39755.fb2
Unterwegs zum Ghazi-Stadion wurde Mariam auf der Pritsche eines Lastwagens, der durch Schlaglöcher polterte und Kies aufspritzen ließ, so heftig durcheinandergeschüttelt, dass ihr das Steißbein wehtat. Ein junger bewaffneter Talib behielt sie im Auge.
Mariam fragte sich, ob er ihr Scharfrichter sein würde, dieser freundlich aussehende junge Mann mit den tief liegenden hellen Augen und leicht zugespitztem Gesicht, der mit dem schwarz angelaufenen Fingernagel seines Zeigefingers an das Seitenblech klopfte.
»Hast du Hunger, Mutter?«, fragte er.
Mariam schüttelte den Kopf.
»Ich hätte einen Keks. Schmeckt gut. Du kannst ihn haben, wenn du Hunger hast.«
»Nein. Tashakor, Bruder.«
Er zuckte mit den Achseln und lächelte. »Hast du Angst, Mutter?«
Ihr Hals war wie zugeschnürt. Mit zitternder Stimme sagte Mariam die Wahrheit. »Ja. Große Angst.«
»Ich habe ein Bild von meinem Vater«, erklärte er. »Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Er hat früher Fahrräder repariert, so viel weiß ich, nicht aber, wie er sich bewegt hat, wie er gelacht oder wie seine Stimme geklungen hat, wenn du verstehst, was ich meine.« Er schaute zur Seite, richtete aber gleich darauf seinen Blick wieder auf Mariam. »Meine Mutter sagte immer, er sei der tapferste Mann, den sie kenne. Wie ein Löwe, sagte sie. Aber als ihn eines Morgens die Kommunisten abholten, habe er geweint wie ein Kind. Damit will ich dir sagen, dass es ganz normal ist, Angst zu haben. Dafür braucht man sich nicht zu schämen, Mutter.«
Zum ersten Mal an diesem Tag weinte Mariam ein wenig.
Auf den Tribünen waren Tausende Augenpaare auf sie gerichtet. Man reckte die Hälse, um besser sehen zu können. Gebete wurden gemurmelt. Viele schnalzten mit der Zunge. Ein Raunen ging durchs Stadion, als Mariam von dem Lastwagen heruntergeholt wurde. Sie stellte sich vor, dass in der Menge alle den Kopf schüttelten, als über Lautsprecher bekannt gegeben wurde, welches Verbrechen ihr zur Last gelegt wurde. Aber sie blickte nicht auf, um zu sehen, ob dieses Kopfschütteln missbilligend oder wohlmeinend war, vorwurfsvoll oder mitfühlend. Mariam blendete die Zuschauer aus.
Vor ein paar Stunden hatte sie noch gefürchtet, sich lächerlich zu machen als jemand, der um Gnade winselte, in Schreikrämpfe ausbrach, sich erbrach oder gar einnässte, dass sie am Ende auch noch den letzten Rest Würde verlieren und tierischen Instinkten nachgeben würde. Doch als ihr von dem Lastwagen heruntergeholfen wurde, gaben ihre Beine nicht nach. Sie rang nicht mit den Händen und musste auch nicht zur Hinrichtungsstelle geschleift werden. Als sie spürte, dass sie ins Wanken zu geraten drohte, dachte sie an Zalmai, dem sie den geliebten Vater geraubt hatte, worunter er nun zeit seines Lebens würde leiden müssen. Dann raffte sie sich wieder auf und ging mit sicherem Schritt weiter.
Ein bewaffneter Mann kam ihr entgegen und wies ihr den Weg in Richtung der Torpfosten auf der Südseite des Spielfeldes. Mariam glaubte, die angespannte Erwartung der Menge spüren zu können. Sie blickte nicht auf. Sie schaute zu Boden, auf ihren Schatten und den des Scharfrichters, der ihr folgte.
Mariam blickte auf ein Leben zurück, das ihr, von einigen wenigen schönen Momenten abgesehen, übel mitgespielt hatte. Doch als sie ihre letzten zwanzig Schritte setzte, wollte sie trotz allem an diesem Leben festhalten. Sie wünschte, Laila noch einmal sehen zu können, wünschte, sie lachen zu hören, mit ihr unter einem Sternenhimmel chai zu trinken und halwa-Reste zu essen. Sie bedauerte, nicht miterleben zu dürfen, wie Aziza zu einer schönen jungen Frau heranwuchs, dass es ihr nicht vergönnt sein würde, Azizas Hände mit Henna zu bemalen und zu ihrer Hochzeit noqul-Bonbons unter die Gäste zu werfen. Sie würde nie mit Azizas Kindern spielen.
