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»Komm, wir gehen für eine Minute nach draußen, Aziza jo«, sagte Mariam. »Deine Mutter hat mit Kaka Zaman noch einiges zu besprechen. Nur für eine Minute. Komm jetzt.«
Als sie allein waren, wollte Zaman Azizas Geburtsdatum wissen, welche Kinderkrankheiten sie gehabt hatte und ob sie gegen irgendetwas allergisch war. Er erkundigte sich nach Azizas Vater, und Laila hatte bei ihrer Antwort das seltsame Gefühl, eine Lüge vorzutragen, die im Grunde der Wahrheit entsprach. Zaman hörte zu, und seine Miene verriet keinerlei Zweifel. Er leite das Waisenhaus ehrenamtlich, sagte er. Wenn eine hamshira sage, dass ihr Mann tot sei und sie nicht allein für ihre Kinder sorgen könne, werde er das nicht in Frage stellen.
Laila fing zu weinen an.
Zaman legte seinen Stift ab.
»Ich schäme mich so«, schluchzte Laila und presste eine Hand auf den Mund.
»Schauen Sie mich an, hamshira.«
»Was ist das nur für eine Mutter, die ihr eigenes Kind im Stich lässt?«
»Schauen Sie mich an.«
Laila blickte auf.
»Machen Sie sich keine Vorwürfe. Hören Sie? Sie trifft keine Schuld. Es sind diese Wilden, diese wahshis, die an den Pranger gehören. Sie bringen Schande über mich als Paschtunen. Sie haben den Namen meines Volkes in den Schmutz gezogen. Und Sie, hamshira, sind wahrhaftig keine Ausnahme. Uns suchen viele Mütter auf, sehr viele, die ihre Kinder nicht mehr ernähren können, weil es ihnen die Taliban verwehren, einer Arbeit nachzugehen und für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Also, geben Sie sich nicht selbst die Schuld. Hier ist niemand, der Ihnen etwas vorwerfen würde. Ich kann Sie gut verstehen.« Er beugte sich vor. »hamshira. Ich habe Verständnis für Sie.«
Laila wischte sich mit dem Ärmel der Burka die Augen.
»Was dieses Haus betrifft…« Seufzend deutete Zaman mit der Hand im Kreis. »Sie sehen ja selbst, in welch beklagenswertem Zustand es ist. Wir erhalten nur wenig Spenden und müssen uns nach der Decke strecken und improvisieren. Von den Taliban ist nur wenig oder keine Unterstützung zu erwarten. Aber wir schaffen’s auch ohne. Wie Sie, hamshira, wissen auch wir, was zu tun ist. Allah ist gut und freundlich, Allah sorgt für uns, und solange er das tut, werde ich mich darum kümmern, dass Aziza ausreichend zu essen bekommt und anständig gekleidet ist. So viel kann ich Ihnen versichern.«
Laila nickte.
»In Ordnung?« Er lächelte. »Weinen Sie nicht, hamshira. Zeigen Sie Ihrer Tochter nicht, dass Sie weinen.«
Laila wischte sich wieder die Augen. »Gott segne Sie«, flüsterte sie. »Gott segne Sie, Bruder.«
Als es Zeit wurde, Abschied zu nehmen, kam es zu der grauenvollen Szene, die Laila befürchtet hatte.
Aziza geriet in Panik.
Auf dem Nachhauseweg und noch Stunden später hallten Laila die Schreie ihrer Tochter im Kopf nach. Sie sah Zaman mit den Händen nach Aziza greifen, sie zunächst mit sanftem Nachdruck, dann aber mit Gewalt von ihr losreißen, und sie sah Aziza, in Zamans Armen gefangen, mit den Füßen austreten, als er sich beeilte, mit ihr hinter der nächsten Ecke zu verschwinden. Die Kleine schrie, als fürchtete sie, von der Hölle verschluckt zu werden. Und Laila sah sich selbst, wie sie mit gesenktem Kopf und einem in der Kehle erstickten Schrei den Korridor entlanglief.
»Ich rieche sie«, sagte Laila zu Mariam, als sie zu Hause angekommen waren. Aus tränennassen Augen schaute sie, ohne etwas zu sehen, über Mariams Schulter hinweg in den Hof, auf die Mauern und zu den Bergen, die so braun waren wie der Auswurf eines Rauchers. »Ich habe ihren Duft in der Nase, den Duft, wenn sie schläft. Du nicht auch? Riechst du’s nicht auch?«
»Oh, Laila jo«, sagte Mariam. »Hör auf damit. Zu was wäre es gut? Zu was?«
Anfangs gab Raschid Lailas Drängen nach und begleitete sie — Laila, Mariam und Zalmai —, wenn sie loszogen, um Aziza im Waisenhaus zu besuchen. Unterwegs dorthin stellte er jedes Mal sicher, dass sie seinen gequälten, leidenden Blick bemerkte und dass sie zu Ohren bekam, welche Beschwernis er ihretwegen auf sich nahm und wie sehr ihn von dem langen Marsch zum Waisenhaus und zurück seine Beine, der Rücken und die Füße schmerzten. Er ließ keine Möglichkeit aus, ihr deutlich zu machen, wie schrecklich schwer er es hatte.
