40460.fb2
Ein paar Tage später machte Sintula sich bereit, mit den Soldaten, die er aus der Palastgarde ausgewählt hatte, von Paris aufzubrechen. Decentius hatte Julian angewiesen, in seinen Gemächern zu bleiben und sich nicht blicken zu lassen. Doch die Soldaten waren nicht so leicht zu täuschen. Es verbreitete sich, dass Julian unglücklich war. Die Männer waren schlecht gelaunt und misstrauisch, und in der Stadt herrschte allgemeiner Unmut.
Am Morgen des Abmarsches gingen Marcellus und ich zum Forum, um die Männer vorüberziehen zu sehen. Die Wolken hingen tief, und bei Tagesanbruch setzte ein feiner Nieselregen ein. Wir zogen unsere Kapuzen über, da wir nicht erkannt werden wollten. Am Forum angelangt, gingen wir in eine Schenke, die wir kannten und die sich klein und unauffällig in eine Kolonnadenecke duckte, neben einer Bäckerei. Der Servierjunge brachte uns verdünnten Wein und Brot und eine Platte mit Rauchfleisch und Käse. Dann warteten wir auf die Soldaten.
Es war noch früh. Ab und zu ging ein Haussklave in die Bäckerei, um die Brote für den Morgen abzuholen. Wir tranken schweigend unseren Wein, aßen und beobachteten die paar regennassen Gestalten, die den gepflasterten Platz überquerten.
Schließlich stellte Marcellus seinen Weinkelch ab, um nach allen Seiten durch die Kolonnaden zu schauen.
»Ist dir aufgefallen«, fragte er stirnrunzelnd, »dass kein anderer Laden und keine Werkstatt geöffnet haben?«
Ich sah mich um. Er hatte recht: Bis auf die Bäckerei war alles geschlossen.
»Vermutlich warten sie, bis die Männer vorbeimarschiert sind.« Doch danach behielt ich meine Überlegungen für mich.
Auf der anderen Seite des Forums, unter dem Säulenvordach eines alten, verlassenen Tempels, suchte eine Schar in Tücher gehüllter Frauen Unterschlupf vor dem Regen. Ich nahm an, sie warteten auf die Markthändler. Als ich den Kopf drehte, sah ich andere, die sich unter dem Portal der Basilika versammelten. Vielleicht lag es auch an ihrem Schweigen oder am stumpfsinnigen Ausdruck ihrer Gesichter, aber das Gespür des Soldaten in mir ließ mich über die Schulter blicken und im Hintergrund der Schenke nach einem zweiten Ausgang suchen.
Dann drang von irgendwoher das gleichmäßige, trommelschlagartige Geräusch marschierender Soldaten heran; ihre Stiefel dröhnten im Gleichschritt auf den Pflastersteinen und hallten durch die Straße. Wir drehten den Kopf zur Nordostseite des Forums, wo sie unter dem Triumphbogen durchkommen würden.
Sintula erschien als Erster, mit geradem Rücken auf einem Apfelschimmel, in seiner besten Uniform und mit gefiedertem Helm, der selbst in der grauen Dämmerung glänzte. Ein paar Schritte hinter ihm folgten die ranghöchsten Männer zu fünft nebeneinander mit ernstem Gesicht, das Marschgepäck auf dem Rücken. Sie bogen in den weiten Platz ein und hielten auf das gegenüberliegende Tor zu, von wo die Straße nach Süden führte.
Zuerst hörte man nur ihre Schritte, hart und kraftvoll, aber auch vertraut. Ich griff nach dem Weinkrug und sagte mir, meine Beklommenheit sei wohl unnötig gewesen. Doch dann erhob sich von überall und nirgendwo – wie ein schauriger Theatereffekt – ein heller Klageschrei, der mir die Nackenhaare aufrichtete und mich von meinem Sitz zog. Ich schaute erstaunt nach allen Seiten. Dann erfasste ich die Ursache.
Scharenweise stürmten Frauen wie Furien aus den Seitengassen und Torwegen, mit wehenden Tüchern und Mänteln, Säuglinge im Arm und kleine Kinder an der Hand. Sie weinten und riefen ihre Männer beim Namen, streckten ihnen die Säuglingsbündel entgegen, beschworen sie, sich ihre Söhne und Töchter anzusehen, die sie nun ihrem Schicksal überlassen würden.
Sintulas Pferd scheute und tänzelte zur Seite. Sintula selbst, aus seiner steinernen Amtsmiene hochgeschreckt, drehte sich im Sattel um. Schrecken stand ihm ins jugendliche Gesicht geschrieben.
Inzwischen hatten die Frauen die Soldatenreihen erreicht und hielten ihren Gatten die Kindchen vors Gesicht. Der Marschschritt geriet ins Stocken. Die Männer begannen die Namen ihrer Frauen und Kinder zu rufen, und die harten Soldatengesichter waren nass von Tränen.
Marcellus blickte mich verblüfft an. In der Tat war es sonderbar zu sehen, wie ein Heer von einer Horde Frauen bestürmt wurde. Die Männer wären wohl dennoch weitermarschiert, hätte sich nicht in dem Augenblick von vorn ein unbehagliches Gemurmel durch die Reihen ausgebreitet. Am gegenüberliegenden Tor hatte sich eine weitere Schar Frauen versammelt, die untergehakt den Durchgang versperrten.
Sintula starrte sie an; dann blickte er sichtlich verwirrt über die Schulter. Die vordersten Reihen begannen sich auszubuchten und aufzubrechen, als der Anblick der menschlichen Barriere die Schritte der Soldaten bremste.
»Bei den Göttern!«, rief Marcellus und sprang von seinem Stuhl auf. »Er sollte befehlen anzuhalten!«
Ich sagte nichts. Ich beobachtete Sintulas Gesicht, während er den Preis seiner Würde abwog.
Sein Mund wurde zu einer harten Linie. Voraus standen die entschlossenen Frauen, grimmige, rothaarige Gallierinnen in eisernem Schweigen.
»Macht Platz!«, brüllte Sintula.
Sie blickten ihn nur zornig an. Schon schlossen sich ihnen andere an, die von hinten herbeirannten, und bildeten eine unnachgiebige Barriere aus Menschenfleisch.
Sintulas Pferd schüttelte den Kopf und riss am Zügel. Verärgert drängte er das Tier voran, doch es widersetzte sich wiehernd. Er stieß einen lauten Fluch aus. Das Tier ging ein paar Schritte und scheute erneut. Und dann wurde Sintula plötzlich still.
Einen Moment lang starrte er nach vorn, die Zähne zusammengebissen. Dann, mit einer heftigen Armbewegung, gab er das Zeichen zum Halt. Ringsum begannen die Frauen zu jubeln und zu schreien; sie stürmten vor, scharten sich um sein Pferd und drängten zwischen die halb aufgelösten Reihen ihrer weinenden Männer.
Die Neuigkeit gelangte in Windeseile in die Zitadelle. Als wir am Tor ankamen, fragte der Wachsoldat mit leuchtenden Augen, ob es wahr sei, dass Sintula von einer Horde Weiber in die Flucht geschlagen worden war.
