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Meine liebe Mariam, ich hoffe, der Brief erreicht Dich bei guter Gesundheit.
Wie Du weißt, bin ich vor einem Monat in Kabul gewesen, in der Hoffnung, Dich sprechen zu können. Aber Du wolltest mich nicht sehen. Ich war enttäuscht, kann Dir aber keinen Vorwurf machen. An Deiner Stelle hätte ich mich wahrscheinlich ähnlich verhalten. Ich habe das Privileg Deiner Gunst vor langer Zeit verloren, und dafür trage ich die Schuld allein. Aber wenn Du diese Zeilen liest, hast Du auch gelesen, was in dem Brief stand, den ich Dir vor die Haustür gelegt habe. Du hast ihn gelesen und Mullah Faizullah aufgesucht, worum ich Dich gebeten habe. Dafür bin ich Dir dankbar, Mariam jo. Ich danke Dir, dass Du mir die Möglichkeit gibst, noch ein paar Worte an Dich zu richten.
Wo soll ich anfangen?
Seit unserer letzten Begegnung habe ich, Dein Vater, viel Kummer erfahren. Deine Stiefmutter Afsoon wurde am ersten Tag des Aufstands von 1970 getötet. Am selben Tag starb auch Deine Schwester Niloufar, tödlich verletzt von einem Querschläger. Ich sehe sie noch vor mir, meine kleine Niloufar, wie sie auf den Händen stand, um Gäste zu beeindrucken. Dein Bruder Farhad schloss sich 1980 dem Dschihad an. Zwei Jahre später wurde er vor Helmand von den Sowjets erschossen. Seinen Leichnam habe ich nie zu Gesicht bekommen. Ich weiß nicht, ob Du, Mariam jo, Kinder hast. Wenn ja, bete ich zu Gott, dass er sie beschützen und Dir den Kummer ersparen möge, der mich getroffen hat. Ich träume immerzu von ihnen, von meinen lieben Kindern.
Auch von Dir, Mariam jo, träume ich. Du fehlst mir. Ich vermisse den Klang Deiner Stimme, Dein Lachen. Mit Wehmut denke ich an die Zeit zurück, in der ich Dir aus Zeitungen vorgelesen und mit Dir am Fluss geangelt habe. Weißt Du noch, wie oft wir zusammen fischen waren? Du warst eine gute Tochter, Mariam jo, und es erfüllt mich mit Scham und Bedauern, dass ich Dir kein guter Vater gewesen bin. Ja, ich bedauere zutiefst, dass ich Dich an dem Tag, als Du nach Herat gekommen bist, nicht willkommen geheißen und Dir nicht die Tür geöffnet habe. Ich bedauere, Dich nach all den Jahren unseres Zusammenseins nicht in meine Familie aufgenommen zu haben. Und was waren das für Gründe, die mich davon abhielten? Die Sorge, das Gesicht und den vermeintlich guten Ruf zu verlieren? Ach, wie wenig bedeuten mir solche Gründe jetzt, nach all den Verlusten, nach all den schrecklichen Dingen, die dieser verfluchte Krieg mit sich gebracht hat. Aber zur Reue ist es natürlich zu spät. Vielleicht ist es eine gerechte Strafe für herzlose Menschen, dass sie erst dann zur Einsicht gelangen, wenn sie nichts wiedergutmachen können. Mir bleibt nur zu sagen, dass Du eine gute Tochter warst, Mariam jo, und ich kann Dich nur noch um Verzeihung bitten. Vergib mir, Mariam jo. Vergib mir. Vergib mir. Vergib mir.
Ich bin nicht mehr der vermögende Mann, als den Du mich kennst. Die Kommunisten haben einen Großteil meiner Ländereien und alle Geschäfte beschlagnahmt. Doch darüber zu klagen wäre kleinlich, denn Gott hat mich aus unerfindlichen Gründen trotz allem über die Maßen beschenkt. Nach meiner Rückkehr aus Kabul ist es mir gelungen, den mir verbliebenen Landbesitz zu verkaufen. Ich lasse Dir mit diesem Brief Deinen Anteil an meinem Nachlass zukommen. Wie Du siehst, ist es beileibe kein Vermögen, aber immerhin doch etwas. (Dir wird auch aufgefallen sein, dass ich mir die Freiheit genommen habe, das Geld in Dollars zu wechseln. Ich glaube, es ist besser so. Gott allein weiß, was aus unserer kranken Währung werden wird.)