»Ich bin kein junger Mann mehr«, jammerte er. »Aber das kümmert dich ja nicht. Wenn es nach dir ginge, würdest du mich in Grund und Boden rennen. Aber merke dir, Laila, es geht nicht nach deinen Wünschen.«
Zwei Blocks vor dem Waisenhaus blieb er zurück und sagte, dass er ihnen eine Viertelstunde gebe. »Keine Minute länger«, betonte er. »Sonst könnt ihr ohne mich zurücklaufen, denn ich bin dann weg.«
Laila flehte ihn an, ihr doch ein bisschen mehr Zeit mit Aziza zu gönnen, und nicht nur ihr, sondern auch Mariam, die untröstlich war über Azizas Abwesenheit, aber wie immer im Stillen darunter litt. Und auch Zalmai zuliebe, der tagtäglich fragte, wo seine Schwester sei, und in Wutanfälle ausbrach, die häufig in Weinkrämpfen endeten, denen nicht beizukommen war.
Manchmal blieb Raschid auf halbem Weg zum Waisenhaus stehen, klagte über Schmerzen im Bein und machte kehrt, um mit überraschend forschem, sicherem Schritt nach Hause zurückzueilen. Oder er schnalzte mit der Zunge und ächzte: »Meine Lungen, Laila. Ich bekomme kaum mehr Luft. Morgen geht’s mir vielleicht wieder besser, oder übermorgen. Mal sehen.« Er gab sich dann nicht einmal die Mühe, Atemnot vorzutäuschen. Im Gegenteil, kaum hatte er ihr den Rücken gekehrt, steckte er sich meist eine Zigarette an. Laila, hilflos und zitternd vor Wut, blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Eines Tages eröffnete er ihr, dass er ihr als Begleiter nicht mehr zur Verfügung stehen werde. »Diese Wege machen mich so müde, dass ich es nicht mehr schaffe, mich nach Arbeit umzusehen.«
»Dann werde ich allein gehen«, sagte Laila. »Du kannst mich nicht aufhalten, Raschid. Verstehst du mich? Ich besuche meine Tochter, und wenn du mich noch so sehr prügelst.«
»Mach, was du willst. An den Taliban kommst du aber nicht vorbei. Und behaupte nachher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
»Ich komme mit dir«, sagte Mariam.
Laila lehnte das Angebot ab. »Bleib du mit Zalmai zu Hause. Ich möchte ihm ersparen mitzuerleben, was passiert, wenn sie uns aufgreifen.«
In der Folgezeit drehten sich Lailas Gedanken fast ausschließlich um die Frage, welche Wege einzuschlagen waren, um zu Aziza zu gelangen und ein paar Minuten bei ihr sein zu können. Häufig schaffte sie es nicht bis zum Waisenhaus. Immer wieder wurde sie von Taliban aufgehalten, mit Fragen traktiert — »Wie heißt du? Wo willst du hin? Warum bist du allein, wo ist dein mahram?« — und nach Hause zurückgeschickt. Wenn sie Glück hatte, blieb es bei einer Standpauke, einem Tritt ins Hinterteil oder einem Stoß in den Rücken. Manchmal musste sie aber auch Prügel einstecken und bekam Knüppel, frische Zweige, Peitschen, Fäuste oder Ohrfeigen zu spüren.
Eines Tages hieb ein junger Talib mit einer Autoantenne auf sie ein. Am Ende versetzte er ihr noch einen Schlag in den Nacken und sagte: »Wenn ich dich noch einmal erwische, verprügele ich dich, bis dir die Muttermilch durch die Knochen sickert.«
An diesem Tag kehrte sie vorzeitig nach Hause zurück, warf sich aufs Bett, fühlte sich wie ein törichtes, jämmerliches Tier und winselte vor Schmerzen, als ihr Mariam die blutigen Striemen auf Rücken und Schenkeln mit feuchten Tüchern abdeckte. Für gewöhnlich aber gab Laila nicht so schnell auf. Sie tat zwar so, als kehrte sie nach Hause zurück, versuchte aber dann auf Umwegen zum Waisenhaus zu gelangen. Es kam vor, dass sie an einem einzigen Tag drei- bis viermal aufgegriffen, verhört und geprügelt wurde. Von Peitschen und Antennen blutig geschlagen, schleppte sie sich dann nach Hause, ohne Aziza gesehen zu haben. Bald ging Laila dazu über, trotz des heißen Wetters zwei oder drei Pullover als Schutzpolster unter der Burka zu tragen.
