40460.fb2
Auf einem schnellen Schiff mit nur dreißig Ruderern setzten wir an einem Frühlingstag nach Britannien über. Der Westwind jagte die Wolken über den Himmel und ließ es schlingern und stampfen. Im Kastell Richborough ließen wir uns Pferde und eine Eskorte geben und ritten durch die taufrischen Weiden der Küstenebene nach Westen auf London zu.
Die Straße war mir vertraut, und Erinnerungen stellten sich ein. Nach einiger Zeit gelangten wir an eine nach Süden führende Abzweigung, wo ich mein Pferd zügelte. Der Weg war von Brombeeren und Weißdorn überwachsen, an der Grasböschung blühten violette und blaue Hyazinthen. Ich zeigte zu der fernen Lindenallee. »Dahinter steht das Haus«, sagte ich zu Marcellus. »Das Land ringsum gehörte meinem Vater.«
»Und nun wurde es an dich zurückgegeben. Die Reiter brauchen eine Pause. Wir sollten hingehen und es uns ansehen.«
Mich überkam ein gewisses Widerstreben, das sich nicht leicht in Worte fassen ließ. Doch Marcellus hatte der Eskorte schon befohlen, weiterzureiten und im nächsten Dorf auf uns zu warten. So schüttelte ich das Gefühl ab und bog mit ihm in den ungenutzten Weg ein. Efeu und Geißblatt waren bis über den Bogen des Tores gerankt. Wir ritten hindurch und stiegen ab. Die Mauern des Hauses standen noch, aber das Dach fehlte, und im Atrium lagen die verkohlten Balken.
In dem kleinen gekachelten Wasserbecken hatte eine Eberesche Wurzeln geschlagen. Bereits doppelt mannshoch, breitete sie besitzergreifend die Zweige aus. Wir gingen daran vorbei, als eine Windböe in den Innenhof fuhr. Ich blieb stehen und wischte mir den aufgewirbelten Ruß aus den Augen. Dabei sah ich in der Dunkelheit hinter meinen Lidern das Haus meiner Erinnerung mit den Blumentöpfen, den getünchten Wänden und Marmorböden. Ich scharrte mit dem Fuß über den Boden. Unter der Schicht Unrat kam der Marmor zum Vorschein, in roten, gelblich weißen und olivgrünen Streifen.
»Ich hatte vermutet, dass hier jemand lebt«, sagte ich. »Der Bischof hat alles an sich gerissen, und wozu? Ein Vermächtnis meines Vaters an die Kirche, so behauptete er, obwohl jeder wusste, dass es gelogen war. Doch ich war damals noch ein Knabe, und wer würde es wagen, ihn der Lüge zu bezichtigen? Jetzt ist alles verwahrlost. Man sollte nichts besitzen, was man nicht gehörig nutzen kann. Das macht mich wütend.« Ich trat heftig gegen einen geschwärzten Dachbalken.
»Vielleicht ist es besser so«, gab Marcellus zu bedenken und legte mir die Hand auf die Schulter. »Denn wenigstens ist kein Fremder hier, der sich in deinem Haus breitgemacht hat. Das wäre schlimmer.«
Wir gingen weiter ins Innere. Das Feuer, das das Haus verschlungen hatte, war im Arbeitszimmer meines Vaters gelegt worden. Die einst leuchtenden Fresken waren rußgeschwärzt und rissig; der Putz war in großen Platten abgeplatzt und hatte die Ziegel bloßgelegt. In einer der hohen Nischen, wo die Bücher gelegen hatten, hing ein Schwalbennest.
Düster und still bahnte ich mir einen Weg durch den Schutt und blieb hier und da stehen, um zu schauen. Der große Onyxtisch meines Vaters war erhalten geblieben, an dem Platz, wo er immer gestanden hatte, zwischen den hohen Fenstern. Zweifellos war er den Plünderern zu schwer gewesen. Gedankenversunken strich ich mit dem Finger über die rußige Platte und hinterließ einen weißen Strich. Die Schwalbe kam hereingeflattert und setzte sich empört zwitschernd auf den Sims. Ich schaute durch den Raum, in dem ich als Kind so oft gestanden hatte, um Strafe oder Tadel entgegenzunehmen. Mein Vater war mir immer wie ein Fremder erschienen, aber er war gerecht gewesen, und gemeinere Männer als er hatten ihn zugrunde gerichtet. Inzwischen hatte ich mehr Einsicht in solche Dinge. Damals hatte ich geglaubt, er hasste mich; stattdessen hatte er mich auf seine strenge Art geliebt. Solange er lebte, hatte ich das nicht erkannt.
Ich schluckte und drehte mich um. Marcellus’ graue Augen ruhten auf mir.
»Jahrelang habe ich von diesem Haus geträumt und geglaubt, ich hätte es für immer verloren. Dass ich eines Tages hierher zurückkehren könnte, habe ich nicht für möglich gehalten. Aber ich wünschte, ich hätte es nicht getan, denn nun werde ich in meiner Erinnerung immer diese Verwüstung vor mir sehen.«
Nach einem letzten Blick atmete ich tief durch und ging zur Tür, wo Marcellus wartete.
»Ich bin nun, was ich bin«, sagte ich. »Es gibt kein Zurück.« Und nach einer kurzen Gedankenpause: »Mit der Zeit wandelt sich alles zu Staub.«
Er zog mich zu sich heran, um mich auf die Stirn zu küssen. Das tat er selten.
»Manches ist ewig, Drusus, und ich bin noch da. Du gehörst jetzt zu mir.«
Danach schwiegen wir, und bald wandten wir uns ab und gingen durch den schwarzen Staub nach draußen in den Hof, wo die Pferde standen und von dem hohen Gras fraßen, das zwischen den Steinplatten gewachsen war.
Am nächsten Tag erreichten wir London. Nach dem verheerten Gallien kam es uns vor, als lebte dort jeder im Wohlstand. Während meiner Knabenjahre hatten die Sachsen Raubzüge unternommen und Furcht und Schrecken verbreitet, doch diese Gefahr war inzwischen vergessen. Die Villen und Gehöfte südlich der Themse waren wiederaufgebaut worden, und die Vororte wuchsen.
Beim Überqueren der Brücke zeigte ich auf die Kähne, die entlang des Kais zu zweit und zu dritt aneinander vertäut waren, und fragte einen Mann unserer Eskorte, einen hübschen, schwarzhaarigen Britannier, der erst kürzlich rekrutiert worden war und sich bemühte, gefällig zu sein, wieso im Hafen so viel Betrieb herrsche, da der Frühling doch gerade erst begonnen hatte.
»Ach, das ist noch gar nichts«, antwortete er. »Warte nur ab, bis sich das Wetter aufheitert und die Seerouten wieder befahren werden, wie viele Schiffe dann vom Rhein hierherkommen.«
Ich lächelte still. Julian wäre erfreut zu sehen, dass sein Wunsch in Erfüllung gegangen war. Ich nahm mir vor, ihm später von den Zeichen neuen Handels und Wohlstands zu berichten, von den beladenen Wagen bei den Lagerhäusern, den aufgereihten Amphoren, Fässern und Kistenstapeln, den Lastkähnen mit den eingerollten Segeln und von den vielen geschäftigen, gut gekleideten Bürgern.
Die Stadtmauern waren allerdings vernachlässigt worden, doch als ich dies dem jungen Britannier gegenüber erwähnte, lachte er höflich und meinte, die Römer hätten von den primitiven Sachsen nichts zu befürchten. Ich schmunzelte über seinen arglosen Mut und schwieg. Solche Worte hatte ich schon einmal gehört.
