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Für alle Männer gilt Bartpflicht. Das korrekte Längenmaß des Bartes entspricht der Breite einer geballten Faust unter dem Kinn. Wer diese Vorschrift nicht beachtet, wird mit Prügel bestraft.
Alle Jungen tragen Turban. Schüler der ersten bis zur sechsten Klasse tragen schwarze, ältere Schüler weiße Turbane. Alle Jungen tragen Islamische Kleidung. Hemden sind bis zum Kragen zuzuknöpfen.
Singen ist verboten.
Tanzen ist verboten.
Kartenspiele, Schach, Glücksspiele und Drachensteigen-Lassen sind verboten.
Bücher zu schreiben, Filme anzusehen und Bilder zu malen ist verboten.
Das Halten von Papageien wird mit Prügelstrafe geahndet; die Vögel werden getötet.
Überführten Dieben wird die Hand am Handgelenk abgetrennt. Wiederholungstätern wird ein Fuß abgeschnitten.
Nicht-Muslime haben ihren Gottesdienst an Orten zu feiern, wo sie nicht von Muslimen gesehen werden können. Wer sich nicht daran hält, den erwarten Prügelstrafe und Inhaftierung. Der Versuch, einen Muslim zu einem anderen Glauben zu bekehren, wird mit dem Tod geahndet.
Frauen — aufgepasst:
Ihr werdet Euch zu allen Zeiten ausschließlich im Haus aufhalten. Es gehört sich nicht für eine Frau, ziellos auf Straßen herumzuziehen. Ausgänge sind nur in Begleitung eines mahram, eines männlichen Angehörigen, gestattet. Wer allein auf der Straße aufgegriffen wird, wird mit Prügel bestraft und nach Hause geschickt.
Ihr dürft unter keinen Umständen Euer Gesicht zeigen und werdet, wenn im Freien unterwegs, Burka tragen. Zuwiderhandlung wird mit Prügelstrafe geahndet.
Kosmetik ist verboten.
Schmuck ist verboten.
Das Tragen aufreizender Kleider ist verboten.
Ihr dürft nur sprechen, wenn Ihr dazu aufgefordert werdet.
Ihr werdet mit Männern keinen Blickkontakt aufnehmen.
Ihr werdet in der Öffentlichkeit nicht lachen.
Zuwiderhandlung wird mit Prügelstrafe geahndet.
Das Lackieren der Fingernägel ist verboten. Bei Zuwiderhandlung wird ein Finger abgetrennt.
Für Mädchen ist der Besuch einer Schule verboten. Alle Mädchenschulen werden mit sofortiger Wirkung geschlossen.
Erwerbsarbeit ist Frauen verboten.
Wer sich des Ehebruchs schuldig macht, wird gesteinigt.
Nehmt dies zur Kenntnis. Gehorcht. Allah-u-akbar.
Raschid schaltete das Radio aus. Sie hockten auf dem Boden des Wohnzimmers und aßen zu Abend. Es war noch keine Woche her, dass sie Nadschibullahs Leiche an der Laterne hatten hängen sehen.
»Sie können doch nicht verlangen, dass die Hälfte der Bevölkerung zu Hause bleibt und nichts tut«, sagte Laila.
»Warum nicht?«, fragte Raschid. Mariam stimmte ihm ausnahmsweise zu. Von ihr und Laila verlangte er das schließlich schon lange. Das musste doch auch Laila begreifen.
»Wir leben schließlich nicht in irgendeinem Dorf, sondern in Kabul. Hier arbeiten Frauen als Rechtsanwältinnen und Ärztinnen; manche hatten Regierungsämter inne…«
Raschid grinste. »So spricht das arrogante Töchterchen eines Universitätsmannes, der Gedichte gelesen hat. Wie mondän, wie tadschikisch. Du hältst die Taliban wohl für verrückt. Aber hast du dich mal darum gekümmert, wie es in Afghanistan wirklich zugeht, im Süden, im Osten, entlang der pakistanischen Grenze? Nein? Ich schon. Und ich kann dir sagen, dass es in diesem Land viele Gegenden gibt, in denen das, was die Taliban jetzt auch bei uns einzuführen versuchen, längst gang und gäbe ist. Mehr oder weniger jedenfalls- Aber davon hast du ja keine Ahnung.«
»Ich mag es nicht glauben«, sagte Laila. »Das kann doch nicht deren Ernst sein.«
»Wie sie mit Nadschibullah umgegangen sind, erschien mir durchaus ernsthaft«, entgegnete Raschid. »Findest du nicht auch?«
»Er war Kommunist. Er war Chef der Geheimpolizei.«
Raschid lachte.
