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Doch als er gerade über sie herfallen wollte, sah Mariam, wie Laila hinter ihm einen Gegenstand vom Boden aufhob, den Arm in die Höhe reckte und zuschlug. Glas splitterte. Die Scherben eines Wasserglases regneten herab. Lailas Hand war voller Blut, Blut rann aus einer Schnittwunde auf Raschids Wange und tropfte auf sein Hemd. Mit gefletschten Zähnen und aufflackerndem Blick fuhr er herum.
Laila und Raschid stürzten gemeinsam zu Boden und rangen miteinander. Er kam auf ihr zu liegen, legte ihr die Hände um den Hals.
Mariam zerrte an seinem Hemd. Sie schlug ihn, versuchte, ihn von Laila loszureißen. Sie biss ihn. Doch er ließ nicht locker. Er drückte Laila die Kehle zu, und es war klar, dass er bis zum Letzten gehen würde.
Mariam wich zurück, durch die Tür in den Flur, wo sie Klopf laute wahrnahm. Oben schlug Zalmai mit seinen kleinen Händen gegen eine verschlossene Tür. Sie rannte nach draußen, durchquerte den Hof.
Im Werkzeugschuppen langte sie nach der Schaufel.
Raschid sah sie nicht ins Wohnzimmer zurückkommen. Er saß immer noch auf Laila, hatte das Gesicht zu einer Grimasse verzogen und die Hände um ihren Hals geschlungen. Laila war blau angelaufen; sie hatte die Augen nach oben verdreht und schien sich nicht länger zu wehren. Er bringt sie um, dachte Mariam. Er meint es ernst. Doch das konnte und das wollte sie nicht zulassen. Er hatte ihr in den siebenundzwanzig Jahren ihrer Ehe schon genug weggenommen. Nicht auch noch Laila.
Mariam packte die Schaufel mit beiden Händen am Stiel und hob sie über den Kopf. Sie rief ihn beim Namen. Sie wollte sein Gesicht sehen.
»Raschid.«
Er blickte auf.
Mariam schlug zu.
Sie traf ihn über der Schläfe. Er ließ von Laila ab und kippte zur Seite.
Raschid wischte sich mit der Hand über den Kopf, sah das Blut an seinen Fingern und richtete dann den Blick auf Mariam. Es schien, dass sich seine Miene entspannte.
Mariam dachte, der Schlag habe ihn vielleicht zur Besinnung gebracht. Vielleicht sah er auch etwas in ihrem Gesicht, das ihn aufmerken ließ. Vielleicht sah er Zeichen jener Selbstverleugnung, der Aufopferung und Strapazen, die sie das jahrelange Zusammenleben mit ihm gekostet hatten, ein Leben, das aus Gewalt und Zumutungen, Vorwürfen und Gemeinheiten bestand. Was war es, das sie da in seinen Augen sah? Respekt? Bedauern?
Doch dann verzog sich sein Mund zu einem tückischen Grinsen, und Mariam sah ein, dass es falsch wäre, vielleicht sogar unverantwortlich, wenn sie jetzt nachgäbe. Wenn sie ihn aufstehen ließe, würde er nicht lange fackeln, nach oben gehen und seine Pistole aus dem Zimmer holen, in dem er Zalmai eingesperrt hatte. Hätte Mariam sicher sein können, dass er nur sie erschießen und Laila verschonen würde, wäre sie womöglich eingeknickt. Doch aus Raschids Blicken sprach, dass er entschlossen war, sie beide umzubringen.
Und so holte Mariam noch einmal mit der Schaufel aus, so weit, dass das Blatt ihr Kreuz berührte. Und während sie die Schaufelkante in Schlagrichtung brachte, wurde ihr bewusst, dass sie zum allerersten Mal in ihrem Leben das Heft des Handelns selbst in die Hand nahm.
Mit diesem Gedanken führte sie den Schlag aus und setzte all ihre Kraft hinein.