Auf dem Weg durch die Kolonnade zum Innenhof begegneten wir Oribasius.
»Ihr habt es gehört, nehme ich an?«, fragte er.
»Wir waren dabei«, antwortete Marcellus.
»Ihr wart dabei?« Oribasius schaute beeindruckt, und ein Lächeln huschte über sein zierliches, ernstes, beinahe weiblich anmutendes Gesicht. »Nun, Julian hat sie gewarnt. Dennoch wird man ihm die Schuld geben. Er ist jetzt mit ihnen in seinem Arbeitszimmer. Er hat nach euch gefragt.«
Ich hörte laute Stimmen, die bis auf die Treppe drangen. Als wir eintraten, fuhren grimmige Gesichter zu uns herum und schauten uns an, als hätten sie damit gerechnet, dass eine Handvoll Meuterer hereinstürmt, um sie niederzumetzeln – Decentius, der alle Aufgeblasenheit verloren hatte und gehetzt wirkte; Pentadius, dem der Schrecken ins Gesicht geschrieben stand, und der Quästor Nebridius, einer von Florentius’ Leuten, den sie für ihr Vorgehen vereinnahmt hatten.
Nachdem sie jedoch gesehen hatten, wer tatsächlich gekommen war, wandten sie sich wieder Sintula zu, der aschfahl und noch in seinem Reitmantel am Fenster stand. Er musste die Soldaten zurückgelassen haben und auf dem kürzesten Weg zur Zitadelle geeilt sein.
»Wie es scheint, sind unsere Freunde auf Schwierigkeiten gestoßen«, sagte Julian, der meinen Blick auffing und sich seine Belustigung kurz anmerken ließ. »Drusus, vielleicht möchtest du ihnen unterbreiten, was deiner Ansicht nach getan werden kann – denn meine Meinung gefällt ihnen offenbar nicht.«
So wiederholte ich, was schon viele Male gesagt worden war: dass die Loyalität der Männer Gallien galt, wo sie geboren waren und wo ihre Familie lebte; dass sie während der vergangenen Jahre unter Julians Führung allen Widrigkeiten zum Trotz verteidigt hatten, was ihnen gehörte, und dass sie nicht willens waren, die Heimat zu verlassen.
»Ihre Loyalität muss dem Kaiser gelten«, schnauzte Decentius, um mich zum Schweigen zu bringen.
»Und was ist mit der soldatischen Disziplin?«, fragte Sintula.
»Sie fühlen sich betrogen. Sie haben ein Versprechen erhalten.«
Decentius schnaubte. »Dieses Versprechen hätte nicht gegeben werden dürfen. Ich will nichts mehr davon hören.« Plötzlich fuhr er Sintula an: »Warum hast du nicht weitermarschieren lassen? Soll ich etwa glauben, du seist unfähig, eine Kraftprobe mit einer Horde Weiber zu gewinnen?«
Sintula wurde rot. »Aber Notar! So war es nicht. Die Männer hätten eine Meuterei angefangen!«
»Er hat recht, es wäre zum Aufruhr gekommen«, bestätigte ich, aber nicht um seinetwillen, denn er war mir zu ehrgeizig. Als Soldat wusste er genau, was geschehen wäre, hätte er weitermarschieren lassen. Decentius dagegen schwelgte in dem Mut eines Mannes, der noch keine Schlacht erlebt hat.
Nebridius, der sich bisher nicht geäußert hatte, fragte mit ruhiger Stimme: »Was nun?«
Stille trat ein. Alle Blicke richteten sich auf Julian. Als Decentius dies sah, rief er: »Ihr könnt doch die Lösung nicht von ihm erwarten!«
»Fällt dir etwas Besseres ein?«, fragte Nebridius.
Decentius bedachte ihn mit einem wütenden Blick. Man gab einem kaiserlichen Notar keine Widerworte, es sei denn, man sehnte sich nach dem Tod. Aber Marcellus, der solche Männer verachtete, sagte: »Julian kennt die Soldaten. Du nicht.«
Decentius fuhr zu ihm herum wie ein bösartiger, in die Enge getriebener Hund. Marcellus erwiderte kühl seinen Blick. Dann sagte Julian: »Du kannst nur eines tun, Notar: Du musst den Männern erlauben, ihre Frauen und Kinder mitzunehmen. Das ist die einzige Möglichkeit.«
»Das ist absurd!«
»Dann tu, was du willst. Du hast diese Schwierigkeiten selbst herbeigeführt. Begreifst du denn gar nicht, was heute beinahe passiert wäre? Ich schlage vor, du denkst darüber nach.«
Julian wandte sich Nebridius zu, der mehr Vernunft besaß.
»Der Quartiermeister wird dir Wagen für die Frauen geben. Du solltest sie lieber von Paris wegbringen lassen, bevor die anderen Einheiten eintreffen.«
Zwei Tage später brachen die Soldaten auf, eine mürrische Schar entmutigter Männer, angeführt von einem jämmerlichen Tribun und gefolgt von Karren mit zerlumpten Frauen, die sich gegen die Kälte eingemummt hatten.
Während der Vorbereitungen war Decentius in seiner Unterkunft in der Zitadelle geblieben. Doch jetzt, wo die Truppen abmarschierten, zeigte er sich wieder. Völlig unverdrossen, voll törichter Selbstgewissheit schritt er mit Pentadius umher, als hätte er einen Sieg errungen. Er beschwerte sich bei Julian, dass von Lupicinus noch immer keine Nachricht gekommen sei, dessen Legionen er schließlich angefordert habe. Und warum der Präfekt nicht gekommen sei, wollte er wissen. Die verbliebenen Truppen seien noch in ihren abgelegenen Winterquartieren; er könne nicht länger warten. Julian selbst müsse den Befehl erteilen, dass sie sich in Paris einzufinden hätten.
Bei dem Wortwechsel war Julian mit ihm allein. Als er Oribasius und mir später davon berichtete, sagte er: »Er wirft mir vor, dass ich nicht mit ihm an einem Strang ziehe. Er gibt mir die Schuld an dem Ärger mit den Frauen und sagt, ich täte besser daran, dem Kaiser meine Treue zu beweisen. Er macht sich nicht einmal die Mühe, seine Drohung zu verschleiern.«
Er seufzte und machte eine hoffnungslose Geste. Dabei sah er plötzlich sehr jung aus, fand ich, wie ein unglücklicher Knabe. »Bei Gallus war es genauso«, sagte er.
Gallus war sein älterer Bruder gewesen. Auch er war in Abgeschiedenheit aufgewachsen, auf einem abgelegenen Gut in Asien – bis Constantius beschloss, dass er ihn brauchte. Er erhob ihn, der zum Herrschen nicht erzogen worden war, zum Cäsar, wie zuletzt auch Julian. Doch da endeten die Gemeinsamkeiten der beiden Brüder. Gallus’ Charakter war nicht durch gute Erziehung geschliffen und geformt worden. Da niemand ihm Mäßigung beigebracht hatte, war er machttrunken geworden, bis Constantius ihn schließlich aus dem Amt entfernte, indem er zuerst seine Truppen abzog und ihn dann zu »Beratungen« an den Hof rief. Die Beratungen waren eine Lüge gewesen: Unterwegs wurde er verhaftet, ohne Prozess verurteilt und enthauptet.