In der Residenz des Statthalters wurden wir von Alypius, Julians Freund aus Antiochia, empfangen, der erst kürzlich in sein Amt eingesetzt worden war. Er war ein Grieche mittleren Alters mit einem klugen, von Sorgen gezeichneten Gesicht. Ihm übergaben wir Briefe aus Paris und erzählten ihm von den jüngsten Ereignissen, jedoch kurz und knapp, denn für viele Worte war nicht der rechte Augenblick. Als wir geendet hatten, runzelte er die Stirn und sagte: »Das ist zweifellos eine schwierige, unerfreuliche Angelegenheit. Doch ich bin überrascht, euch so bald hier zu sehen, denn erst vor zwei Tagen ist ein Kurier aus Paris eingetroffen, und ich dachte …«
»Ein Kurier?«, unterbrach ich ihn. »Was für einer? Aus Paris ist niemand geschickt worden.«
Alypius blickte mich fragend an. »Wie seltsam. Bist du dir sicher? Der Mann kam vor zwei Tagen und ist Reiter des kaiserlichen Kurierdienstes. Er wollte zu Lupicinus und behauptete, er käme aus Paris, mit einer dringenden Nachricht des Präfekten Florentius.«
»Verzeih, aber das ist unmöglich, denn Florentius befindet sich nicht in Paris. Er ist schon den ganzen Winter fort.«
Alypius’ Gesicht verdüsterte sich. »Nun, dann stecken wir in einer schwierigen Lage. Ich selbst habe den Mann nicht gesehen, sodass ich keinen persönlichen Eindruck geben kann. Aber der Stallmeister sagte, er sei überaus unruhig gewesen, als er erfuhr, dass Lupicinus nicht in London ist. Zunächst habe ich mir nichts dabei gedacht, doch nun erscheint es mir doch recht merkwürdig, da in Paris ja bekannt sein muss, dass Lupicinus London schon vor einiger Zeit verlassen hat.«
»Dürfen wir den Stallmeister persönlich befragen?«, bat Marcellus.
»Aber ja, natürlich.« Er winkte einen Diener heran und befahl ihm, uns zu den Ställen zu bringen. Als wir mit ihm zur Tür gingen, sagte er in vertraulichem Ton: »Ich hoffe, Julian … Ich meine, der Cäsar, oder vielmehr der Augustus … wird nicht glauben …«
»Der Mann hat dich belogen, denn das solltest du nicht erfahren«, sagte ich. »Aber jetzt müssen wir uns beeilen, damit wir diesen Kurier einholen, bevor er bei Lupicinus ankommt.«
Wir gingen nach draußen und über den Hof mit seinem Wasser speienden Neptunbrunnen, wo ich einst als Waise gesessen und überlegt hatte, ob ich Gratianus’ Angebot annehmen sollte, ins Heer einzutreten. »Ja«, sagte der Stallmeister, »ich erinnere mich genau an den Mann.« Er beschrieb sein Aussehen und fügte hinzu: »Er war keiner der gewöhnlichen Kuriere. Die kenne ich alle. Außerdem lehnte er es ab, sich von einem anderen Boten ablösen zu lassen, und behauptete, den Brief persönlich überbringen zu müssen.«
Inzwischen wurden die ersten Lampen angezündet, da es Abend wurde. Wir fragten nach der Route und ähnlichen Dingen, und nachdem wir Anweisung erteilt hatten, uns vor dem Morgengrauen Pferde zu satteln, gingen wir, um uns zu waschen und eine Mahlzeit einzunehmen.
Als wir später in einer Schenke saßen, die wir von früher kannten, sagte ich zu Marcellus: »Vielleicht kommen wir zu spät. Wenn er Lupicinus erreicht, ist das Spiel aus.«
Marcellus nickte. »Aber es könnte sein, dass er nicht weiß, was in dem Brief steht. Dann können wir ihn vielleicht davon abbringen.« Er blickte mir in die Augen und sagte nach kurzem Zögern: »Wenn nicht, werden wir ihn töten müssen.«
»Ja«, sagte ich.
Darüber hatte ich schon nachgedacht.
Beim ersten Morgengrauen brachen wir auf und trieben unsere Pferde, die wir unterwegs wechselten, hart an. Bei einer düsteren Siedlung namens Letocetum holten wir den Kurier ein.
Von Westen her war Regen aufgekommen, und so trafen wir nass und durchgefroren bei der Wechselstation ein. Doch wir hatten einiges zu erledigen. Ich kümmerte mich um die Absprachen mit dem Wirt, während Marcellus sich unter den Stallburschen umhörte.
Bei jeder Station waren wir unserer Beute ein Stück näher gekommen. Wir reisten ohne Eskorte und hatten unsere Rangabzeichen entfernt, da sich niemand gern mit einem Tribun auf eine Plauderei einlässt. Mit einem gemeinen Soldaten will sich dagegen jeder müßige Trinker die Zeit vertreiben, erst recht, wenn der ihm einen Krug Wein spendiert.
Und so erfuhren wir über vielen sauren Bechern, während wir eigentlich hundemüde waren und nur ins Bett wollten, dass unser Mann eine Schwäche hatte: Er besuchte nämlich auf Kosten des Kaisers die Bordelle, die er unterwegs fand. Und da ihn niemand drängte, erlaubte er sich, nach seinen nächtlichen Vergnügungen lange zu schlafen. Dadurch holten wir jeden Tag ein Stück auf. Nachdem er uns eine Weile hartnäckig entwischt war, holten wir ihn endlich in Letocetum ein, da sein Pferd lahmte und kein Ersatztier verfügbar war.
Vom Zimmermädchen hörten wir, dass er gerade nicht in seinem Zimmer war. Wir gingen zu dem kleinen Badehaus nebenan, doch der Diener erklärte, es gebe Schwierigkeiten mit den Rohrleitungen, und das Bad sei deshalb geschlossen. Danach gingen wir die Hauptstraße entlang und schauten in die Schenken und die billigen Speisehäuser, von denen es in Letocetum ziemlich viele gibt. Als wir schon glaubten, wir müssten in jede Hurenkammer spähen, zupfte Marcellus mich am Ärmel und deutete mit dem Kopf auf eine unbeleuchtete Ecke. »Da drüben!«, raunte er.
Beiläufig, als wollte ich unsere Umgebung in Augenschein nehmen, blickte ich in die gewiesene Richtung. Im Halbdunkel saß ein Mann in einem dicken Mantel allein an einem Tisch, vor sich einen Becher und einen Krug.
Wir nahmen unseren Wein und schlenderten über den sägemehlbestreuten Boden zu der Ecke hinüber. »Sei gegrüßt, Freund!«, sagte ich mit breitem Lächeln. »Sind wir uns nicht schon einmal begegnet?«
Der Mann blickte auf und musterte mich misstrauisch. Er war ein bisschen älter als ich und hatte einen schmächtigen Körperbau, schlechte Haut und einen mürrischen, unzufriedenen Gesichtsausdruck. Eine Hand lag auf der groben, fleckigen Tischplatte, mit der anderen hielt er seinen Mantel zusammen, als wäre ihm kalt, obwohl die abgestandene Luft im Raum warm genug war.
Er zuckte die Achseln. »Das bezweifle ich«, erwiderte er und wandte den Blick ab.
Wir setzten uns trotzdem, stellten beherzt unsere Weinbecher zu seinem und lachten wie zwei geistesschwache Gewohnheitstrinker. Ich rief dem Schankburschen zu, uns noch einen Krug zu bringen, während Marcellus über Pferde, die Beschwerlichkeiten des Reisens und die erbärmliche Bewirtung in solch einem tristen, verregneten Außenposten schwatzte.
»Ja, wirklich!«, bekräftigte ich. »Was für ein Ort, um sich aufhalten zu lassen! Wir sind jetzt schon spät dran, und unsere Angelegenheit mit Lupicinus ist dringend.« Ich lachte gut gelaunt. »Aber genug von ernsten Dingen! Da kommt endlich der Wein. Lass uns trinken, mein Freund, und den Abend genießen – sofern das in diesem von den Göttern verlassenen Nest möglich ist.« Ich füllte in großspuriger Manier die Becher wie ein Mann, der seine Vergnügungen ernst nimmt.