Mariam hörte seinem Lachen an, was er dachte: dass Nadschibullah als Kommunist und Chef der gefürchteten KHAD in den Augen der Taliban nur unwesentlich verachtenswerter war als eine Frau.
Laila war froh, dass Babi nicht miterleben musste, was nun im Namen der Taliban geschah. Es hätte ihn krank gemacht.
Mit Spitzhacken bewaffnete Männer stürmten das baufällige Kabul-Museum und zerschlugen Statuen aus vorislamischer Zeit, genauer gesagt, all das, was nicht schon von den Mudschaheddin geplündert worden war. Die Universität wurde geschlossen, die Studenten nach Hause geschickt. Gemälde wurden von den Wänden gerissen und mit Messern zerfetzt, Fernsehgeräte mit Füßen getreten, Buchhandlungen geschlossen und Bücher, mit Ausnahme des Koran, zu Bergen aufgehäuft und verbrannt. Werke von Khalili, Pazwak, Ansari, Hadschi Dehqan, Ashraqi, Behtab, Hafis, Jami, Nizami, Rumi, Khayyam, Beydel und vieler anderer gingen in Rauch auf.
Laila hörte davon, dass Männer unter dem Vorwurf, einen namaz ausgelassen zu haben, mit Gewalt in die Moschee getrieben wurden. Sie erfuhr, dass das Restaurant Marco Polo an der Hühnerstraße zu einer Verhörzentrale umgewandelt worden war. Hinter den schwarz verkleideten Fenstern wurden häufig Schreie laut. Die Bartpatrouille streifte auf Toyota-Transportern durch die Straßen auf der Suche nach glatt rasierten Gesichtern.
Auch die Kinos mussten dichtmachen. Cinema Park.
Ariana. Aryub. Projektoren wurden zerschlagen, Filmrollen in Brand gesetzt. Laila erinnerte sich, wie oft sie sich mit Tarik in einem dieser Lichtspielhäuser Hindi-Filme angesehen hatte, all die melodramatischen Geschichten von Liebenden, die durch tragische Umstände voneinander getrennt und in einem fernen Land zur Ehe gezwungen worden waren, wo sie auf Wiesen voller Ringelblumen mit Tränen in den Augen traurige Lieder sangen und sich den andern herbeisehnten. Sie erinnerte sich, dass Tarik immer gelacht hatte, wenn auch sie in Tränen ausgebrochen war.
»Ich würde gern wissen, was sie mit dem Kino meines Vaters gemacht haben«, sagte Mariam eines Tages. »Ob es das Haus noch gibt und ob es immer noch in seinem Besitz ist.«
In Kharabat, dem uralten Musikerviertel von Kabul, war es still geworden. Die Musiker hatte man ins Gefängnis geworfen, ihre rubabs, tambouras und Harmonien zerschlagen. Es hieß, dass die Taliban mit Gewehren auf das Grab von Ahmad Zahir, dem Lieblingssänger Tariks, geschossen hatten.
»Er ist schon seit fast zwanzig Jahren tot«, sagte Laila zu Mariam. »Reicht es denn nicht, einmal gestorben zu sein?«
Raschid störte sich nicht an den Taliban. Er ließ sich einen Bart wachsen und ging regelmäßig in die Moschee. Ansonsten zuckte er ratlos, aber nachsichtig mit den Schultern wie über einen querköpfigen Vetter, von dem man nichts anderes erwarten konnte, als dass er über die Stränge schlug.
Jeden Mittwochabend hörte Raschid die »Stimme der Scharia«, den Sender, über den die Taliban die Namen derer verlasen, die eine öffentliche Bestrafung zu erwarten hatten. Freitags ging er ins Ghazi-Stadion, kaufte sich eine Cola und sah dem Schauspiel zu. Wenn er dann abends zu Laila ins Bett stieg, berichtete er ihr genüsslich und in allen Einzelheiten von abgehackten Händen, durch den Strang vollstreckten Todesurteilen, Enthauptungen und Auspeitschungen.
»Heute hat ein Mann dem Mörder seines Bruders die Kehle aufgeschlitzt«, sagte er eines Abends.
»Barbaren!«, empörte sich Laila.
»Findest du?«, entgegnete er. »Verglichen mit wem? Die Sowjets haben eine Million Menschen getötet. Und weißt du, wie viele den Mudschaheddin während der vergangenen vier Jahre allein in Kabul zum Opfer gefallen sind? Fünftausend. Fünftausend. Ein paar wenigen Dieben die Hände abzuschlagen ist doch eine Bagatelle dagegen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. So steht’s im Koran. Stell dir vor, jemand würde Aziza töten — würdest du dich nicht an ihrem Mörder rächen wollen?«
Laila warf ihm einen angewiderten Blick zu.
»Na bitte«, sagte er.