Julian erwähnte ihn selten. Ich nehme an, dass es ihn beschämte. Dennoch war Gallus sein Bruder und bei all seinen Fehlern sein letzter Verwandter gewesen.
Ins Griechische wechselnd sagte er leise: »Und er fiel durch blutigen Tod und mächtiges Verhängnis.«
»So heißt es bei Homer«, sagte Oribasius. »Aber das ist nur dann dein Schicksal, wenn du es wählst.«
Julian hörte ihm zu, erwiderte aber nichts. Lange Zeit stand er schweigend am Fenster und blickte in den Hof und auf die kahlen Obstbäume. Im Westen kam Wind vom Meer auf, brachte die Wolken in Bewegung und trieb den Regen fort. Immer breiter drangen die Sonnenstrahlen durch und verbreiteten goldenes Licht.
Julian war tief in Gedanken versunken. Schließlich drehte er sich mit einem kaum merklichen Nicken zum Zimmer hin um und blickte zum Tisch. Dort lag vergessen die Karte mit der Rheingrenze. Einen Moment lang betrachtete er sie wie ein alter Mann, der an seine Jugend zurückdenkt.
»Es wird bald Frühling«, sagte er. »Ich hatte große Pläne.«
Oribasius setzte zum Sprechen an, doch Julian hob die Hand.
»Nein, mein Freund, ich weiß, was du denkst. Du brauchst es nicht zu sagen. Wir haben getan, was wir tun mussten, und wir wissen beide, dass es Verrat bedeutet, sich dem Kaiser zu verweigern. Es ist besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun.«
Nicht lange danach sah ich bei meiner Rückkehr von einer Erledigung Marcellus im Garten der Zitadelle. Rufus war bei ihm.
Seit er zu Nevitta gewechselt war, hatte ich ihn kaum gesehen. Es erschütterte mich, wie sehr er sich verändert hatte. Nevittas Männer waren laut und prahlerisch, und Rufus hatte ihr nassforsches Auftreten übernommen. Es stand ihm schlecht. Und seinem blassen, unausgeschlafenen Gesicht nach zu urteilen, hatte er sich auch in ihre Gewohnheit hineinziehen lassen, nächtelang zu trinken. Seine jugendliche Frische war verschwunden. Seine schwarzen Locken hatten den Glanz verloren.
Marcellus stand mit dem Rücken zu mir. Es war Rufus, der mich als Erster bemerkte.
»Drusus!«, rief er mir entgegen. »Hast du schon gehört? Ich war gerade dabei, es Marcellus zu erzählen. Julian hat die Männer aus den Winterquartieren herbefohlen.«
»Tatsächlich?«, sagte ich vorsichtig.
»Ja, und das ist noch nicht alles. Hör dir das an: Die Anweisung stammt von diesem dummen Notar … wie heißt er gleich? Decentius? Es wird Ärger geben. Das ist Nevittas Meinung.« Er lachte laut wie über einen Kasernenwitz; dann fuhr er fort: »Nevitta sagt, Julian ist dagegen, aber der Notar will nicht auf ihn hören. Ist das wahr?«
Ein Stück entfernt war ein Schreiber, der soeben den Garten durchquert hatte, stehen geblieben und schaute zu uns herüber. Ich runzelte die Stirn und wünschte mir, Rufus würde leiser sprechen. Wusste er denn nicht, dass die Zitadelle zur Brutstätte von Intrigen geworden war? Hinter den Säulen und geschlossenen Fensterläden konnte sonst wer stehen und uns belauschen. Ich fing Marcellus’ Blick auf. Es war schon gefährlich, auch nur den Namen des kaiserlichen Agenten in einem solchen Tonfall zu nennen. Begriff der Junge das denn nicht?
Ich gab eine nichtssagende Antwort und riet ihm, nicht auf Gerüchte zu hören. Dann, um das Thema zu wechseln, sprach ich ihn auf seine neue Schimmelstute an. Nevitta hatte es gern, wenn seine Soldaten Pferde gleicher Farbe ritten; er hatte eine Vorliebe für das Protzige. Mit meiner Frage wollte ich Rufus auf sicheren Boden lenken, denn der Schreiber war nun in der gegenüberliegenden Kolonnade noch einmal stehen geblieben und tat so, als prüfte er das Bündel Papiere, das er bei sich trug.
Vor einiger Zeit noch hätten Rufus’ Augen bei der Erwähnung seines Pferdes aufgeleuchtet, doch nun zuckte er bloß die Achseln und erwiderte gleichgültig, das Tier sei scheu und schlecht erzogen. Sein Blick schweifte ab, und bald entschuldigte er sich und eilte davon, scheinbar mit der Absicht, seinen gefährlichen Klatsch weiter zu verbreiten.
Marcellus, der meine Gedanken gelesen hatte, sah ihm nach und wandte sich mir dann kopfschüttelnd zu.
»Gehen wir ein Stück«, sagte ich.
Wir sprachen erst wieder, nachdem wir unter dem Bogen durchgegangen und in den Pflaumengarten gelangt waren, wo uns niemand belauschen konnte.
»Hat Decentius den Verstand verloren?«, sagte Marcellus. »Er weiß, was bei der Palastgarde vorgefallen ist. Begreift er denn nichts?«
Julian hatte zwei Tage lang den Notar zu überzeugen versucht, die Männer anderswo und in kleineren Gruppen zusammenzuziehen, damit die Unzufriedenheit nicht um sich greifen konnte. Zuletzt hatte ich gehört, Decentius habe es am Ende eingesehen. Er musste seine Meinung wieder geändert haben, und Nevitta hatte es seinen Trinkkumpanen bereitwillig erzählt, als er davon erfuhr.
»Es sähe Decentius nicht ähnlich, von jemandem einen Rat anzunehmen«, sagte ich. »Er denkt, dass Julian nur seine Absichten vereiteln will.«
»Jeder Dummkopf kann erkennen, dass seine Vorgehensweise falsch ist.«
»Aber nicht Decentius. Er argwöhnt, dass Julian etwas im Schilde führt, und glaubt ihn überlistet zu haben.«
Marcellus schlug mit der Faust gegen die dunkle Rinde des Pflaumenbaums, an dem wir standen, und fluchte leise.
»Ich weiß«, sagte ich. »Er gießt damit Öl ins Feuer.«
Bald trafen die Einheiten nacheinander ein; die Petulantes als Erste, dann die keltischen Hilfstruppen und die Kohorten der anderen Legionen. Alle außer den Herulern und Batavern, die noch mit Lupicinus in Britannien waren.