»Ich heiße Marcellus«, sagte mein Freund grinsend und streckte die Hand aus. Der Mann betrachtete sie, nahm sie aber nicht.
»Firmus«, sagte er argwöhnisch.
Sein Gesicht war ausgezehrt, grau und pockennarbig, und er hatte dunkle Schatten unter den vorstehenden Augen. Ihm war offenbar bewusst, dass er kein einnehmendes Wesen hatte, und Aufmerksamkeiten von Freunden war er eindeutig nicht gewöhnt.
Marcellus plauderte und lachte in einem fort und trug dick auf, als wäre jeder Augenblick mit diesem Mann ein köstliches Vergnügen. Zuerst glaubte ich, Firmus habe den Haken, den wir nach ihm ausgeworfen hatten, nicht bemerkt, doch dann biss er an. »Was wollt ihr bei Lupicinus?«
Ich hielt inne, holte bedeutungsvoll Luft und sah mich auffällig nach allen Seiten um, bevor ich antwortete. In gedämpftem Tonfall sagte ich: »Wir haben einen Brief des Präfekten Florentius. Er ist eine sehr wichtige Person …« Ich tippte mir an die Nase und nickte. »Aber der Weise ist schweigsam, wie man sagt.«
Ich hob den Krug, um ihm von dem billigen Wein nachzuschenken. Doch er hob die Hand und hielt seinen Becher zu.
Dann beugte er sich vor und flüsterte: »Ich trage ebenfalls einen Brief des Präfekten bei mir.«
»Tatsächlich? Was für eine Überraschung! Dann haben wir mehr gemeinsam als gedacht.«
Da ich nicht zu viel Neugier zeigen wollte, füllte ich meinen Becher und begann mit Marcellus irgendwelchen Unsinn über das Schankmädchen zu reden. So verfuhren wir eine Weile wie zwei Schmierenkomödianten und unterbrachen uns ab und zu, um lüstern zu dem Mädchen zu schielen.
Ganz nach meiner Absicht sagte Marcellus schließlich: »Höre, Drusus, wenn wir sowieso zu Lupicinus gehen, könnten wir Firmus doch den Gefallen tun und seinen Brief mitnehmen. Was meinst du?«
»Warum nicht?«, antwortete ich achselzuckend. »Freunde sollten einander gefällig sein.«
»Das darf ich nicht tun«, sagte Firmus rundheraus in verbissenem Ton. »Mein Befehl lautet, den Brief eigenhändig abzuliefern.«
»Schon gut, wir wollten nur behilflich sein«, sagte Marcellus. Er trank seinen Wein und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Schankmädchen, das zu unserem Glück nichts davon bemerkte, denn es war ein langweiliges Geschöpf, das ein Bad bitter nötig gehabt hätte.
Trotz meiner Bemühungen behielt Firmus seine mürrische Laune bei. Wein zählte offenbar nicht zu seinen Schwächen. Schließlich sah er sich um, als wolle er gehen. Rasch sagte ich zu Marcellus: »Wir sollten jetzt weiterziehen. Die Mädchen warten schon auf uns.«
»Mädchen?«, fragte Firmus, der plötzlich munter wurde.
»Aber ja. Wäre schade, sie sitzen zu lassen.« Marcellus, der sonst nie grob war, unterstrich seine Worte mit einer vulgären Geste, die man häufig bei gemeinen Soldaten sieht. Die passte so wenig zu ihm, dass ich einen Moment lang aus meiner Rolle fiel und ihn anstarrte. Er fing meinen Blick auf und errötete, was er mit einem plötzlichen Hustenanfall überspielte. »Aber du willst dich sicher früh schlafen legen, wo du doch die lange Reise noch vor dir hast, Freund.«
»Erzähl mir von den Mädchen«, sagte Firmus.
Wir dachten uns allerhand Dinge aus, und während wir redeten, heftete er seinen sonst unsteten Blick auf unsere Gesichter, gespannt wie ein Jagdhund, der den Fuchs wittert. Dann wurde er redselig und sagte, er habe schon mehrere Schenken aufgesucht, in denen es Huren gebe, aber die seien nicht nach seinem Geschmack gewesen. Er bevorzuge die jungen, fügte er mit vielsagendem Blick hinzu und leckte sich dabei die Lippen.
»Ja, sicher, was sonst?«, sagte ich. Während unserer langen Verfolgungsjagd von London hatte ich schon von seinen Vorlieben gehört. Ich trank von meinem Wein und hatte plötzlich einen bitteren Geschmack im Mund.
Marcellus kratzte sich am Kinn und tat so, als ob er überlegte. »Nun, dann komm doch mit uns«, sagte er schließlich und schoss mir einen heimlichen Blick zu. Ich verstand. Wir zahlten und gingen.
Der Regen hatte aufgehört. Die Nachtluft war feucht und kalt, und tief hängende Wolken verdeckten die Sterne.
Wir bogen in eine Seitenstraße ein. Nach den dicht an dicht stehenden Häusern folgten größere ummauerte Grundstücke und Kleingehöfte; das Straßenpflaster endete. Firmus verlangsamte seine Schritte. Ich spürte sein Unbehagen, das zeitweilig durch die Aussicht auf die Vergnügungen zurückgedrängt worden war. Er sah sich unruhig um und brummte irgendetwas. Beherztheit ging ihm völlig ab, selbst auf dem Weg ins Hurenhaus.
»Es ist nicht mehr weit«, sagte ich betont, um Marcellus ein Stichwort zu geben.
Zur Bestätigung hielt er an der nächsten Ecke inne und sagte: »Ich glaube, es geht hier entlang. Ja, das ist der Weg, den der Mann uns beschrieben hat.« An einer Scheune bog er in einen Grasweg ein. Wir kamen an einem schäbigen, fensterlosen Gebäude vorbei und durchquerten einen offenen Hof. Irgendwo in der Dunkelheit schlug ein Hund an.
Firmus blieb stehen.
»Wo sind wir hier?«, fragte er gereizt. »Wohin wollt ihr mich führen?«
»Nicht weit«, antwortete Marcellus. »Dahinten ist ein Licht zu sehen. Ja, das ist das Haus, gleich da drüben.«
Ich hatte mich ein, zwei Schritte zurückfallen lassen. Während Marcellus nun Firmus beschwatzte, schlich ich mich von hinten an und griff in meinen Mantel. Vielleicht fasste ein Gott oder ein guter Geist Firmus an der Schulter, denn er fuhr plötzlich zu mir herum. Erschrocken sah er mir in die Augen. In diesem Moment, als wir so nahe voreinander standen, war ihm das Wissen um seinen Tod vom Gesicht abzulesen. Ich zückte mein Messer und stach zu. Er keuchte, dann röchelte er und brach zusammen.
Wir versteckten die Leiche in einem Abfallhaufen in der Nähe und machten uns auf den Rückweg. Lange Zeit sprachen wir kein Wort. Als wir die Straße mit ihren wenigen Lichtern erreichten, packte Marcellus meinen Arm und sagte: »Es gab keine andere Lösung. Das weißt du.«
»Ja, ich weiß«, sagte ich und ging weiter. »Aber dass wir vorgegeben haben, Freunde zu sein, war abscheulich. Es ist, als hätte ich meine Seele beschmutzt.«
»Das geht mir genauso. Aber es war notwendig. Er durfte nicht zu Lupicinus gelangen. Es würde den Tod von Tausenden bedeuten, wenn er gegen Julian marschiert. Wir hatten es in der Hand, wir allein.«
An der Straßenecke blieb ich unter einer Wandfackel stehen und suchte meine Kleidung und die Hände nach Blutspritzern ab. Ich hatte mich an dem nassen Gras neben dem Abfallhaufen gesäubert, so gut es ging, doch es kam mir vor, als klebte noch immer Blut an mir.