Laila war sich der lebensbedrohlichen Gefahr bewusst, die im wutverzerrten Gesicht über ihr geschrieben stand. Sie nahm auch Mariam am Rande wahr, die mit ihren Fäusten auf Raschid eintrommelte. Ihr Blick aber war unter die Zimmerdecke gerichtet, auf die dunklen Schimmelflecken, die sich wie Tinte auf einem Stofftuch ausbreiteten, und die Risse im Putz, die, je nachdem, wo man im Zimmer stand, mal wie ein gleichmütiges Lächeln, mal wie ein Stirnrunzeln anmuteten. Laila dachte daran, wie oft sie mit Lappen und Besen die Spinnweben aus den Ecken entfernt hatte. Dreimal hatten sie und Mariam diese Decke mit weißer Farbe überstrichen. Die Risse erschienen ihr jetzt nicht wie ein Lächeln, sondern wie ein höhnisches Grinsen, das sich immer weiter von ihr entfernte. Die Zimmerdecke hob sich, schrumpfte, stieg auf in eine diesige Düsternis. Bald hatte sie nur noch die Größe einer Briefmarke, strahlend weiß, umgeben von Schwärze, darin das Gesicht von Raschid wie ein heller Fleck.
Funken sprühten vor ihren Augen wie kleine silberne Sterne, die zerstoben. Bizarre Lichter bewegten sich auf und ab, hin und her, verschmolzen miteinander, verformten sich, verblassten und verschwanden im Dunkeln.
Gedämpfte, ferne Stimmen.
Unter ihren Lidern tauchten unscharf die Gesichter ihrer Kinder auf. Aziza, wachsam und betrübt, wissend, verschlossen; Zalmai, voller Eifer und mit bangem Blick auf seinen Vater.
So also sollte es enden. Was für ein jämmerlicher Abgang, dachte Laila.
Doch dann verflüchtigte sich die Dunkelheit. Sie wähnte sich aufgerichtet, hochgehoben. Die Zimmerdecke rückte wieder näher und breitete sich aus, so dass bald wieder die Risse zu erkennen waren, und sie schienen wieder das altvertraute dumpfe Lächeln zu zeigen.
Jemand rüttelte an ihrer Schulter. »Ist mit dir alles in Ordnung? Antworte, alles in Ordnung?« Mariams Gesicht, zerkratzt und sorgenvoll, schwebte über ihr.
Laila schnappte nach Luft. Ihre Kehle brannte. Als sie das zweite Mal Atem schöpfte, brannte auch die Brust. Dann hustete und ächzte sie. Sie atmete, wenn auch keuchend. In ihrem gesunden Ohr rauschte es.
Als sie sich aufrichtete, fiel ihr erster Blick auf Raschid. Er lag reglos auf dem Rücken und starrte ins Nichts. Er hatte den Mund geöffnet wie ein Fisch auf dem Trockenen. Rosafarbener Schaum rann ihm von den Wangen. Der Hosenschritt war durchnässt. Laila sah seine Stirn.
Dann sah sie die Schaufel.
Sie stöhnte laut auf. »Oh«, hauchte sie stimmlos. »Oh, Mariam.«
Jammernd irrte Laila im Zimmer auf und ab. Mariam hockte neben Raschid am Boden, die Hände im Schoß, ruhig und ergeben. Sie gab keinen Laut von sich.
Laila zitterte am ganzen Leib. Ihr Mund war wie ausgetrocknet. Sie stammelte unzusammenhängende Worte vor sich hin und wagte es nicht, Raschid anzusehen, die klaffende Mundöffnung, die aufgerissenen Augen und das am Boden gerinnende Blut.
Draußen ging die Sonne unter; Schatten legten sich über den Hof. Im Halbdunkel wirkte Mariam verschwindend klein. Sie war abgespannt, zeigte aber keinerlei Erregung oder Furcht. Sie schien in Gedanken versunken und weit entrückt. Als sich ihr eine Fliege aufs Kinn setzte, schenkte sie ihr keine Beachtung. Die Unterlippe war nach vorn geschoben, wie immer, wenn sie grübelte.
Schließlich sagte sie: »Setz dich, Laila jo.«
Laila gehorchte.
»Wir müssen ihn fortschaffen. Zalmai soll ihn so nicht sehen.«
Mariam zog Raschid den Schlüssel zum Schlafzimmer aus der Tasche, bevor sie ihn mit Lailas Hilfe in ein Bettlaken einwickelte. Laila packte ihn bei den Kniekehlen, während Mariam die Arme unter seine Achseln schlang. Sie versuchten, ihn anzuheben, doch er war zu schwer, und so mussten sie ihn über den Boden schleifen. Als sie die Haustür passierten, blieb sein Fuß am Pfosten hängen, und sein Bein knickte zur Seite weg. Bei dem Versuch, den Leichnam über die Schwelle zu zerren, war oben ein Klopfen an der Schlafzimmertür zu hören. Lailas Knie wurden weich. Sie ließ Raschid fallen und ging schluchzend und zitternd zu Boden. Mariam stand über ihr, die Hände in die Hüften gestemmt, und sagte, dass sie sich zusammenreißen müsse. Was geschehen sei, sei geschehen.