Kurz vor dem Torpfosten forderte sie der Mann auf, stehen zu bleiben. Mariam gehorchte. Durch den Sehschlitz ihrer Burka sah sie den Schatten seines Arms, mit dem er seine Kalaschnikow anhob.
In diesen letzten Momenten wünschte sich Mariam vieles. Als sie aber die Augen schloss, wich ihr Leid dem Empfinden grenzenlosen Friedens. Sie dachte an ihren Eintritt in diese Welt als harami einer geringen Dörflerin, als ungewünschtes Ding und bedauernswerter Unfall, als Unkraut. Und doch verließ sie diese Welt als eine Frau, die liebte und geliebt wurde. Sie ging als Freundin und Begleiterin, Beschützerin und Mutter. Als eine Person von Belang. Nein, dachte Mariam, es war nicht so schlecht, auf diese Weise zu sterben. Es war das legitime Ende eines Lebens, das illegitim begonnen hatte.
Mariams letzte Gedanken richteten sich auf einen Koranvers, den sie unter angehaltenem Atem vor sich hin murmelte:
»Er hat Himmel und Erde der Wahrheit gemäß erschaffen. Er lässt die Nacht über den Tag und den Tag über die Nacht rollen. Er hat die Sonne und den Mond dienstbar gemacht. Jeder läuft in seiner Bahn für eine bestimmte Zeit. Er ist der Allmächtige, der Allvergebende.«
»Knie nieder!«, sagte der Talib.
»Oh, mein Herr! Vergib mir und sei mir gnädig, du, Allerbarmer.«
»Knie nieder, hamshira. Und halte den Kopf gesenkt!«
Mariam gehorchte ein letztes Mal.
Tarik leidet an Kopfschmerzen.
Manchmal wacht Laila mitten in der Nacht auf und sieht ihn, das Unterhemd über den Kopf gezogen, auf der Bettkante sitzen und vor- und zurückschaukeln. Es habe in Nasir Bagh angefangen, sagt er, und sei im Gefängnis schlimmer geworden. Mitunter muss er vor Schmerzen erbrechen und kann nur noch auf einem Auge sehen. Er sagt, es fühle sich an, als würde ein Messer in die Schläfe eindringen, das Gehirn zerreißen und auf der anderen Seite austreten.
»Ich bilde mir sogar ein, den Metallgeschmack wahrnehmen zu können, wenn die Schmerzen einsetzen.«
Laila legt ihm dann ein feuchtes Tuch auf die Stirn, was die Schmerzen ein wenig lindert. Auch die kleinen weißen Pillen, die Tarik von Sajids Arzt bekommen hat, tun ihre Wirkung. Aber in manchen Nächten sind die Anfälle so heftig, dass nichts mehr hilft. Dann hält er sich den Kopf und stöhnt; die Augen sind blutunterlaufen und die Nase tropft. Laila setzt sich in solchen Momenten an seine Seite, massiert ihm den Nacken und nimmt seine Hände in ihre.
Sie heirateten am Tag ihrer Ankunft in Murree. Sajid war sichtlich erleichtert, als er von ihrem Vorhaben hörte. Er hätte sich schwer damit getan, ein unverheiratetes Paar in seinem Hotel wohnen zu lassen. Sajid sieht ganz anders aus, als Laila ihn sich vorgestellt hat. Weder stehen seine Augen eng zusammen, noch hat er eine rötliche Gesichtsfärbung. Er trägt einen adrett gezwirbelten melierten Schnauzbart und langes graues Haar, das er aus der Stirn zurückkämmt. Er ist ein freundlicher Mann mit guten Manieren, gewählter Sprache und anmutigen Bewegungen.
Es war Sajid, der einen befreundeten Mullah zur nikka bestellt hatte und Tarik beiseite nahm, um ihm Geld zuzustecken. Tarik wollte es nicht annehmen, doch Sajid bestand darauf. Also ging er in die Mall und kehrte mit zwei schlichten schmalen Eheringen zurück. Sie heirateten am Abend, nachdem die Kinder zu Bett gegangen waren.
Durch den grünen Schleier, den ihnen der Mullah über die Köpfe gelegt hatte, trafen sich Lailas und Tariks Blicke im Spiegel. Es gab keine Tränen, keine strahlenden Mienen, keine geflüsterten Treueschwüre. Schweigend betrachtete Laila das gemeinsame Spiegelbild, Gesichter, auf denen die Jahre Spuren hinterlassen hatten. Tarik öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch bevor er dazu kam, wurde ihnen der Schleier weggezogen.