»Du hast recht, Marcellus«, sagte ich, als ich fertig war, »und ich würde es wieder genauso machen. Aber den Kampf auf dem Schlachtfeld würde ich jederzeit vorziehen.«
Er pflichtete mir bei und seufzte. Ich wusste, dass auch er die Berührung des Bösen gespürt hatte.
Und es blieb das Problem des Briefes.
Wir hatten den Toten durchsucht, aber nichts gefunden. Deshalb nahmen wir an, er müsse den Brief in seinem Zimmer gelassen haben, und kehrten in den Gasthof zurück. Nun konnten wir schlecht den Wirt wecken und fragen, in welchem Zimmer Firmus nächtigte. Deshalb schlichen wir ums Haus wie Diebe, spähten durch halb geschlossene Fensterläden, probierten Türen und stellten uns dumm und betrunken, wenn jemand aus dem Schlaf hochfuhr.
Endlich entdeckten wir das Zimmer. Dort stand ein brauner Lederranzen, in dem sich ein paar Habseligkeiten befanden. Marcellus schüttete sie auf das Bett und durchwühlte sie: ein Mithras-Amulett, ein kleines, grob gemaltes Porträt auf altem Holz von einer Frau mittleren Alters, eine goldblonde Locke in einer Schnitzdose – aber kein Brief.
Wir zogen das Bettzeug weg und fühlten unter der Matratze, tasteten die Borde ab und suchten nach verborgenen Wandnischen, fanden aber nichts. Inzwischen regten sich schon die Vögel, und das erste Grau eines elenden Morgens zeigte sich in den Fenstern.
Ich blies die Lampe aus. »Komm«, sagte ich, »hier ist er nicht.«
Zurück in unserem Zimmer zerwühlten wir die Laken, damit es aussah, als hätten wir darin geschlafen. Dann setzten wir uns und überlegten, was zu tun war.
Wir hatten die Leiche hastig und bei Dunkelheit versteckt. Nach allem, was wir wussten, mochte die Gasse bei Tage von vielen benutzt werden, und ein vorbeigehender Arbeiter auf dem Weg zu den Feldern könnte den Toten entdecken. Bei all der Aufmerksamkeit und Fragerei, die das mit sich bringen würde, durften wir nicht so lange bleiben. Schon hörte man draußen die Diener des Gasthauses unter dem Vordach gedämpft miteinander reden, während sie ihren morgendlichen Pflichten nachgingen. Deshalb gingen wir in den Stall, nahmen unsere Pferde und ritten weiter nach Westen.
Lupicinus blickte düster auf das Pergament in seiner Hand. Es war der Brief, den wir ihm von Julian überbracht hatten und der ihn nach Paris zurückbeorderte. An seinen Augen sah ich, dass er zu Ende gelesen hatte, doch er schaute nicht auf und sagte auch nichts.
In der Stille hörte ich seinen Atem geräuschvoll durch die Nüstern streichen, ein und aus, wie bei einem ungeduldigen Mann kurz vor einem Wutausbruch. Warum schwieg er? Was war verkehrt? Ich wartete. Ich wagte nicht, den Kopf zu Marcellus zu drehen.
In Chester, wo Lupicinus bei seiner gemächlichen Rückkehr nach Süden Halt gemacht hatte, waren wir endlich zu ihm gelangt. Nun, wo ich vor ihm stand, musste ich wieder daran denken, auf wie vielen Wegen ihn ein Brief Florentius’ oder ein Schreiben des Kaisers erreicht haben konnte, zum Beispiel per Schiff bis nach Nordbritannien oder über Land von Westen her, und ich fragte mich, was er vielleicht schon wusste, das ihm den wahren Charakter unseres Auftrags verraten könnte.
Ich merkte, wie ich unruhig die Fäuste ballte, und zwang mich, die Hände still zu halten, während ich jeden Augenblick damit rechnete, dass er uns verhaften ließ.
In der Ecke saß ein angespannter Adjutant an einem Schreibpult, schob nutzlos Papiere hin und her und lauschte aufmerksam. Aus den Augenwinkeln sah ich Marcellus in aufrechter Haltung stehen wie auf dem Exerzierplatz. Ich kam zu dem Schluss, dass ich etwas sagen sollte; das schien mir erträglicher als das Schweigen. Doch als ich Luft holte, klatschte Lupicinus den Brief auf den Klapptisch und sah mir in die Augen, ohne eine Miene zu verziehen.
»Warum hat der Cäsar gerade dich geschickt?«, fragte er kühl.
Meine Gedanken überschlugen sich. »Ich hatte hier persönliche Angelegenheiten zu regeln, denn Britannien ist meine Heimat, und habe einen Freund als Begleiter mitgenommen.«
Während ich antwortete, blieb sein Blick auf mein Gesicht gerichtet.
»Ist der Präfekt Florentius in Paris?«, wollte er dann wissen.
Er fragte, um mich zu prüfen, das spürte ich. Ich roch meinen Schweiß. Es war eine Weile her, dass ich Gelegenheit zum Baden gehabt hatte. »Er ist in Vienne«, antwortete ich.
»Vienne«, wiederholte Lupicinus mit bedächtigem Nicken. Ich wusste nicht, ob er schon gehört hatte, dass der Präfekt aus Vienne geflohen war. Wenn ja, wusste er auch das Übrige.
Einen Moment lang blieb er still. Dann nahm er den Brief wieder zur Hand, und mir schien, als liege ein gewisser Abscheu in seinen angespannten Zügen.
»Weißt du, was er geschrieben hat?«, fragte er langsam und misstrauisch.
»Nur, dass der Cäsar dich bittet, nach Paris zurückzukehren.«
»Ja. Dieser Brief überrascht mich.«
»Inwiefern?«
»Meine Siege finden keine Erwähnung. Warum geht er nicht darauf ein?« Er blickte mich an, dieser eitle Ahnungslose. Ich hätte beinahe gelacht.
»Oh!«, rief ich aus. »Davon wussten wir gar nichts. Eine ganze Weile schon sind keine Nachrichten mehr zu uns gelangt. Ich hoffe aber, dass du Julian bald selbst davon berichten kannst. Das wird ein großer Triumph für dich werden.« Also hat er diese Pikten und Skoten zurückgeschlagen, dachte ich im Stillen. Seinem Tonfall nach hätte man meinen können, er habe die mächtigen Heere eines persischen Großkönigs mit einer Hand zerquetscht, und sein Name stünde nun am Himmel zu lesen.
Doch wie jeder wusste, war Lupicinus kein Mann, der seine Errungenschaften herunterspielt.
Er musterte mich forschend. Zweifellos hatte er in seinem Leben schon reichlich verlogene Schmeicheleien gehört. Dann aber sagte er: »Ja, nun, um die Wahrheit zu sagen, ich hatte erwartet, von Florentius zu hören. Doch du bringst kein Wort von ihm?«
Ich verneinte. Er atmete scharf ein; dann schritt er betont aufrecht, in straffer Haltung zum Fenster, um in den Hof zu schauen.
»Vor einem halben Monat erhielt ich einen Brief des Präfekten. Er hat nur wenig mitgeteilt, deutete jedoch an, dass er Schwierigkeiten fürchtet. Weißt du, was er gemeint haben könnte? Nein? Nun, ich auch nicht. Er schrieb nur, er werde mir bald mehr darüber erzählen. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
Währenddessen hatte er uns den Rücken zugewandt; jetzt aber drehte er sich abrupt um, als hoffte er, mich bei einer verräterischen Miene zu ertappen. Ich blickte ihn ausdruckslos an.