Laila stand auf und wischte sich das Gesicht. Mit vereinten Kräften hievten die beiden Frauen Raschid über den Hof und versteckten ihn im Schuppen hinter der Werkbank, auf der seine Säge, ein paar Nägel, ein Stechbeitel, ein Hammer und ein zylindrischer Holzblock lagen, aus dem Raschid ein Spielzeug für Zalmai hatte schnitzen wollen, wozu er aber nicht gekommen war.
Die beiden gingen ins Haus zurück. Mariam wusch sich die Hände, fuhr mit den Fingern durchs Haar und holte tief Luft. »Lass dich jetzt verarzten. Du bist übel zugerichtet, Laila jo.«
Mariam sagte, sie müsse die Nacht über in sich gehen, ihre Gedanken sortieren und einen Plan fassen.
»Es gibt einen Ausweg«, murmelte sie. »Ich muss ihn nur finden.«
»Wir müssen fort. Wir können hier nicht bleiben«, entgegnete Laila mit gebrochener, heiserer Stimme. Sie stellte sich vor, wie es geklungen haben mochte, als die Schaufel auf seinem Kopf aufgetroffen war, und ihr drehte sich der Magen um.
Mariam wartete geduldig, bis es Laila wieder besser ging. Sie legte Lailas Kopf auf ihren Schoß, streichelte ihre Haare und sagte, sie solle sich keine Sorgen machen; alles werde gut werden. Sie stellte ihr in Aussicht, gemeinsam aufzubrechen, sie, Laila, die Kinder und auch Tarik. Sie würden dieses Haus, diese unversöhnliche Stadt und das elende Land hinter sich zurücklassen, versprach sie, und einen fernen, sicheren Ort aufsuchen, wo man sie nicht fände, wo sie mit ihrer Vergangenheit abschließen könnten und geborgen wären.
»Es wird dort Bäume geben«, sagte sie. »Ja, viele Bäume.«
Sie würden in einem kleinen Haus am Rand einer Stadt leben, von der sie noch nie gehört hätten, sagte Mariam; in einer entlegenen Ortschaft, durch die zwar nur eine enge, ungepflasterte Straße führe, doch sei diese von vielen verschiedenen Pflanzen und Sträuchern gesäumt. Vielleicht gebe es dort grüne Weiden, auf denen die Kinder spielen könnten, oder sogar einen klaren blauen See voller Forellen und mit Schilf an den Ufern. Sie würden Schafe und Hühner halten, gemeinsam Brot backen und den Kindern Lesen und Schreiben beibringen. Sie würden ein neues Leben beginnen, ein friedliches, abgeschiedenes Leben, befreit von aller erlittenen Not und beschenkt mit Glück und bescheidenem Wohlstand.
Laila stimmte ihr murmelnd zu. Es würde, wie sie voraussah, ein Leben voller Schwierigkeiten sein, die aber mit Freude und Stolz angenommen und wertgeschätzt werden könnten wie ein Familienerbe. Mariam sprach ihr mit sanfter, mütterlicher Stimme weiter Trost zu. »Es gibt einen Weg«, sagte sie, und morgen früh wolle sie erklären, was zu tun sei; vielleicht würden sie morgen um diese Zeit schon aufgebrochen sein und dieses neue Leben begonnen haben, ein Leben voller Möglichkeiten, Freude und willkommenen Schwierigkeiten. Laila war dankbar dafür, dass Mariam die Initiative übernommen hatte und sich im Stande wähnte, mit nüchtern klarem Blick für beide zu planen. Sie selbst war dafür viel zu durcheinander.
Mariam stand auf. »Du solltest dich jetzt um deinen Sohn kümmern«, sagte sie, und Laila sah erst jetzt in Mariams Gesicht, wie angeschlagen sie war.
Laila fand ihn zusammengerollt auf Raschids Bettseite liegen. Sie schlüpfte zu ihm unter die Decke.
»Bist du noch wach?«
Ohne ihr das Gesicht zuzuwenden, antwortete er: »Kann nicht schlafen. Baba jan hat noch nicht die Babalu-Gebete mit mir gesprochen.«
»Wie wär’s, wenn ich es heute täte?«
»Du kannst das nicht so wie er.«