Doch für Laila lohnten sich alle Strapazen, wenn sie denn nur Aziza sehen konnte. Manchmal blieb sie stundenlang bei ihr. Sie saßen im Hof neben der Schaukel, zusammen mit anderen Kindern und Müttern, und sprachen über das, was Aziza in der vergangenen Woche gelernt hatte.
Aziza sagte, dass Kaka Zaman ihnen jeden Tag etwas Neues beibrächte. Meist lernten sie Lesen, Schreiben und Rechnen; er unterrichtete aber auch Erdkunde, Geschichte oder ein Fach, das sich mit Pflanzen und Tieren befasste.
»Wir müssen die Vorhänge zuziehen«, sagte Aziza, »damit uns die Taliban nicht sehen.« Für den Fall einer Kontrolle halte Kaka Zaman immer Strickzeug bereit, erklärte sie. »Dann verstecken wir schnell die Bücher und tun so, als strickten wir.«
Eines Tages sah Laila eine Frau mittleren Alters, die, von drei Jungen und einem Mädchen begleitet, zu Besuch im Waisenhaus war. Sie hatte das Kopfteil ihrer Burka gelüftet, und obwohl ihr Haar grau geworden und der Mund eingefallen war, erkannte Laila sie auf den ersten Blick wieder. Das scharf geschnittene Gesicht und die dichten Augenbrauen waren unverändert. Laila erinnerte sich an die Schals, die schwarzen Kleider und die brüske Stimme, daran, wie diese Frau ihr pechschwarzes Haar zu einem so straffen Knoten zusammengefasst hatte, dass die Nackenhärchen sichtbar waren. Diese Frau hatte einst, wie sich Laila erinnerte, ihren Schülerinnen verboten, sich zu verschleiern, auf die Gleichheit von Mann und Frau gepocht und erklärt, dass es keinen Grund gebe, warum Frauen ihr Gesicht verhüllen sollten, wenn Männer dies nicht täten.
Einmal trafen sich ihre Blicke, doch Laila sah in den Augen von Khala Rangmaal, ihrer alten Lehrerin, keinen Hinweis darauf, dass sie in ihr die Schülerin von damals wiedererkannte.
»In der Erdkruste gibt es Bruchstellen«, sagte Aziza. »Die nennt man Verwerfungen.«
Es war an einem warmen Freitagnachmittag im Juni 2001. Sie saßen im Hinterhof des Waisenhauses, alle vier: Laila, Zalmai, Mariam und Aziza. Raschid hatte sich ausnahmsweise bequemt, sie zu begleiten. Er wartete vor der Bushaltestelle weiter unten an der Straße.
Barfüßige Kinder lungerten um sie herum und kickten lustlos einen platten Fußball hin und her.
»Zu beiden Seiten der Verwerfungen liegen Gesteinsschichten aufeinander; das ist die Erdkruste«, führte Aziza aus.
Jemand hatte ihr die Haare aus dem Gesicht gekämmt, zu Zöpfen geflochten und am Kopf festgesteckt. Laila beneidete alle, denen es vergönnt war, hinter ihrer Tochter zu sitzen, das Haar zu teilen, zu flechten und sie aufzufordern stillzuhalten.
Aziza demonstrierte mit nach oben geöffneten Händen die Reibung der Platten. Zalmai schaute mit großem Interesse zu.
»Kektonische Platten, so heißen sie, oder?«
»Tektonische«, korrigierte Laila. Zu sprechen tat ihr weh. Kiefer, Hals und Nacken schmerzten. Die Lippe war geschwollen, und die Zunge fuhr immer wieder in die Lücke des unteren Schneidezahns, den Raschid ihr zwei Tage zuvor ausgeschlagen hatte. Bis zum Tod ihrer Eltern, der ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte, hätte Laila nicht für möglich gehalten, dass ein menschlicher Körper so viel brutale Schläge aushalten konnte und trotzdem noch zu funktionieren im Stande war.
»Genau. Und wenn sie aneinander entlangschaben, bleiben sie immer wieder hängen und rutschen dann weiter, siehst du, Mami, und dabei wird Energie frei, die die Erdoberfläche durcheinanderschüttelt.«
»Wie gescheit du schon bist!«, lobte Mariam. »Viel gescheiter als deine dumme khala!«
Azizas Miene verfinsterte sich. »Du bist nicht dumm, Khala Mariam. Und Kaka Zaman sagt, dass sich die Felsen auch ganz tief im Innern bewegen, dass da gewaltige, unheimliche Kräfte wirken, die wir aber hier oben nur als ein kleines Zittern wahrnehmen. Nur ein kleines Zittern.«