»Aber du sagst, in Gallien ist alles in Ordnung?«
»Einigermaßen. Es gibt Gerüchte, dass die Germanen am Rhein sich wieder zum Krieg rüsten.«
»Ach, das ist doch nichts Neues. Es muss etwas Schwerwiegenderes sein, was meine Anwesenheit erfordert.«
»Ja, das vermute ich auch.«
Marcellus fragte hilfsbereit: »Sollen wir einen Brief für den Präfekten mitnehmen?«
»Wie bitte? Ach nein, das ist nicht nötig. Soll der Präfekt sich an mich wenden, wenn er es wünscht. Julian wird mir schon sagen, worum es eigentlich geht.«
Ich wagte wieder zu atmen.
Marcellus, der den Mann richtig einschätzte, fragte nach dem Feldzug und erklärte, er habe in der kurzen Zeit, die wir im Lager seien, schon viel davon rühmen hören. Zum ersten Mal hellte sich Lupicinus’ Gesicht auf. »Hast du anderes erwartet? Ich bin noch nie besiegt worden, und nach meinen vorherigen Taten war das ein Kinderspiel. Erst vergangenes Jahr in Syrien …«
Und dann war er nicht mehr zu bremsen.
Ich schmunzelte innerlich und folgte Marcellus’ Beispiel, der die Schmeichelei weitertrieb. Eine halbe Stunde lang hörte ich hundemüde zu, während Lupicinus mit seinen Erfolgen gegen die Skoten und Pikten prahlte. Doch ich ließ mich mit großer Erleichterung von ihm langweilen, da ich nun wusste, dass wir den Zweck unseres Auftrags erfüllt hatten.
Als Marcellus und ich später zu unserem Quartier gingen, pfiff ich durch die Zähne und sagte: »Zwei Tage länger, und Firmus hätte seinen Brief abgeliefert.«
Marcellus setzte zu einer Erwiderung an, zuckte aber zusammen wie ein scheuendes Pferd, weil ein Offizier quer über den Platz einen Soldaten anbrüllte.
Marcellus blickte mich kopfschüttelnd an. »Ich glaube, ich brauche Schlaf«, sagte er. Und dann: »Ich frage mich, was Florentius wusste. Es muss in diesem zweiten Brief gestanden haben.«
Ich nickte und dachte an den Boten, der von meiner Hand gestorben war. Doch ich wollte nicht darüber sprechen. Darum sagte ich: »Lupicinus hegt offenbar wenig Sympathie für den Präfekten. Wäre es anders, hätte er ihm mehr Beachtung geschenkt.«
»Er kann ihn nicht ausstehen. Und weißt du auch, warum?«
»Nein.«
»Er hält ihn für überheblich.«
Wir lachten lauthals und zum ersten Mal seit vielen Tagen.
»Trotzdem werde ich froh sein, wenn wir von hier fort sind«, sagte ich schließlich, »je eher, desto besser.«
Doch wir sollten Lupicinus noch nicht loswerden.
Er war ein Mann, der sich sofort und voller Energie ans Werk machte, wenn er sich einmal für etwas entschieden hatte. Am nächsten Morgen klopfte sein Diener an unsere Tür. Der Heermeister wolle mit uns nach Süden reisen, erfuhren wir; wir sollten uns beeilen, denn er wolle früh aufbrechen.
»Ja, selbstverständlich«, sagte ich.
Marcellus, der schon halb angezogen war, unterdrückte ein Stöhnen.
Kurz darauf machten wir uns mit Lupicinus und einer Eskorte auf den Weg. Seine Legionen – die Heruler und Bataver – würden entsprechend ihrem Tempo nachkommen. Er nahm nicht einmal seine teure Sammlung silberner Teller mit, sondern wollte sie sich nachsenden lassen.
In Letocetum ging er ins Badehaus, das inzwischen wieder geöffnet hatte und von tief hängendem Rauch umgeben war, der in der feuchten Luft klebte. Danach zog er sich in seine Räume zurück und sagte, er wünsche allein zu speisen. Er überließ es Marcellus, für alles zu sorgen – und das war gut so, denn der Wirt erkannte uns und erzählte aufgeregt, dass der Gast, nach dem wir gefragt hatten, am Tag nach unserer Abreise ermordet aufgefunden worden sei. Wir bekundeten angemessenes Entsetzen und kamen rasch auf etwas anderes zu sprechen. Da der Wirt unsere Rangabzeichen sah, die wir zuvor verborgen hatten, verfolgte er das Thema nicht weiter.
Die Reise nach Süden zerrte an den Nerven. Jedes Mal, wenn sich auf der langen, geraden Straße ein Reiter näherte, zitterte ich innerlich, bis eindeutig zu erkennen war, dass dort kein kaiserlicher Bote mit einem Brief von Florentius kam. Marcellus und ich hatten schon beschlossen, sollte es zum Schlimmsten kommen, Lupicinus zu erstechen, ehe er einen Befehl aussprechen konnte. Das wäre möglich, da wir an seiner Seite ritten, während die Eskorte uns in ein paar Schritten Abstand folgte. Aber dann wäre unser Leben vorbei. Wir wären zwei gegen zehn; sie würden uns töten.
Mit diesen heimlichen Ängsten und dem ständigen Gedanken im Kopf, dass der Tod mich hinter der nächsten Hügelkuppe erwarten konnte, musste ich zuhören, nicken und lächeln, während Lupicinus über sich selbst redete, ein Thema, dessen er nicht müde wurde.
Dem Kutter, der uns von Gallien hergebracht hatte, hatte ich befohlen, die Themse hinauf nach London zu segeln. Er lag wartend am Kai. Lupicinus hatten wir gesagt, dass wir in Britannien zu bleiben gedachten, um private Geschäfte zu erledigen. So standen wir schließlich am Ufer, um Lupicinus zu verabschieden. Als das schnittige schwarze Schiff bei ablaufendem Wasser ablegte – Lupicinus stand in erhabener Pose am Bug –, wagte ich kaum, Marcellus anzusehen, aus Furcht, die Erleichterung könnte sich auf meinem Gesicht abmalen.
Erst nachdem der Kapitän den Ruderern seine Befehle zurief und der Kutter sich der Brücke näherte, stieß ich einen tiefen Seufzer aus und wandte mich Marcellus zu.
»Ich frage mich, ob er tatsächlich gegen Julian ins Feld gezogen wäre.«
Marcellus blickte dem Schiff hinterher. Die Riemen, die weiß und rot gegen den schwarzen Rumpf abstachen, hoben und senkten sich in präzisem Takt. Die Passanten auf der Brücke blieben am Geländer stehen und gafften.
»Vermutlich«, meinte er stirnrunzelnd. »Er bringt dem Westen keine Loyalität entgegen. Er ist durch und durch Constantius’ Geschöpf. Ich glaube aber nicht, dass die Männer ihm gefolgt wären.«
Draußen auf dem Fluss hisste der Kutter die Segel; das große rote blähte sich im Wind. Lupicinus stand in der strammen soldatischen Haltung, die er gern zur Schau trug, an der Reling, den Blick nach vorn gerichtet, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Ich war froh, dass er uns nicht gewinkt oder ein Lebewohl zugerufen hatte. Es war zu viel Täuschung im Spiel gewesen, und in Boulogne erwartete ihn die Verhaftung, wie ich wusste.
An jenem Abend speisten wir mit Alypius in seiner Residenz, unsere erste reichhaltige Mahlzeit seit vielen Tagen. Dabei tranken wir guten Wein aus Bordeaux und erzählten ihm, dass wir zu Marcellus’ Gut hinausreiten wollten.
Nachdem die Tische abgeräumt und die Diener hinausgeschickt worden waren, beugte Alypius sich auf seiner Liege vor und sagte: »Da wir nun allein sind, erzählt mir doch, wie Julian seine Akklamation zustande gebracht hat.«
»Er hat es gar nicht gern getan«, stellte ich richtig. »Er war genauso überrascht wie wir.« Marcellus und ich berichteten von den Vorfällen, die zu jener Nacht in Paris geführt hatten, als die Soldaten den Palast stürmten.