Da sie für das Kastell auf dem Hügel zu viele waren, schlugen sie ihre Zelte außerhalb der Mauern auf den sanften Hängen am Flussufer auf. Julian begrüßte alte Kameraden und erinnerte sich gemeinsam mit ihnen an ihre tapferen Taten. Als sie sich beklagten, dass sie nach Osten marschieren sollten, gab er zu bedenken, dass es noch viele Siege zu erringen gelte und sie gewiss zu Ruhm und Reichtum gelangen würden. Die Männer hörten ihm respektvoll zu, weil sie ihn mochten. Doch ihre Gesichter verrieten, dass sie nicht überzeugt waren.
Decentius legte bei Julian Protest ein und sagte, er führe sich unmöglich auf. Doch ich war dabei. Hätte er mit dem Brauch gebrochen und sich nicht sehen lassen, wären die Soldaten sofort misstrauisch geworden. Sie hatten bereits dunkle Gerüchte gehört und waren bereit, alles Schlechte zu glauben, das ihnen zugetragen wurde.
Dann, an einem düsteren Wintermorgen, als das Heer zusammengezogen und abmarschbereit war, kam ich auf meinem Weg zu Julian an Decentius vorbei, der zornig über den Innenhof schritt. Bei ihm waren Pentadius und der Quästor Nebridius. Als ich bei Julian eintrat, sagte er: »Decentius ist soeben hier gewesen. Er hat beschlossen, den Tag des Abmarsches vorzuziehen.« Julian nahm ein Pergament vom Tisch und hielt es mir hin. »Hier, sieh dir das an. Das zirkulierte angeblich unter den Petulantes.«
Ich las. In ungelenker Handschrift standen da die altbekannten Klagen: dass die Männer gezwungen würden, ihre Familien zu verlassen; dass Versprechen gebrochen worden seien und dass die Barbaren nach dem Abzug der Soldaten wieder einfallen würden.
»Weißt du, wer das geschrieben hat?«, fragte ich und gab es Julian zurück.
»Decentius beschuldigt mich.«
Unsere Blicke trafen sich. Nach einem Moment schaute Julian achselzuckend zur Seite. »Ich werde sogar beschuldigt, wenn ich überhaupt nichts tue. Jetzt verlangt Decentius, dass ich die Offiziere ausfrage, um festzustellen, wie weit sich diese Ansichten verbreitet haben. Mit ihm will natürlich niemand reden … Darum habe ich alle Offiziere für heute Abend zu einem Bankett eingeladen. Komm auch, Drusus, und bring Marcellus mit.«
Die Petulantes und die Kelten waren Regimenter mit Männern aus Gallien, in denen auch einige barbarische Freiwillige dienten. Einige waren an die römische Lebensweise gewöhnt, andere nicht so sehr, insbesondere die Petulantes, die sich an ihre eigenen Bräuche hielten. Ihnen zu Gefallen lud er zu einem Festmahl, das eines Barbarenhäuptlings würdig gewesen wäre: Er ließ große Platten mit gebratenem Fleisch und stark gewürzten Soßen auftischen, dazu kräftigen gallischen Rotwein, der aus einem massiven Silberkrug ausgeschenkt wurde – einem prächtigen Ding mit Hirschreliefs, groß genug, um einen erwachsenen Mann aufzunehmen.
Für seinen genügsamen Gaumen dürfte das fette Essen widerlich gewesen sein. Doch er verstand es, seine Gäste zu bewirten, wenn es darauf ankam, und er leerte seinen Teller mit Hilfe des dankbaren Hundes, der mit wachen Augen unter der Liege ruhte.
Nachdem die schweren Platten abgetragen waren, befahl Julian, die Weinpokale noch einmal zu füllen, und schickte die Diener zu Bett. Erst dann fragte er nach der Stimmung unter den Soldaten.
Gelächter und Gespräche verstummten so schnell, wie Blei im Wasser versinkt. Jeder Offizier blickte seinen Nachbarn an, da er nicht als Erster antworten wollte.
»Es gibt ein Gerücht, wonach die Männer unzufrieden sind«, sagte Julian.
Dagalaif, der stattliche germanische Befehlshaber der Petulantes, stieß ein raues Lachen aus und schlug sich auf den Schenkel. Er gehörte zu Nevittas Freunden. Wie dieser hatte er während des Abends eine reichliche Menge getrunken.
»Unzufrieden!«, rief er und schaute spöttisch in die Runde. Er wollte gerade weitersprechen, als sein Blick auf Nevitta fiel, worauf er sich seine nächsten Worte verkniff. Ich schaute Nevitta an. Sein durchtriebenes Gesicht nahm einen nichtssagenden Ausdruck an. Er mochte derb sein, war aber auch berechnend. Er war kein Mann, der sich als Erster auf dünnes Eis wagt.
Wie weit Dagalaif das wusste, war mir nicht bekannt. Ich vermutete aber, dass er ihn in einem gewissen Maße durchschaut haben musste, denn er fuhr leiser und unsicherer fort: »Ich kann nur für meine eigenen Männer sprechen.«
»Dann sprich«, sagte Julian.
Dagalaif schaute stirnrunzelnd in die Runde und begegnete nur verschlossenen oder abgewandten Gesichtern. Er stellte seinen silbernen Pokal ab und wischte sich mit dem haarigen Unterarm den Mund ab. »Die Stimmung ist schlecht. Wenn du die Wahrheit hören willst: So schlecht gelaunt habe ich die Männer noch nie erlebt. Nicht einmal nach der Schlacht am Mons Seleucus.«
Von den anderen Liegen erklang beipflichtendes Gemurmel. Davon ermutigt, fuhr Dagalaif fort: »Sie sind gute, ehrliche Männer, Cäsar, das Salz der Erde, und sie fürchten keinen Kampf. Das weißt du. Aber es gefällt ihnen nicht, dass sie abbefohlen werden. Ein Versprechen muss man halten.«
Es folgte ein kurzes Schweigen. Dann öffneten sich die Schleusen, und plötzlich redeten alle durcheinander. Die Regimenter beklagten sich ausnahmslos, hieß es. Die Männer fühlten sich behandelt wie Verbrecher, die man aus ihrer Heimat ans Ende der Welt verbannte. Hätten sie dafür ihr Leben im Kampf aufs Spiel gesetzt? Julian sei ihr Befehlshaber, nicht Constantius. Die Männer wollten bei ihm bleiben. Sollte Constantius seine Kriege mit seinen eigenen Legionen führen.
Ich warf Marcellus einen Blick zu. Wie ich hatte er sich beim Wein zurückgehalten, da er geahnt hatte, was kam. Ich dachte im Stillen: Wie gut, dass er die Diener zu Bett geschickt hatte, denn das durfte dem Kaiser nicht zu Ohren kommen.
Eine Weile lamentierten sie. Julian hörte zu, ohne einen Kommentar abzugeben, und blickte von einem Sprecher zum anderen.
Schließlich, nachdem alles gesagt und wiederholt worden war, breitete sich Stille aus, und die Offiziere warteten gespannt, was Julian dazu sagen würde.