Du wirst hoffentlich nicht denken, dass ich mir Deine Vergebung zu erkaufen versuche. Allein der Gedanke liegt mir fern, denn ich weiß sehr wohl, dass sie nicht zum Verkauf steht. Ich gebe Dir nur, wenn auch verspätet, das, was Dir von Rechts wegen immer schon zustand. Zu Lebzeiten war ich Dir kein treusorgender Vater. Vielleicht kann ich’s im Tod sein.
Ja, ich sehe nun meinen Tod vor Augen, will Dich aber nicht mit Einzelheiten belasten. Herzschwäche, sagen die Ärzte — ein, wie mir scheint, passender Abgang für einen schwachen Mann.
Mariam jo, ich wage zu hoffen, dass Du mir, wenn Du diesen Brief gelesen hast, wohlgesinnter bist als ich es Dir gegenüber war, dass Du Dir vielleicht ein Herz fasst und mich aufsuchst.
Dass Du noch einmal an meine Tür klopfst und mir Gelegenheit gibst, Dich willkommen zu heißen und in meine Arme zu schließen, was ich schon vor all den Jahren hätte tun sollen. Ich weiß, diese Hoffnung ist kaum begründet und so schwach wie mein Herz. Aber ich werde warten und hoffen, dass Du anklopfst.
Möge Dir Gott ein langes, gesegnetes Leben und viele gesunde Kinder schenken. Ich wünsche Dir Glück, Frieden und die Anerkennung, die ich Dir vorenthalten habe. Leb wohl. Ich weiß Dich in Gottes liebender Hand.
Als die Kinder zu Bett gegangen sind, berichtet Laila Tarik von dem Brief. Sie zeigt ihm das Geld in dem sackleinenen Beutel. Als sie zu weinen anfängt, gibt er ihr einen Kuss und schließt sie in seine Arme.
April 2003
Die Dürrezeit ist endlich ausgestanden. Im vergangenen Winter hat es viel Schnee gegeben, und jetzt regnet es seit Tagen. Der Kabul führt wieder Wasser. Seine Fluten haben Titanic City weggespült.
Die Straßen sind voller Schlamm. Fußgänger versinken darin bis zu den Knöcheln. Autos bleiben stecken. Mit Apfelsäcken beladene Esel schleppen sich voran und spritzen mit den Hufen Matsch auf. Doch keiner beklagt sich. Niemand trauert um Titanic City. »Kabul soll wieder grün werden«, sagen die Leute.
Gestern hat Laila ihren Kindern dabei zugesehen, wie sie bei strömendem Regen und unter einem bleigrauen Himmel im Hof umhertollten und von einer Pfütze in die andere hüpften. Sie stand am Küchenfenster des kleinen gemieteten Hauses in Deh-Mazang. Im Hof wachsen ein Apfelbaum und mehrere Weinrosensträucher. Tarik hat die Mauern verputzt, den Kindern Rutsche und Schaukel gebaut und für Zalmais neue Ziege ein kleines Gehege eingerichtet. Dem Kleinen rinnt der Regen vom kahlen Kopf — er hat darum gebeten, geschoren zu werden wie Tarik, dem jetzt die Aufgabe zufällt, die Babalu-Gebete mit ihm zu sprechen. Azizas langes Haar ist klatschnass; wenn sie den Kopf herumdreht, spritzt das Wasser.
Zalmai wird bald sechs. Aziza ist zehn. Vergangene Woche waren sie zur Feier ihres Geburtstags im Cinema Park, wo endlich der Spielfilm Titanic öffentlich gezeigt wurde.
»Beeilung, Kinder, wir kommen noch zu spät«, ruft Laila und packt die Mittagsbrote in eine Papiertüte.
Es ist acht Uhr. Schon um fünf hat Aziza ihre Mutter geweckt, um mit ihr den Morgen-namaz zu sprechen. Über die Gebete versucht Aziza, wie Laila weiß, an Mariam festzuhalten; sie ist ihr dann nahe. Doch irgendwann wird Mariam aus dem Garten ihrer Erinnerung verschwinden wie ein Kraut, das bei seinen Wurzeln ins Erdreich zurückgezogen wird.
Nach dem namaz ist Laila wieder ins Bett gestiegen. Sie schlief, als Tarik das Haus verließ, und erinnert sich nur vage, dass er ihr einen Kuss auf die Wange gegeben hat. Tarik arbeitet jetzt für eine französische Hilfsorganisation, die Landminenopfern und Kriegsversehrten Prothesen anpasst.
Aziza und Zalmai kommen zur Küche hereingestürmt.
»Habt ihr eure Hefte eingepackt? Die Stifte? Die Schulbücher?«
»Ist alles da drin«, antwortet Aziza und hebt ihren Tornister. Ihr Stottern hat merklich nachgelassen.