Am Ende sagte Alypius: »Dann ist Julian noch so, wie ich ihn in Erinnerung habe. Ich dachte schon, die Zeit hätte ihn verändert. Er war nie an Macht interessiert, müsst ihr wissen. Er wollte immer nur in Athen bei seinen Philosophenfreunden bleiben.«
»Mir scheint, er sehnt sich noch immer nach Athen zurück. Er würde sogar dafür kämpfen. Doch er hat sich anders entschieden.« Ich erzählte ihm von Eutherius’ diplomatischer Mission bei Constantius und wie sehr Julian auf eine Beilegung des Konflikts hoffte.
Alypius schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, dass er zuhört.«
»Vielleicht nicht«, pflichtete ich ihm bei und dachte an Eutherius’ Bemerkung gegenüber Julian, »es sei denn, er ist dazu gezwungen. Es heißt, dass er niemandem traut.«
»So ist es. Das ist wohl der Nachteil, wenn man höchste Macht ausübt, einen mittelmäßigen Verstand hat und zu lange von zu vielen Schmeichlern und Betrügern umgeben war.«
Marcellus fragte ihn, ob er glaube, dass es zum Krieg kommen werde.
Alypius überlegte ein paar Augenblicke, den Weinpokal in der Hand.
»Ich werde euch sagen, was ich glaube«, entgegnete er schließlich und stellte den Pokal neben sich auf das dreibeinige Tischchen. »Constantius wird Julian zermalmen, wenn er es für möglich hält, und seine Ratgeber werden ihn dazu ermutigen, besonders dieser unausstehliche Oberkämmerer. Doch wenn Julian sich in eine stärkere Position bringen kann, könnte das Glück sich zu seinen Gunsten neigen.«
Später beim Nachtisch, einem Früchtekuchen, der mit mauretanischen Feigen in süßem Wein serviert wurde, erzählte Alypius, wie er Julian zum ersten Mal begegnet war, in einem Sommer in Nikomedia, wo er seine Philosophenfreunde besuchte. Alypius saß damals unter den ausladenden Zweigen einer Platane vor dem Tempel der Demeter und plauderte mit seinen Freunden, als ihm ein stiller, gleichmütig wirkender Knabe auffiel, der in der Kolonnade stand. Er hätte keinen weiteren Gedanken an ihn verschwendet, hätte der Knabe sich nicht kurz darauf genähert und sich auf eine Stufe gesetzt, wo er das Gespräch verfolgen konnte.
»Als ich ihn dort sah, forderte ich ihn auf, zu uns zu kommen und zuzuhören; wir hätten nichts zu verheimlichen. Und das tat er dann auch, bis sein Erzieher, ein Christenpriester, aufgeregt herbeigelaufen kam und ihn scheltend wegführte.«
Er dachte lächelnd daran zurück und fuhr fort: »Jahre später trafen wir uns wieder, und ich rief ihm unsere erste Begegnung ins Gedächtnis. Darüber wurden wir Freunde. Damals war er wie ein Hungerleider, der durch glückliche Umstände an den Tisch eines Reichen geraten ist, so groß war sein Appetit auf Wissen … So vieles hatten sie ihm vorenthalten«, fügte er kopfschüttelnd hinzu.
Ich stellte fest, dass ich Alypius mochte. Nach seiner Heimatstadt Antiochia gefragt, beschrieb er mit Wehmut in den Augen die schattigen Lorbeeralleen, die Weinterrassen an den Berghängen, die Bibliotheken und Badehäuser und das ständige Vergnügen gebildeter Gesellschaft.
»Wie gern würde ich die Stadt eines Tages wiedersehen«, sagte er.
»Dann solltest du dich beeilen, denn die Christen werden bald alle Freuden beseitigen, die Antiochia zu bieten hat: die Universität, die Bibliotheken, das Theater. Das alles verabscheuen sie. Und jedes Jahr werden sie mehr und die guten Männer weniger. Sie werden erst zufrieden sein, wenn Antiochia so trostlos ist wie eine Maultierstation in der Wüste.«
So wandte sich unser Gespräch den Christen zu. Marcellus erzählte, wir hätten die neue Kathedrale des Bischofs gesehen, oben auf dem Hügel des alten Tempels der Diana, den er hatte abreißen lassen. »Lauter nackte Ziegel und Baugerüste. Ich hatte erwartet, dass sie inzwischen fertig ist; er baut lange genug daran.«
»Ach, der Bischof«, sagte Alypius mit einer müden Geste. »Er hat Glück, dass sein hässlicher Bau überhaupt steht. Hätte ich meine Garde nicht eingreifen lassen, der Pöbel hätte ihn geschleift.«
»Dabei hat er immer behauptet, die gemeinen Leute seien seine größten Freunde«, bemerkte ich trocken.
»Das behaupten solche Männer immer. Doch die Unterstützung des Pöbels ist so unberechenbar wie die Liebe einer Kurtisane – und genauso käuflich. Das hat er selbst feststellen müssen, nachdem ihm die Mittel ausgegangen sind. Nun geben sie ihm die Schuld an ihrem Elend. Er hat seiner Sache sehr geschadet.«
»Der Pöbel sollte sich selbst die Schuld geben«, sagte Marcellus bitter.
»Ganz recht. Doch ist es nicht die Art der gemeinen Leute, die eigene Torheit einzugestehen. Stattdessen behaupten sie, der Bischof habe sie übers Ohr gehauen. Als er sie nicht mehr beköstigen konnte, gingen sie zu den Ratsherren, die sie einst aus der Stadt vertrieben hatten, und baten um ihre Rückkehr. Nun schmollt der Bischof in seinem unvollendeten Palast und wartet auf das Ende der Welt. In der Zwischenzeit beten die Leute still die alten Götter an, und die Provinz blüht auf.«
Er aß die letzte Feige aus dem Schälchen, stellte es ab und klingelte nach dem Diener. »So sind nun mal die Dummen; sie ändern sich nicht. Marcellus, dein Becher ist leer.«
Am nächsten Morgen, es war ein klarer, heller Frühlingstag, ritten wir zu Marcellus’ Villa auf dem Land westlich von London und freuten uns, nach so widerwärtiger Arbeit wieder allein zu sein. Ringsumher blühten die Wiesen; ein frischer, sauberer Wind wehte uns ins Gesicht.
Bis wir die alte Umfassungsmauer erreichten, versank die Sonne in einer leuchtend roten Wolkenbank. Marcellus war schon vor einer Weile still geworden, und ich wusste, dass er Vermutungen anstellte, was er wohl vorfinden würde.
Am Grenzstein des Familienbesitzes zügelte er sein Pferd und schaute düster auf die überwucherten Felder.
»Niemand bestellt das Land«, sagte er.
Ich zeigte auf die Furchen in dem von Brombeeren gesäumten Weg. »Aber hier sind Wagen entlanggefahren.«
Er nickte.
Bevor wir von London aufgebrochen waren, hatten wir Alypius gefragt, ob er etwas über Marcellus’ Familie wisse. Doch er war noch nicht sehr lange in London und konnte keine Auskunft geben. In dem Durcheinander, das der Notar Paulus und der Bischof verursacht hatten, war sogar das Archiv der Provinz geplündert worden, sodass die Eigentumsverhältnisse unklar waren, und viele Menschen waren unter dem Schutz tyrannischer Gesetze beraubt und getötet worden.
Als wir nun über die brachliegenden Felder schauten, dachte ich an mein verwüstetes Vaterhaus und stellte mir allerhand schreckliche Dinge vor. Doch es hatte keinen Sinn, Marcellus mit solchen Gedanken zu belasten. Wir sollten es bald genug mit eigenen Augen sehen.