Er wolle sie wissen lassen, begann er mit wohlüberlegten Worten, dass der Befehl, nach Osten zu marschieren, nicht seinem Wunsch entspreche. Aber wie sie habe er Befehlen zu gehorchen. Er erzählte ihnen von Constantius’ Forderungen. Er könne nur vermuten, sagte er, dass der Kaiser die Soldaten Galliens dringend benötige. Er selbst habe nicht die Macht, dagegen einzuschreiten. Sie hätten ihm gut gedient, aber nun müssten sie ihre Pflicht tun.
Es war eine schlichte Ansprache, die bewegte und scheinbar ohne große Redekunst auskam. Doch ich dachte mir dabei, dass Julian nicht vergeblich bei den klügsten Köpfen Athens studiert hatte.
Hinterher gab es glänzende Augen und nasse Wangen, und bald darauf gingen die Offiziere Arm in Arm, von Fackelschein begleitet, in die dunkle Nacht.
Als sie fort waren und nur noch Marcellus und ich bei Julian saßen, schaute er über die geleerten Becher und abgenagten Knochen und sagte: »Ich habe nichts getan, dessen ich mich schäme. Doch eines habe ich übersehen.«
Marcellus fragte, was er meinte.
»Ich habe die Männer eingeladen, um zu erfahren, was sie denken.« Er hielt inne und konzentrierte sich. Er war das Trinken nicht gewöhnt und hatte ein bisschen zu viel Wein genossen. »Ich habe sie danach gefragt, und sie haben es mir gesagt. Aber sie haben es auch einander offenbart.«
Marcellus blickte ihn fragend an.
»Verstehst du nicht? Bis heute Abend konnte jeder nur vermuten, was der andere dachte. Jetzt wissen sie es. Das Wissen hat sie geeint.«
Später, als Marcellus und ich im Bett lagen, unterhielten wir uns noch darüber. Es war still im Palast, doch wir ahnten neue Gefahren, an die wir bis dahin nicht gedacht hatten.
Ich hatte etwas über Nevitta gesagt, denn meine Abneigung gegen diesen Mann war nach diesem Abend noch gewachsen. Nun aber waren wir beide in Schweigen versunken, und ich betrachtete die Lampenschatten an der Decke, während mir so allerhand durch den Kopf ging. Gähnend drehte ich mich um. Plötzlich sprang Marcellus auf und lief ans Fenster.
»Was ist?«, fragte ich.
»Still! Horch!«
Aber da war ich schon aus dem Bett, denn ich hatte es ebenfalls gehört: Angriffsgebrüll wie in der Schlacht, ein Heer wütender Männer, das sich im Laufschritt skandierend näherte.
Marcellus öffnete das Fenster. Ein kalter Wind wehte herein und blies die Lampe aus. Ich hörte einen Ruf. Irgendwo unter uns erklang das Geräusch eiliger Schritte. »Komm«, sagte Marcellus, zog sich an und warf mir meine Tunika zu.
Am Fuß der Treppe hetzte ein erschrockener Sklave an uns vorbei wie ein Hase, der vom brennenden Acker flüchtet. Marcellus packte ihn beim Arm und riss ihn zurück. »Beruhige dich!«, sagte er streng.
Der Sklave starrte ihn mit großen Augen an und versuchte sich loszuwinden. »Lauft!«, rief er. »Die Legionen kommen. Sie stürmen den Palast!« Er riss sich los und stob davon.
»Dann hat es begonnen«, stellte ich fest. »Wir sollten zu Julian gehen.«
Er war nicht in seinen Gemächern. Die Tür stand offen, und kein Posten hielt Wache. Wir trafen nur seinen Leibdiener an, der sich am Fenster den Hals verrenkte. Er sagte uns, der Cäsar sei zu seiner Gemahlin gegangen; er habe bereits einen Sklaven zu ihm geschickt, wenngleich der Cäsar den Lärm inzwischen selbst gehört haben müsse. So eilten wir weiter und nach draußen in den hoch ummauerten Außenhof. Das war ein Fehler, denn im selben Augenblick strömten die ersten Legionäre durch das Tor.
Marcellus packte meinen Arm und zog mich in die Ecke, während ein Strom brüllender Männer mit blankem Schwert in den Hof drang und ihn von Wand zu Wand füllte. Die Vordersten trugen die gefärbten Felle und Abzeichen der Petulantes. Hinter ihnen folgten die Kelten und die Hilfstruppen. Es drängten mehr in den Hof, als er fassen konnte, und wir wurden so fest an die Mauer gedrückt, dass wir uns nicht mehr vom Fleck bewegen konnten.
Dann skandierten sie, angeführt von der vordersten Reihe: »Julian! Julian! Julian! Julian!« Es wurde immer lauter, da die hinteren Reihen den Ruf aufnahmen, sodass er sich ausbreitete wie Feuer im trockenen Unterholz, bis durch das Tor hinaus in die Dunkelheit. Julians Name wurde endlos wiederholt; es klang wie eine Aufforderung zum Kampf, hallte von den Steinmauern und Fensterläden wider, vibrierte im Boden und schrillte in den Ohren. Und noch immer drängten Männer in den Hof, immer mehr, ein ganzes Heer. Es stank nach Wein und Bier und Soldatenschweiß. Dann setzte in ihrer Mitte ein neuer Rhythmus ein und wurde weitergetragen, mischte sich mit Jubelschreien und wilden Schlachtrufen. Zuerst verstand ich es nicht, doch dann wurden mir schlagartig die Hände kalt, als ich die Worte begriff. »Julian Augustus! Julian Augustus! Julian Augustus!«, brüllten die Männer immer wieder.
Ich blickte Marcellus an. Reden war nicht nötig. Ringsumher stießen die Männer die Fäuste in die Höhe und brüllten aus Leibeskräften die schreckliche Phrase, die nicht zurückzunehmen war und mit der sie Julian zum Kaiser ausriefen und ihn aufforderten, sich zu zeigen.
Ein Soldat neben mir fragte seinen Nebenmann: »Wo ist er? Wieso kommt er nicht?« Sein Kamerad, ein narbiger Gallier mit Zahnlücken, antwortete lachend: »Schlafen wird er jedenfalls nicht. Nicht jetzt.«
Und weiter ging das Skandieren. Es war wie beim Wagenrennen, wo jeden die Inbrunst der Anfeuerungsrufe packt und wo man eins wird mit der Menge, wo sich aus vielen Seelen eine mächtige Bestie bildet, die nur einen Willen hat.
So ging es über Stunden. Der Lärm schwoll an und ab wie ein Sturm, und wir saßen darin fest. Dann, als die Fackeln über dem Torweg heruntergebrannt waren und der erste rote Schimmer des Morgens am Himmel erschien, brachen die vordersten Reihen in Jubel aus. In den breiten Türflügeln hatte sich die kleine Tür geöffnet, und auf dem Balkon über der Treppe erschien Julian.