»Dann los jetzt.«
Laila verlässt mit den Kindern das Haus und schließt hinter sich ab. Heute regnet es nicht, aber die Luft ist kühl. Am blauen Himmel zeigt sich kein einziges Wölkchen. Hand in Hand marschieren die drei zur Bushaltestelle. Auf den Straßen herrscht bereits viel Verkehr. Es wimmelt nur so von Rikschas, Taxis, UN-Transportern, Bussen und Jeeps der ISAF. Verschlafen aussehende Geschäftsleute ziehen die Rollläden ihrer Schaufenster hoch. Straßenhändler hocken hinter Bergen von Kaugummi und Zigarettenstangen. An den Straßenecken stehen schon die Kriegswitwen, die Passanten um Geld bitten.
Die Stadt hat sich, wie Laila findet, sehr verändert. Überall werden Bäume und Sträucher gepflanzt, die Fassaden alter Häuser gestrichen und Ziegelsteine für Neubauten zusammengetragen. Es entstehen auch neue Abflusskanäle und Brunnen. Vor den Fenstern sind Pflanzen zu sehen, eingetopft in leere Granatenhülsen. Bei den Kabuli heißen sie Raketenblumen. Vor kurzem hat Tarik Laila und die Kinder in den Garten von Babur geführt, der neu angelegt worden ist. Zum ersten Mal seit Jahren hört Laila wieder Straßenmusiker, die auf ihren rubabs und tablas, dootars, Harmonien und tambouras Lieder von Ahmad Zahir spielen.
Laila wünschte sich, ihre Eltern hätten diese Veränderungen noch miterleben können. Doch wie Jalils Brief kam auch die Reue Kabuls zu spät.
Laila und die Kinder wollen gerade die Straße überqueren, als plötzlich ein schwarzer Landcruiser mit getönten Scheiben angerast kommt, im letzten Augenblick ausweicht und im Abstand einer Armeslänge an den dreien vorbeischießt. Dunkelbraunes Regenwasser spritzt auf und besudelt ihre Kleider.
Laila reißt die Kinder auf den Gehweg zurück. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals.
Der Landcruiser hat die nächste Kreuzung erreicht, hupt zweimal und biegt auf schliddernden Reifen links ab.
Laila schnappt nach Luft. Sie hält die Kinder bei den Handgelenken gepackt.
Es macht sie krank, dass den Kriegsherren erlaubt worden ist, nach Kabul zurückzukehren, dass die Mörder ihrer Eltern wieder in stattliche Häuser mit ummauerten Gärten eingezogen sind, Regierungsämter bekleiden und mit ihren kugelsicheren Protzautos durch die von ihnen verwüstete Nachbarschaft kurven. Es macht sie krank.
Doch Laila hat beschlossen, sich nicht verbittern zu lassen. Das hätte Mariam nicht gewollt. Was bringt’s? würde sie mit unschuldigem und zugleich klugem Lächeln fragen. Was hättest du davon, Laila jo? Also schluckt sie ihren Groll und macht tapfer weiter — um Tarik, der Kinder und um ihrer selbst willen. Und für Mariam, die ihr nach wie vor im Traum erscheint und immer nah ist. Laila macht weiter; etwas anderes als Engagement und Hoffnung, so weiß sie, bleibt ihr nicht übrig.
Zaman steht mit leicht gebeugten Knien an der Freiwurflinie und lässt den Basketball aufprallen. Er trainiert eine Gruppe von Jungen, die alle dasselbe Trikot tragen und im Halbkreis auf dem Hof am Boden hocken. Als er Laila sieht, klemmt er den Ball unter den Arm und winkt ihr zu. Er sagt etwas zu den Jungen, die daraufhin ebenfalls winken und rufen: »Salaam, moalim sahib!«
Laila winkt zurück.
Auf dem Spielplatz des Waisenhauses stehen jetzt entlang der Mauer im Osten ein paar junge Apfelbäume. Laila will auch welche vor die Südmauer pflanzen, sobald sie wieder aufgebaut ist. Neu sind auch die Schaukeln und das Klettergerüst.
Laila geht durch die Fliegengittertür ins Haus.
Das Waisenhaus ist frisch gestrichen worden. Tarik und Zaman haben das Dach abgedichtet, die Wände neu verputzt, Fenster eingesetzt und die Zimmer, in denen die Kinder schlafen und spielen, mit Teppichen ausgelegt. Laila hat im vergangenen Winter zusätzliche Betten beschafft und gusseiserne Öfen einbauen lassen.