Im Beisein der Kinder, die im Etagenbett unter ihnen schliefen, lagen sie in dieser Nacht als Mann und Frau zusammen. Laila erinnerte sich, wie unbeschwert sie in jüngeren Jahren miteinander geplaudert hatten, wie sie einander ins Wort gefallen waren und an den Kragen gezerrt hatten, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. Wie leicht es ihnen damals gefallen war, den anderen zum Lachen zu bringen. Es hatte sich seit diesen Kindertagen so vieles zugetragen, das ausgesprochen werden wollte, doch in dieser ersten Nacht kam ihnen kaum ein Wort über die Lippen. Es war ihnen ein Segen, zusammen zu sein, die Wärme des anderen zu spüren, Stirn an Stirn zu legen und einander die Hand zu halten.
Als Laila mitten in der Nacht aufwachte, weil sie Durst hatte, sah sie die Hände immer noch fest ineinander verschränkt wie bei Kindern, die den Bindfaden eines Luftballons festhalten.
Laila genießt die kühlen, nebelverhangenen Morgenstunden in Murree, den funkelnden Sternenhimmel bei Nacht, das Grün der Kiefern, in denen Eichhörnchen turnen, und die plötzlichen Regenschauer, die die Besucher der Mall unter den Markisen der Geschäfte Zuflucht suchen lassen. Ihr gefallen die Souvenirläden, ja sogar die Touristenhotels, auch wenn sich die Einheimischen über die vielen Neubauten beklagen, die, wie sie meinen, die natürliche Schönheit des Ortes verschandeln. Laila findet es seltsam, dass sich Leute an der Errichtung von Bauwerken stören. In Kabul würde man dies feiern.
Es gefällt ihr, dass sie ein Badezimmer haben, keine Außentoilette, sondern ein richtiges Badezimmer mit Wasserklosett, einer Dusche und einem Waschbecken mit zwei Wasserhähnen, aus denen buchstäblich im Handumdrehen kaltes und heißes Wasser kommt. Es gefällt ihr, beim Erwachen am Morgen Alyona meckern und Abida, die mürrische, aber harmlose Köchin, die in der Küche Wunder bewirkt, mit dem Geschirr klappern zu hören.
Manchmal, wenn Laila Tarik und die Kinder schlafen sieht, überkommt sie ein Gefühl tiefer Dankbarkeit, das ihr aber wie ein Kloß im Hals steckt und Tränen in die Augen treibt.
Vormittags bringen Laila und Tarik die Hotelzimmer in Ordnung. An Tariks Gürtel klimpert ein Schlüsselring; daneben hängt ein Sprühreiniger für die Fensterscheiben. Laila trägt einen Putzeimer, ein Desinfektionsmittel, eine Toilettenbürste und Holzpolitur für die Kommoden. Auch Aziza hilft; sie hält einen Mob in der einen Hand und die mit Bohnen ausgestopfte Puppe von Mariam in der anderen. Zalmai folgt den dreien, widerwillig und schmollend.
Laila saugt, macht die Betten und wischt Staub. Tarik säubert Waschbecken und Toiletten und putzt die Linoleumböden. Er füllt die Regale mit frischen Handtüchern, kleinen Shampooflaschen und Seifestücken auf, die nach Mandeln duften. Aziza hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Fenster zu putzen. Ihre Puppe ist immer dabei.
Wenige Tage nach der nikka hat Laila ihre Tochter über Tarik aufgeklärt.
Wie die beiden aufeinander eingehen, verwundert Laila immer wieder. Aziza vervollständigt seine Sätze, er die ihren. Sie reicht ihm Dinge, bevor er darum gebeten hat. Die Blicke, die sie einander über den Esstisch zuwerfen, sind so zutraulich, dass man den Eindruck haben könnte, sie seien alte Freunde, die nach langer Trennung wieder vereint sind.
Als Laila ihr sagte, wer Tarik sei, betrachtete Aziza mit nachdenklicher Miene ihre Hände.
»Ich mag ihn«, erwiderte sie nach längerem Schweigen.
»Er liebt dich.«
»Sagt er das?«
»Das braucht er gar nicht, Aziza.«
»Erzähl mir den Rest, Mami. Ich will Bescheid wissen.«
Laila ließ sich nicht lange bitten.
»Dein Vater ist ein guter Mann, der beste, der mir je begegnet ist.«
»Was, wenn er uns verlässt?«, fragte Aziza.
»Er wird uns nicht verlassen. Schau mich an, Aziza. Dein Vater wird dir niemals wehtun und immer bei uns bleiben.«
Die Erleichterung auf Azizas Gesicht ging Laila zu Herzen.