Die Petulantes waren aufgrund ihrer germanischen Herkunft allesamt große Männer, und ich hatte Mühe, über ihre breiten Rücken hinwegzuschauen. Doch ab und zu, wenn sich die dichte Menge bewegte, konnte ich ihn kurz sehen, wie er mit erhobenen Händen um Ruhe bat und versuchte, sich trotz des Gebrülls Gehör zu verschaffen. Doch die Akklamation wurde nur umso lauter. Ich sah ihn den Kopf schütteln und Zeichen geben, die Männer möchten ihm zuhören, aber nach einer Weile, als er die Vergeblichkeit einsah, ließ er die Arme sinken und wartete, bis die Vordersten schließlich die Hinteren zum Verstummen brachten. Dann endlich konnte er zu ihnen sprechen. Er klang zögerlich, sogar erschüttert. Ob aus Zorn oder Rührung oder aus Angst, war schwer zu sagen.
Sie seien gute Männer und hätten Rom tapfer gedient, sagte er. Sie hätten gemeinsam Entbehrungen durchgestanden und Siege errungen, hätten gegen die Franken und Alemannen und andere germanische Stämme gekämpft und sie bis hinter die Grenze zurückgedrängt. Nun, da Gallien wieder sicher sei, dürfe man das Erreichte nicht gefährden. Ihren Forderungen könne entsprochen werden, dessen sei er sicher, doch wenn sie nicht aufhörten, brächten sie nur Verderben über sie alle.
Kurz schwieg er, und in der kalten Luft des frühen Morgens war sein Atem zu sehen. Die Männer blickten ihn störrisch an. »Ich gebe euch mein Wort, dass ihr nicht gezwungen werdet, eure Heimat gegen euren Willen zu verlassen. Ich werde beim Kaiser für euch sprechen. Er wird gewiss darauf hören. Aber nun müsst ihr in euer Quartier zurückkehren.«
Einen Moment lang herrschte enttäuschtes Schweigen. Dann brüllten sie. Es war kein Jubel, sondern ein gewaltiges, aufsässiges »Nein!«.
Eine einzelne Stimme in der Mitte stimmte erneut die Akklamation an: »Julian Augustus! Julian Augustus!« Sie wurde rasch aufgegriffen. Die Rufe wurden lauter, wütender, drohender, klangen wie eine wilde, schreckliche Melodie.
Bis dahin war Julian darüber hinweggegangen, vermutlich in der Hoffnung, die Männer würden abziehen und die Sache könne einfach vergessen werden. Alles andere – ihr Protest, die aufkeimende Meuterei, der Ungehorsam und die Trunkenheit – konnte mit guten Gründen erklärt und verziehen werden. Die Akklamation jedoch würde Unheil bringen.
Als das Getöse wieder anschwoll, gab Julian den Versuch auf, die Menge zu beruhigen, und stand mit gebeugtem Kopf da. Die Männer um mich her grinsten oder lachten einander an, dass man ihre Zähne und roten Mundhöhlen sah, aber es klang nicht freudig; stattdessen ergötzten sie sich an ihrer verhängnisvollen Macht. Es schien, als nähme es kein Ende. Dann aber, als die letzten Sterne am Himmel verblassten, erscholl vorn ein Schrei. Plötzlich wogte die Menge voran, und wir wurden mitgerissen wie Laub von einem Strom. Ich reckte den Hals und sah es. Oben auf der Treppe gab Julian mit ausgestreckten Armen das zeitlose Zeichen der Anerkenntnis, mit dem er die Akklamation doch noch annahm.
Sofort brandete wilder Jubel auf.
Schon stiegen Männer die Stufen zu dem kleinen Balkon hinauf, wo der Cäsar stand, und rempelten einander beiseite, um der Erste zu sein. Sie umringten und packten ihn. Kurz verschwand er in der Flut drängelnder Leiber. Dann wurde er über ihre Schultern gehoben und getragen. Jemand brachte einen blau-gelben Schild der Petulantes, und sie setzten ihn darauf und hoben ihn hoch, wobei sie aus Leibeskräften brüllten: »Julian Augustus! Julian Augustus! Julian Augustus!«
»Ein Diadem!«, rief jemand, und andere wiederholten: »Ein Diadem! Wo ist ein Diadem? Bringt ein Diadem!« Julian gab zu verstehen, dass er keines besitze – wie auch, da nur der Kaiser ein Diadem trug.
»Wie steht es mit deiner Gemahlin?«, rief jemand.
Es wäre ein unheilvoller Anfang, wenn er den Schmuck einer Frau trüge, erwiderte Julian.
Die Männer lachten. Sie hätten über alles gelacht. Dann wurde ein Feldzeichenträger namens Maurus nach vorn geschoben. Er nahm den Halsschmuck seines Ranges ab, der sodann über die Menge hinweg nach vorn gereicht und Julian auf den Kopf gesetzt wurde. Er passte kaum, aber das kümmerte niemanden. Ringsherum jubelten, pfiffen und brüllten die Männer.
Dann flaute der Lärm ab. Einer sah den anderen an und fragte sich, was als Nächstes käme. Julian nutzte den Augenblick und ergriff das Wort. Er dankte den Männern für ihre Zuneigung und Treue und versprach jedem eine Sonderzahlung von fünf Goldstücken und einem Pfund Silber. Dann befahl er ihnen, in ihre Quartiere zurückzukehren.
Diesmal gehorchten sie und zogen sich aus dem Hof zurück. Marcellus und ich standen allein unter einer blutig roten Morgendämmerung.
Wir fanden Julian im Audienzsaal. Decentius, der Notar, war bei ihm sowie Pentadius und der Quästor Nebridius. Sie alle redeten durcheinander. Im Hintergrund standen beim flackernden Schein der Kohlenpfanne einige von Florentius’ Beamten; auf ihren Gesichter spiegelte sich Entsetzen, nachdem ihre sorgsam festgefügte Welt mit einem Mal in Unordnung geraten war.
Decentius schrie wirres Zeug und gestikulierte wild mit den Armen.
»Geh selbst ins Lager und sag es ihnen!«, brüllte Julian zurück.
»Aber du musst es widerrufen. Das ist Verrat!«
»Meinst du, ich weiß das nicht? Ich habe dich gewarnt, was geschehen würde.«
Als ihm plötzlich bewusst wurde, dass er das absurde Diadem noch auf dem Kopf trug, schleuderte er es zornig von sich. Es landete vor Decentius’ Füßen. Der Notar wich zurück und starrte es an, als wäre es eine angriffsbereite Schlange. »Nun?«, sagte Julian. »Da hast du deinen Aufruhr. Was gedenkst du dagegen zu unternehmen?«
Decentius setzte zu einer Antwort an, stockte dann aber und schüttelte nur den Kopf. Mit ungeduldiger Geste wandte Julian sich ab und begab sich mit energischen Schritten zur Tür.
»Warte!«, rief der Notar und wollte ihm hinterherlaufen. Aber Marcellus trat ihm in den Weg.
