus. Es war eine heiße, trockene Sommernacht, typisch für den Monat Saratan in Kabul. Mariam hatte das Fenster geöffnet, dann aber wieder geschlossen, weil statt der erwünschten kühlen Brise nur Stechmücken kamen. Sie spürte, wie die Hitze draußen vom Boden aufstieg, die Außenmauer hinaufkroch und mit den faulen Gerüchen des Abtritts in ihr Zimmer drang.
Normalerweise hatten sich die Streitereien nach wenigen Minuten erschöpft, doch jetzt war schon über eine halbe Stunde vergangen, und die Wut eskalierte. Mariam hörte Raschid aus vollem Hals brüllen. Die Stimme des Mädchens klang ängstlich und schrill. Bald fing auch das Baby zu schreien an.
Dann hörte Mariam, dass die Schlafzimmertür mit Wucht aufgestoßen wurde — am nächsten Morgen sollte sie eine tiefe Delle vorfinden, mit der sich der Türknauf in der Wand abgebildet hatte. Sie saß bereits aufrecht im Bett, als ihre eigene Tür aufflog und Raschid hereingestürmt kam.
Er trug weiße Unterwäsche mit dunklen Schweißflecken unter den Achseln. Seine Füße steckten in Gummilatschen. Er hielt den braunen Gürtel in der Hand, den er sich zur nikka gekauft hatte. Das gelochte Ende war um seine Faust gewickelt.
»Du steckst dahinter. Hab ich’s mir doch gedacht«, knurrte er und rückte näher.
Mariam schlüpfte aus dem Bett und wich zurück, die Arme schützend vor der Brust, weil er dort immer zuerst hinschlug.
»Wovon redest du?«, stammelte sie.
»Von ihrer Ablehnung. Das hat sie von dir.«
Mit den Jahren hatte Mariam gelernt, sich gegen seine Wutausbrüche und Vorwürfe, seine Verhöhnungen und Zurechtweisungen abzuhärten. Aber die Furcht vor ihm war geblieben. Selbst nach all den Jahren zitterte sie vor Angst, wenn er so vor ihr stand, mit hasserfülltem Gesicht, den Gürtel um die Faust geschlungen und die geröteten Augen voller Boshaftigkeit. Es war die Angst einer Ziege, eingesperrt in einem Tigerkäfig, wenn der Tiger seinen Kopf von den Tatzen erhebt und zu knurren anfängt.
Jetzt kam auch das Mädchen ins Zimmer, die Augen weit aufgerissen und die Hände ringend.
»Ich hätte wissen müssen, dass du sie gegen mich aufhetzt«, spuckte Raschid aus. Er hob den Gürtel und ließ ihn auf den eigenen Schenkel klatschen. Die Schnalle klirrte.
»Hör auf, bas!«, sagte das Mädchen. »Lass das, Raschid.«
»Verschwinde.«
Mariam wich weiter zurück.
»Nein! Tu’s nicht!«