Wir ritten weiter. Auf der nächsten Anhöhe hielten wir und stiegen ab, um über das grüne Tal zu spähen. Ich stellte mich neben Marcellus, beschirmte die Augen gegen den glühenden Sonnenuntergang und rechnete beinahe damit, rußgeschwärzte Mauern zu sehen, wo einst das prächtige Haus gestanden hatte. Doch es sah noch genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Goldgelb und ockerfarben leuchtete es durch die Ulmen und Pappeln. Hinter der Umfassungsmauer blühten die Obstbäume, neben dem Haus die Mandelbäume.
»Sieh mal!« Marcellus streckte den Arm aus. Zwischen den Nebengebäuden bewegten sich zwei unscharfe Silhouetten im Gegenlicht.
Wir trieben unsere Pferde an und ritten ins Tal hinunter. Kurz blieben wir bei der Gruft stehen, wo Marcellus’ Großvater begraben lag. Auch sie sah vernachlässigt aus: überall hohes Gras und dichter Efeu. Doch das Mauerwerk war unversehrt. Ich hatte befürchtet, die Gruft geschändet und Aquinus’ Gebeine verstreut vorzufinden.
Das schwere Eichentor in der Umfassungsmauer stand offen, aber im Hof war niemand. Wir gingen den Weg entlang und führten die Pferde am Zügel. Die ordentlichen, streng gegliederten Gärten waren verschwunden. Der Boden war umgegraben, und zwischen den schönen ornamentalen Hecken waren Zwiebeln, Bohnen und Pastinaken gepflanzt wie im Küchengarten eines Bauern.
Beim Anblick dieser Zeichen des Niedergangs machte Marcellus ein düsteres Gesicht. Er drehte sich nach allen Seiten und rief. Es kam keine Antwort. Wir gingen weiter. Doch dann hielt er inne. »Horch, Drusus! Was für ein Geräusch ist das?«
Ich lauschte. Jenseits der Mauer knackte es in den hohen Zweigen der Pappeln. Dann hörte ich gedämpfte Klettergeräusche vom Stall her. Ich griff zum Schwert und spähte an dem weiß getünchten langen Bau mit den schattigen Torbögen entlang. Dann, so plötzlich, dass ich erschrak, stieß Marcellus einen Schrei aus und wollte loslaufen. »Ufa!«, rief er, als sein grauer Wolfshund durch die Gemüsebeete angesprungen kam.
Ich riss Marcellus am Arm zurück, denn ich hatte dunkle Gestalten in den Stalleingängen wahrgenommen.
»Wer sind diese Leute?«, fragte ich. Mehrere Männer in schlichten braunen Tuniken traten nacheinander ins Abendlicht hinaus. Unter ihnen sah ich den alten Tyronius und andere, die ich von früher kannte.
»Marcellus? Bist du das?«, fragte der alte Mann und blinzelte gegen die Sonne. »Wir haben euch für Soldaten des Kaisers gehalten.« Dann umringten sie uns – Männer, die Marcellus seit seiner Geburt kannten –, klopften uns auf die Schulter und lachten vor Freude.
Bis Marcellus plötzlich aufblickte und schlagartig ernst wurde. Ich schaute in seine Blickrichtung.
Jenseits der verdorbenen Gärten, auf dem Absatz der weit geschwungenen Steintreppe vor dem Haus, stand eine Frau abwartend im tiefen Schatten unter dem Portikus. Es war seine Mutter.
»Tertius, behalte Ufa hier«, sagte Marcellus zu einem der jungen Knechte. Und dann zu mir: »Ich hätte es mir denken können. Sie hat gewartet.«
»Geh zu ihr. Ich bleibe hier«, bot ich an.
»Nein, Drusus, komm mit. Du gehörst zu mir.«
Ich holte tief Luft und ging an seiner Seite.
Der Brunnen mit den Bronzedelfinen vor dem Haus war ohne Wasser. Das runde Becken, wo Marcellus und ich einst nebeneinander auf dem breiten Marmorrand gelegen und den Nachthimmel betrachtet hatten, wobei wir einander näher gekommen waren, war halb leer. Totes Laub schwamm auf dem brackigen Wasser. Marcellus’ Mutter wartete unbewegt, bis wir die Stufen hinaufgestiegen waren. Dann erst drehte sie den Kopf.
Ihr langes Kleid wurde an der Schulter von einer alten goldenen Brosche gehalten, die das Licht des Sonnenuntergangs einfing. Ihr Gesicht war kaum gealtert. Doch ihre feinen Züge schienen eine neue Macht zu besitzen, und ich spürte eine Veränderung in ihr.
»Du bist also gekommen«, stellte sie kühl fest, als Marcellus vor ihr stand. Meine Anwesenheit nahm sie mit einem Nicken zur Kenntnis. Sie war keine Frau, die ihre Empfindungen zur Schau stellte.
»Ja, Mutter. Wie angekündigt.« Marcellus hatte ihr von Paris geschrieben. Ich wusste auch, dass er keine Antwort erhalten hatte, obwohl er kein Wort darüber verloren hatte. »Was ist hier passiert?«
Sie trat an die Steinbalustrade und legte die Hand darauf.
»Nachdem du verhaftet worden warst«, sagte sie und blickte über den Hof hinweg, »kamen Männer und vertrieben unsere Leute. Wir haben uns mit denen beholfen, die uns geblieben waren – Tyronius, diesen Knaben und den Frauen. Die Bewirtschaftung ist sehr geschrumpft, doch wir haben überlebt.«
»Was für Männer?«, fragte Marcellus mit drängender Stimme.
Sie zuckte die Achseln, als wäre es unwichtig.
»Namenlose. Ein Haufen gekaufter Rohlinge, Feiglinge allesamt. Du weißt, wie so etwas gemacht wird. Der Bischof dachte, er könne sich bedienen, nachdem du fort und mein Vater tot war. Er schickte einen seiner Handlanger, den Diakon Faustus. Doch er hat nicht bedacht, wessen Tochter ich bin.«
»Was hast du getan?«
»Ich habe sie weggeschickt«, antwortete sie schlicht. »Ich sagte ihnen, dieses Land gehöre seit undenklichen Zeiten uns, und Generationen unserer Familie hätten es bebaut. Deshalb sei ich nicht willens, unser Erbe dem Sohn eines belgischen Badehausdieners zu überlassen, der glaubt, Autorität zu besitzen, nur weil er ein Amt innehat. Das Gut bleibe in der Familie, oder sie müssten mich auf der Schwelle meines Hauses ermorden.«
Kurz fing Marcellus meinen Blick auf. Ich schaute weg und blieb ernst. Lächeln wäre nicht angebracht gewesen. Ja, dachte ich, sie ist wahrhaftig die Tochter ihres Vaters. Ich sah, wie sehr der Bischof sich in ihr getäuscht hatte. Eine Frau von zarter Gestalt, aber unnachgiebigem Wesen.
»Wir waren bei Alypius, dem neuen Statthalter«, sagte Marcellus. »Er sagte, der Bischof habe stark an Einfluss verloren.«
»Er ist ein gebrochener Mann. Ohne seine bezahlten Beifallklatscher ist er nichts, und die haben ihn verlassen. Es geht das Gerücht, dass er von Britannien wegziehen und nach Alexandria gehen möchte, wo seine Freunde schon wieder über eines ihrer Dogmen streiten. Und einer metzelt den anderen nieder, ist das zu fassen? Nun, soll er gehen; wir brauchen ihn hier nicht.«
Sie drehte sich zum Haus um und ging langsam auf die hohe Flügeltür zu. Drinnen zündete ein Hausmädchen die Lampen an.
»Und wo sind die Feldknechte?«, fragte Marcellus.