Anis, eine der Kabuler Tageszeitungen, hatte, einen Monat bevor mit den Arbeiten begonnen wurde, von der geplanten Renovierung des Waisenhauses berichtet. Dazu erschien ein Foto von Zaman, Tarik, Laila, einer Pflegerin und den Kindern, die hinter den Erwachsenen Aufstellung genommen hatten. Als Laila den Artikel zu Gesicht bekam, fühlte sie sich an ihre Freundinnen Giti und Hasina erinnert, insbesondere an Hasinas Worte: »Wenn wir, Giti und ich, zwanzig sind, hat jede von uns schon vier oder fünf Kinder geworfen. Und auf dich, Laila, werden wir zwei Strohköpfe einmal richtig stolz sein. Aus dir wird noch was. Ich bin mir sicher, irgendwann sehe ich eine Zeitung mit deinem Foto auf der Titelseite.« Hasina hat mit ihrer Prognose recht behalten, auch wenn es nicht die Titelseite war, auf der das Foto gezeigt wurde.
Laila folgt demselben Korridor, durch den sie vor zwei Jahren, von Mariam begleitet, gegangen war, um Aziza dem Heimleiter vorzustellen. Laila erinnert sich, wie sie sich von ihrem Kind, das sich krampfhaft an ihr festhielt, losreißen musste und wie sie dann tränenblind durch diesen Flur davongelaufen war, Mariams Rufe und Azizas gellende Schreie im Rücken. An den Wänden hängen jetzt Poster, auf denen Dinosaurier, Comicfiguren und die Buddhas von Bamiyan abgebildet sind. Es sind auch etliche Kunstwerke der Waisenkinder zu sehen, Zeichnungen von Panzern, die Lehmhütten überrollen, und Soldaten mit Sturmfeuergewehren, von Flüchtlingslagern und Kriegsszenen.
Laila biegt um eine Ecke und sieht die Kinder vor dem Klassenzimmer stehen. Sie tragen Scheitelkappen auf den kahl geschorenen Köpfen und Schals um den Hals. Ihre kleinen Körper sind mager, aber quicklebendig und voller Anmut.
Als die Kinder Laila erblicken, kommen sie mit schrillen Willkommensrufen auf sie zugerannt. Laila wird umschwärmt. Hände strecken sich ihr entgegen, greifen nach ihr, betätscheln sie und zerren an ihren Kleidern. Alle buhlen um ihre Aufmerksamkeit. Manche nennen sie Mutter. Laila korrigiert sie nicht.
Es dauert eine Weile, bis die Kinder zur Ruhe gebracht sind und, in Reih und Glied aufgestellt, das Klassenzimmer betreten.
Tarik und Zaman haben die Wand zwischen zwei kleineren Räumen eingerissen und so für ein ausreichend großes Klassenzimmer gesorgt. Der Boden ist noch voller Risse, und es fehlen mehrere Fliesen, doch Tarik hat versprochen, die schadhaften Stellen auszubessern und das Zimmer mit einem Teppich auszulegen. Bis dahin liegt eine Plane auf dem Boden.
Über der Tür hängt eine rechteckige Holztafel, die Zaman abgeschliffen und weiß lackiert hat. Darauf stehen, mit Pinselstrichen aufgemalt, vier Gedichtzeilen, die, wie Laila weiß, Zamans Antwort auf all jene verärgerten Stimmen sind, die beklagen, dass die versprochene Finanzhilfe für Afghanistan noch nicht eingetroffen sei, der Wiederaufbau nicht schnell genug vorangehe und wieder Korruption um sich greife, dass sich die Taliban neu formierten und auf Rache sännen und dass die Welt einmal mehr Afghanistan vergessen werde. Die Zeilen stammen aus seinem Lieblingsgedicht von Hafis:
Laila geht unter dieser Tafel hinweg ins Klassenzimmer. Die Kinder nehmen ihre Plätze ein, kramen ihre Hefte hervor und plappern.
Aziza schwätzt mit einem Mädchen am Nebentisch. Ein Papierflugzeug segelt durch den Raum. Jemand wirft es zurück.
»Schlagt eure Farsi-Bücher auf, Kinder«, sagt Laila und legt ihre eigenen Bücher auf das Pult.
Während die Seiten rascheln, tritt Laila an das vorhanglose Fenster. Im Hof sieht sie die Jungen Freiwürfe üben. Im Hintergrund steigt die Morgensonne über den Berggrat. Ihr Licht glitzert auf dem Metallgestänge des Basketballkorbs, den Kettengliedern der Schaukel, der Trillerpfeife, die Zaman an einer Schnur um den Hals hängt, und auf seiner neuen, blitzblanken Brille. Laila legt ihre Hände an die warme Scheibe. Sie schließt die Augen und wendet das Gesicht der Sonne zu.