»Nein, Decentius«, sagte er. »Du hast genug getan. Lass ihn zu Bett gehen.«
»Du also auch!«, zischte er.
»Sei kein Narr. Die Männer sind abgezogen. Lass sie ihren Rausch ausschlafen.« Dann wandte er sich zu Pentadius und Nebridius, die ihn mit großen Augen ansahen, und sagte: »Wir waren dort. Julian blieb nichts anderes übrig. Sonst hätten sie den Palast gestürmt.«
Die beiden Männer wechselten einen entsetzten Blick. Mir schien, dass sie erst in diesem Augenblick begriffen, wie knapp sie dem Tod entronnen waren.
Von den Anwesenden war Nebridius der Einzige, der ein gewisses Ehrgefühl besaß. Er hatte Decentius und Pentadius unterstützt, da sie es verlangt hatten und weil es seine Pflicht gewesen war, doch hatte er es ohne Freude oder Genugtuung getan.
»Glaubst du, sie werden zur Vernunft kommen, wenn sie wieder nüchtern sind?«, fragte er.
Marcellus zuckte die Achseln. »Vielleicht. Aber sie sind wütend und gefährlich – und sie kennen jetzt ihre Macht. Nach dieser Nacht lässt sich schwer sagen, ob wir ihre Befehlshaber oder ihre Gefangenen sind.«
Wir verließen sie und ihre Beamten, die einander erschrocken anschauten, und kehrten in unsere Zimmer zurück.
Marcellus setzte sich aufs Bett und sagte: »Es gibt kein Zurück, Drusus, für keinen von uns. Was immer dieser Decentius sagt, die Akklamation kann nicht zurückgenommen werden, und Julian weiß das besser als jeder andere.«
»Ja, Marcellus. Aber wir haben uns schon vor langer Zeit für eine Seite entschieden.« Ich gähnte und rieb mir die Augen.
»Schlaf jetzt«, sagte er und drückte mir die Schulter.
»Nach allem, was passiert ist?«
Dann muss ich aber doch eingeschlafen sein, denn eben noch wälzte ich in Gedanken die Ereignisse der Nacht, und plötzlich rüttelte Marcellus mich und sagte: »Steh auf, Drusus, schnell! Sie sind wieder da.«
Ich griff nach Gürtel und Schwert. Marcellus stieß die Fensterläden auf und lehnte sich hinaus. Von jenseits des Tores waren Männerstimmen zu hören. Wenigstens ist es diesmal kein Aufruhr, dachte ich, während ich mir den Gürtel umschnallte.
Julian hatte sich wieder in den Audienzsaal begeben und war diesmal auf sie vorbereitet. Er saß auf dem Podest in einem Lehnstuhl, der mit weißem Leinen bezogen war, und trug seinen Purpurmantel. Oribasius und Eutherius standen neben ihm. Helles Tageslicht strömte durch die Fensterrose hinter ihm und fiel in staubdurchsetzten Strahlen auf den Steinboden.
Vor ihm stand eine Abordnung der Soldaten; es waren über zwanzig Mann. Julian sagte soeben, dass sie nichts zu befürchten hätten und dass er selbst wohlauf und nicht in Gefahr sei. Sie hörten ernst zu, nickten und waren von den Herrschaftsinsignien offenbar eingeschüchtert.
Später erfuhr ich, was sich zugetragen hatte.
Während Julian schlief, hatte Decentius, anstatt die Soldaten nüchtern werden und zur Vernunft kommen zu lassen, den Versuch unternommen, die Unteroffiziere der Petulantes zu bestechen, damit sie in die unbewachte Zitadelle eindringen und Julian als Verräter festnehmen. Wie schon zuvor hatte er sich verrechnet, da er nicht begriff, dass es nicht Gold war, was die Männer antrieb, sondern Ehre, Furcht und verletzter Stolz. Sie waren nicht von Julian gekauft worden und ließen sich auch jetzt nicht kaufen.
Decentius’ Vorgehen hatte sich schnell herumgesprochen, sodass es im Lager hieß, Julian sei in Gefahr oder gar verhaftet worden und stünde kurz vor der Hinrichtung. Daraufhin waren die Männer in die Zitadelle gestürmt. Sie würden nicht eher wieder abrücken, hatten sie gesagt, als bis sie Julian mit eigenen Augen gesehen und von ihm selbst gehört hätten, dass er sicher war.
Danach wurde Decentius zum Cäsar befohlen, war aber nicht auffindbar. Nachdem er sich ertappt gesehen hatte, war er wohl untergetaucht. Aber Paris ist ziemlich klein, und Decentius war als Spion des Kaisers verhasst, sodass er nicht lange unentdeckt blieb. Innerhalb von Stunden wurde er in den Palast zurückgebracht.
»Was willst du mit ihm machen?«, fragte Nebridius.
»Mit ihm machen? Nichts. Ich könnte mir vorstellen, dass die Männer, die ihn fanden, ihn schon reichlich in Angst versetzt haben. Er hat Glück, dass er nicht mit durchgeschnittener Kehle im Fluss gelandet ist.«
»Und jetzt?«
»Er darf abreisen, wenn er will. Wir brauchen ihn hier nicht.«
Bald darauf kamen die Soldaten der Palastgarde zurück, die mit Sintula und ihren Frauen nach Osten gezogen waren. In ihrer Niedergeschlagenheit waren sie auf ihrem Marsch noch nicht weit gekommen, und sowie sie die Neuigkeiten aus Paris hörten, eilten sie zurück – auch Sintula, was ihm zur Ehre gereichte, denn er hätte leicht fliehen können.
Als halbwegs Ruhe eingekehrt war, befahl Julian, die Soldaten antreten zu lassen.
Er ritt aufs freie Feld vor der Stadt, wo die verschiedenen Einheiten lagerten, und unter quellenden Wolken und flüchtiger Frühlingssonne sprach er zu ihnen und führte ihnen vor Augen, was sie gemeinsam durchgestanden hatten. Nun hoffe er, sie würden in der Zeit seiner Bedrängnis zu ihm halten.
Der Jubel war laut und lang anhaltend. Die Männer hoben die Arme zum Gruß und schlugen mit den Speeren auf ihre glänzenden Schilde, dass es wie Donner durch die Reihen rollte. Sie waren bereit, Julians Befehlen zu folgen.
Später hielt er ein Gastmahl für seine Freunde ab. Vor uns bekannte er, was er insgeheim fürchtete. Seine Stellung in Gallien sei sicher, erklärte er, aber nur, weil der Kaiser an den Ostgrenzen mit den Persern beschäftigt sei. »Constantius muss begreiflich gemacht werden, dass die Akklamation nicht von mir ausging; ich fordere ihn nicht heraus. Die Männer waren nicht willens, Heimat und Familie zu verlassen. Das ist alles. Es ist kein Aufstand gegen ihn.«
»Constantius wird anderer Ansicht sein«, sagte Eutherius. »Schon jetzt glaubt er überall Verräter zu sehen, und Decentius wird sich auf deine Kosten verteidigen, sobald er am Hofe angelangt ist. Desgleichen Florentius. Wir haben bereits gesehen, wie sie sich verhalten.«
Julian überlegte. Am Tag vorher war ein Bote eingetroffen mit der Neuigkeit, dass Florentius von Vienne geflohen war und in seiner Hast Frau und Kinder zurückgelassen hatte. Julian hatte Befehl gegeben, sie und ihre Habe sicher in den Osten zu bringen; Constantius hätte sie sonst verhaften und hinrichten lassen.