»Sie kommen nach und nach zurück, sofern sie es noch können. Dies ist ihr Heim und das ihrer Väter. Bald werden wir wieder in der Lage sein, die Felder zu pflügen.«
»Ich wusste gar nicht, dass du so viel von der Landwirtschaft verstehst«, sagte Marcellus und lächelte sie zum ersten Mal an.
»Es gibt vieles, was du nicht weißt, Marcellus. Aber nun kommt ins Haus, ihr zwei.« Und zu dem Hausmädchen gewandt: »Wenn du damit fertig bist, Livia, darfst du das Speisezimmer herrichten. Wir werden heute Abend zu dritt sein. Sag das dem Koch.«
Wir aßen ein einfaches bäuerliches Gericht aus Bohnen und Ziegenfleisch von alten Silbertellern. Die Zimmer waren nie üppig möbliert gewesen, da Aquinus feine, gut gearbeitete Schlichtheit vorgezogen hatte. Die kleinen Bronzestatuen fehlten; die Christen hatten sie bei der Plünderung mitgenommen. Aber die Intarsientische waren noch da, ebenso die alten Liegen mit den verblassten Bezügen.
»Wir sind auf weniges beschränkt«, sagte Marcellus’ Mutter, als sie meinen Blick bemerkte.
»Das tut mir leid.«
»Nicht doch. Dazu besteht kein Grund. Wir sind nicht Sklaven unserer Besitztümer, und es wird uns bald wieder besser gehen.«
Später fragte Marcellus, ob sie seinen Brief aus Paris erhalten habe. »Ja«, antwortete sie nur. Doch als wir die Mahlzeit beendet hatten, bat sie ihn, die Lampe zu nehmen, und ging mit uns durch den ungepflegten Gartenhof zu Aquinus’ Bibliothek.
Die Tür war angelehnt, die Angeln verrostet, sodass sie sich kaum bewegen ließ. Die alten Borde rochen nach Schimmel. Unter dem zerbrochenen Fenster, wo einst das Schreibpult stand, hatte sich eine Pfütze gebildet.
»Dieses Zimmer wollte ich so lassen, wie es war«, sagte sie, als Marcellus die Lampe hochhielt. »Früher habe ich es verabscheut, weil es mir deinen Großvater gestohlen hat. Aber nun ist er tot, und ich habe nur noch das, was er geschaffen hat. Hier kann ich mich seiner erinnern.«
Marcellus stellte die Lampe ab und schlenderte durchs Halbdunkel. In der Ecke neben einem Bücherbord hob er ein Buch auf. Die Plünderer hatten es zerrissen und achtlos zu Boden geworfen. Es zerfiel ihm in den Händen. Einen Moment lang hielt er inne, dann wandte er sich seiner Mutter zu. »Ich kann dich so nicht zurücklassen.«
»Doch, das kannst du«, widersprach sie. »Ich habe mich zu lange vor der Welt versteckt, und schau, was es mir eingebracht hat. Nein, Marcellus, geh zurück nach Gallien und zu Julian und tu etwas Rechtes. Das hätte dein Großvater auch getan. Das Haus kann ich allein bewältigen.«
Sie ging an den leeren Borden entlang und blieb am Fenster stehen. Dann drehte sie sich um.
In demselben entschlossenen Tonfall sagte sie: »Dies wird immer dein Zuhause sein … ein Zuhause für euch beide.«
Das Licht flackerte und beschien ihr Gesicht, und ich bemerkte erschrocken, dass sie mir in die Augen schaute. Kurz hielt sie meinen Blick fest. Als sie sah, dass ich begriffen hatte, nickte sie und wandte sich ab.
Ich schluckte. Weitere Überraschungen hatte ich nicht von ihr erwartet. Doch jetzt war mir, als wollte mein Herz zerspringen, und plötzlich hatte ich Tränen in den Augen. Das war ihr Friedensangebot; ich wusste, welche Überwindung es sie gekostet hatte. Endlich, nach vielen Jahren und schmerzhaften Veränderungen, war ich akzeptiert.
Es blieb noch eine weitere Aufgabe.
Bevor wir uns verabschiedeten, hatte Marcellus’ Mutter gesagt, das Haus in London sei vermietet worden, da sie es selbst nicht benötigte. Aber die Miete sei lange nicht gezahlt worden, und der Agent antworte nicht auf ihre Forderungen.
»Ich werde mich darum kümmern«, versprach Marcellus.
Wieder in London nahmen wir die vertraute Straße westlich des Forums, die ins Viertel am Walbrook führt und die ich als Jüngling so oft entlangspaziert war, um Marcellus oder seinen Großvater zu besuchen. Nach einer Weile gelangten wir zu dem vornehmen alten Haus mit seiner schweren Eichentür und den rosa getünchten Mauern.
Marcellus klopfte an und wartete. Eine Zeit lang rührte sich nichts; dann erklangen Schritte. Der Riegel wurde beiseitegeschoben, und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit.
»Ja?«, fragte ein misstrauischer, schwarzhaariger Diener.
»Ich möchte mit deinem Herrn sprechen«, sagte Marcellus.
»Er ist noch nicht aufgestanden. Komm später wieder.«
Er wollte die Tür zuschlagen, aber Marcellus hatte bereits den Fuß dazwischengeschoben.
Das wutverzerrte Gesicht des Dieners erschien im Türspalt.
»Dann geh ihn wecken«, sagte Marcellus bedächtig und drückte mit der flachen Hand die Tür auf. »Wir werden solange drinnen warten.«
Noch ehe wir in den Innenhof mit seinen Kräutertöpfen und geriefelten Säulen gelangten, hörten wir aus dem oberen Stock einen Mann rufen: »Lollius! Lollius! Wer war da an der Tür? Wo bist du, verflucht noch eins?«
Der Diener, der entschieden hatte, wo die größere Gefahr lag, eilte davon. Wir standen wartend da und wurden Zeuge eines Austauschs hastig geflüsterter Worte, denen ungeduldiges Brummen folgte. Schließlich hörten wir nackte Füße auf der Treppe.
Ein hagerer, zermürbt aussehender Mann kam zum Vorschein, der seinen Umhang vor dem Körper zuhielt. Er war verschlafen, seine Haare fettig und zerzaust. Er begann eine lautstarke, wütende Tirade. Doch als er mich sah, stockte er.
Auch ich starrte ihn an, denn ich kannte ihn. Es war Faustus, der Diakon des Bischofs.
Sein hageres Gesicht erbleichte. Er straffte die Schultern, doch in seiner Bestürzung vergaß er, seinen Umhang zuzuhalten. Der öffnete sich und enthüllte einen weißen, ausgezehrten Körper. Hastig raffte Faustus die Säume zusammen, doch der würdevolle Auftritt war verdorben.
Ganz offensichtlich wusste er, wer wir waren. »Das Haus gehört jetzt mir!«, rief er. »Es ist Eigentum der Kirche.«
Marcellus musterte ihn mit aristokratischer Verachtung.
Der Diakon jedoch kannte keine Scham. Er redete weiter, dreist bis zuletzt. »Hast du das nicht gewusst? Nun, das ist verzeihlich; schließlich bist du fort gewesen.« Er drehte den Kopf und rief nach oben: »Lollius! Geh und bring mir die Urkunde aus meinem Arbeitszimmer.«
Ehe er sich uns wieder zuwandte, packte Marcellus ihn an Mantel und Haaren und drängte ihn zur Haustür und auf die Straße.
Ich hörte einen spitzen Schrei und einen dumpfen Aufprall, dann schlug die Tür zu. Marcellus kam allein zurück und wischte sich die Hände ab.
»Lollius«, sagte er zu dem ängstlich gaffenden Sklaven, »nimm die Sachen deines Herrn und wirf sie in die Gosse. Ihn selbst wirst du auch dort finden.«
Damit nahm er ihm die Urkunde aus der Hand und zerriss sie.