»Ich möchte keinen Krieg mit ihm«, sagte er zu Eutherius. »Ich werde ihm schreiben und erklären, wie die Männer dazu getrieben wurden. Ich werde Truppen schicken, wie er es wünscht … allerdings nicht die Petulantes, die nicht gehen wollen, auch nicht die Heruler, die nicht hier sind. Aber wir schicken …« Er nannte die Einheiten, die er stattdessen hergeben wollte. »Ich werde Constantius bitten, einen neuen Präfekten zu ernennen, der seinem Wunsch entspricht. Doch davon abgesehen muss ich meinen Stab selbst wählen. Wir hätten uns viel Ärger ersparen können, hätte er mir das gleich zu Anfang gestattet. Soll er Befragungen anstellen; er wird sehen, dass ich die Wahrheit sage.«
»Und von wem wird er sie hören?«, fragte Eutherius. »Von Decentius und Florentius? Nein, gewiss nicht. Jemand muss zu ihm reisen und für dich sprechen.«
»Ich werde gehen. Ich war dabei und habe gesehen, wie es geschah.«
»Ich danke dir, Drusus«, sagte Julian lächelnd, »aber in dieses Schlangennest will ich dich nicht schicken. Dich möchte ich um etwas anderes bitten. Nein, es gibt nur einen Mann hier, auf den Constantius hören wird.«
Er blickte zu Eutherius, der von einer Schale voller Honigfeigen naschte. Seufzend stellte er sie ab.
»Ah! Wieder eine Reise im Winter. In diesem Fall, mein lieber Julian, schlage ich vor, dass Pentadius mich begleitet.«
»Pentadius? Aber warum? Er ist einer von Florentius’ Speichelleckern.«
»Deshalb wird Constantius ihm glauben.«
Pentadius hatte sich entschieden zu bleiben, obwohl er mit Decentius hätte flüchten können. Mittlerweile schien er zu bereuen, dass er den Notar unterstützt hatte, der lediglich die eigene Haut retten wollte und ihn im Stich gelassen hatte. Pentadius wusste nun, dass er benutzt worden war.
Oribasius, der bislang still dabeigesessen hatte, sagte: »Ganz gleich, was geschieht, du darfst nicht kapitulieren. Das weißt du.«
Julian nickte. Sein Wein – in einem gallischen Tonbecher mit Weintraubenrelief – stand noch unberührt vor ihm.
»Constantius muss mir lassen, was ich habe«, sagte er schließlich. »Alles andere ist unmöglich.«
»Ja, aber wird er dazu bereit sein?«
»Er hat die Perser im Nacken«, sagte Eutherius. »Er könnte einlenken, falls er keinen anderen Ausweg sieht. Aber erst einmal wird er kämpfen wie eine Katze im Netz.«
»Und da ist noch das Problem mit Lupicinus. Zwei der besten Legionen sind unter seinem Befehl in Britannien. Constantius wird ihm befehlen, gegen uns zu ziehen.«
Er werde Lupicinus einen Brief senden und ihn nach Paris zurückrufen, sagte Julian. Für diese Aufgabe brauche er mich. Marcellus und ich sollten nach Britannien reisen und dem Heermeister den Brief überbringen. Da Marcellus zu Lupicinus’ Stab gehörte, würde kein Misstrauen aufkommen. »Ihr müsst tun, was ihr könnt, damit Constantius’ Befehl nicht zu ihm gelangt. Ich werde vertrauenswürdige Männer in sämtliche gallischen und spanischen Häfen schicken – wo immer ein Bote ein Schiff besteigen kann. Aber das genügt vielleicht nicht. Ihr müsst euer Möglichstes von der anderen Seite tun.«
Julian sagte, er werde mich in den Rang eines Comes erheben, damit ich ausreichend Autorität besäße und nicht behindert werde. »Und sprich in London mit Alypius. Er ist ein Freund. Man kann ihm vertrauen.«
Eine Zeit lang besprachen wir die Einzelheiten. Bevor wir uns dann verabschiedeten, wandte er sich mir noch einmal zu. »Und nun, Drusus, gibt es noch eine Ungerechtigkeit, die ich seit Langem wiedergutmachen will.«
Er stand auf und nahm einen versiegelten Brief von einem Tischchen. Dabei fiel das Licht vom Lampenständer auf sein Gesicht, und ich sah, dass er errötete.
»Diese Urkunde spricht deinen Vater von allen Verbrechen frei und gibt dir den Familienbesitz zurück.«
Ich nahm das gefaltete Pergament entgegen und schaute auf das Siegel. Aber vor meinem geistigen Auge sah ich meinen Vater, wie er an dem Tag, an dem er mich weggeschickt hatte, vor dem Fenster seines sonnigen Arbeitszimmers stand. Julian hatte es wohl die ganze Zeit gewusst, aber nicht die Macht gehabt, zu handeln.
Ich blickte auf, um ihm zu danken, doch meine Kehle war wie zugeschnürt, und ich brachte kein Wort heraus.
»Sag mir, Drusus, glaubst du, dass die Götter im Traum zu uns sprechen, wie oft behauptet wird?«
Ich schluckte und dachte nach.
»Ja«, antwortete ich schließlich, »aber man braucht Verstand, um zu begreifen, was sie uns sagen wollen. Wir sind kein bloßer Spielball der Götter.«
Julian nickte lächelnd.
»Eine gute Antwort. Nur ein wohlgeordneter Geist sieht richtig. In der vergangenen Nacht träumte ich von einem großen Baum und seinen Wurzeln, in dessen Schatten ein Schössling wuchs. Der hohe Baum war halb umgestürzt, die Wurzeln aus der Erde gerissen. Als ich mich ihm näherte, um ihn zu betrachten, tippte Hermes mir auf die Schulter und sagte: Sieh her und fasse Mut; der Schössling bleibt im Erdreich; er wird erstarken, und der Baum wird eingehen.«
Er lachte verlegen.
»Und was soll das bedeuten?«, fragte ich.
Er zuckte die Achseln. »Vielleicht dies: Der große Baum ist Constantius, und obgleich ich nicht darum gebeten habe, haben die Götter mir Gelegenheit gegeben, viel Schlechtes wiedergutzumachen, das Constantius verursacht hat.« Er deutete auf das Schriftstück in meiner Hand. »Das ist ein Anfang. Was das Übrige betrifft, so weiß ich nicht, wohin es führt. Doch ich fühle, dass die Götter mit mir sind. Wenn ich ausschlage, was sie anbieten, wird es keine zweite Gelegenheit geben.«