40493.fb2 Wir sind nur Menschen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 13

Wir sind nur Menschen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 13

Kapitel 13

In Zapuare traf ein kleines Paket mit zehn Ampullen ein.

Ein Postreiter hatte es von Villavicencio, dem Umschlagplatz für die Post des Distriktes Meta, gebracht. Dr. Cartogeno, an den es adressiert war, nahm es zögernd in Empfang. An den Marken sah er, daß es aus Deutschland kam. Der Absender fehlte.

Kopfschüttelnd ging er mit dem Päckchen ins Haus, setzte sich ans Fenster und schnitt mit einem Skalpell die versiegelten Bindfäden durch. Dann hob er den Deckel ab. Voll Staunen entdeckte er unter einem Pergamentpapier als Deckblatt eine Watte-Lage, in ihr ruhten zehn kleine, mit Wachs verschlossene Ampullen, die mit einer milchigen Flüssigkeit gefüllt waren.

Peter Perthes, der an einem selbstkonstruierten Experimentiertisch saß, lachte zu dem Freund hinüber.»Na, was schreibt die Kleine?«rief er fröhlich.»Ich wußte ja gar nicht, daß du irgendwo eine Flamme sitzen hast!«

Dr. Cartogeno stand auf und trat heran. Er schob Peter das Päckchen zu und setzte sich mit einem Schwung auf die Tischplatte.»Was hältst du davon?«fragte er.

Peter betrachtete verwundert die Ampullen.»Was ist denn das? Ampullen? Mit der Post? Und mit Wachs verschlossen? Wo kommen die denn her?«

«Aus Deutschland!«

«Was?«Peter wollte aufspringen, aber der Körper pendelte schlaff auf den leblosen Beinen. Er wurde rot und biß die Zähne zusammen. Vergessen, dachte er. Wieder einmal vergessen! Daß es so verdammt schwer ist, zwei gelähmte Glieder nicht zu vergessen! Er nahm den Deckel des Pakets und studierte den Poststempel.

«Aus Erlangen«, sagte er.»Liegt in Bayern. Und kein Absender?«

«Nichts! Nur die nackten Ampullen. «Dr. Cartogeno nahm sie heraus und stieß auf einen Zettel. Peter entfaltete ihn und las vor:

«Beiliegendes Präparat stellt ein Antitoxikum vor. Man injiziere intravenös in Abständen von drei Tagen je 10 ccm sechsmal hintereinander. Nach Ablauf von zehn Tagen in Zwischenräumen von zwei Tagen zweimal 10 ccm. Kleine Herzstörungen können sich einstellen, verschwinden aber nach acht Tagen völlig. Das Antitoxikum ist entwickelt worden zur Bekämpfung von Bissen der >Schwarzen Witwe<. Seine Wirkung bei Curare, Urari und anderen Pfeilgiften ist noch nicht erprobt.«

Dr. Cartogeno war vom Tisch herabgesprungen und hatte Peter den Zettel aus der Hand gerissen. Er las ihn noch einmal durch, so gut er die deutsche Sprache verstand, und glänzte über das ganze Gesicht.»Peter«, stotterte er,»Peter, das ist ein Wunder! Der Himmel schickt es und. Du kannst neue Hoffnung haben, du wirst wieder gehen können. Zehn Ampullen.«

Dr. Perthes hatte die Ampullen aus der Watte genommen und drehte sie in den Fingern. Sein Gesicht war undurchdringlich.»Kein Absender«, sagte er nach einer Weile.»Keine Herstellerfirma — nichts! Wir werden die Ampullen wegwerfen, Fernando.«

«Bist du verrückt geworden?«Cartogeno riß die Ampullen an sich.»Ich werde dir die Spritzen geben, genau nach Vorschrift! Und du wirst dich nicht weigern!«

«Und wie werde ich das!«Peter schob sich mit seinem Rollstuhl vom Tisch weg und rollte an das geöffnete Fenster. Hier hatte man einen schönen Blick über den Rio Guaviare und den kleinen Bootshafen. Die Indios legten gerade an und brachten aus den Wäldern Kautschuk als Tauschware gegen Feldgeräte.»Ich wende doch kein

Serum an, das nicht erprobt ist!«

«Du hast mit deinem unerprobten Serum Sapolana und dann dir selbst das Leben gerettet!«rief Cartogeno.»Deine Heimat schickt dir doch kein Gift!«

«Das Paket war anonym. Das genügt mir. Warum nennt der Absender nicht seinen Namen? Warum verbirgt er sich? Ist es ein Chemiker, so könnte er mit diesem Mittel, wenn es hilft, Millionen verdienen. Ist es ein Arzt, so befiehlt es sogar sein Berufsethos, seinen Namen für ein selbstgefundenes Mittel herzugeben. Ist es aber ein Laie, so können wir es getrost als Produkt des Größenwahns wegwerfen.«

«Genauso sprach man über Pasteur! Erinnerst du dich?«Dr. Cartogeno sah noch einmal auf den Deckel des Päckchens.»Kennst du Erlangen?«

«Ja. Es hat eine alte Universität, doch das will nichts besagen. Es gibt auch Richter und Staatsanwälte, die morden. «Peter schüttelte den Kopf.»Es wird ein Scherz sein, Fernando. Ein schlechter, ein bitterer Scherz.«

Er blickte aus dem Fenster. Fleißig luden die Indios den Rohgummi aus und stapelten ihn auf dem Ufersand. Schon kamen die weißen Händler aus den Hütten und begannen mit den Verhandlungen. Ein Fischerboot kam herein, gefüllt mit frischen Fischen. Ihre Schuppen schillerten bunt in der Sonne. Dr. Cartogeno legte das Paket auf den Tisch, und man sprach an diesem Vormittag nicht mehr darüber. Die letzte Hoffnung, die der kolumbianische Arzt beim Eintreffen des Paketes gehabt hatte, schwand jetzt, nachdem eine nüchterne Überlegung die erste Aufwallung der Freude überstieg. Ein anonymes Paket, zehn laienhaft verschlossene Ampullen, eine milchige Flüssigkeit darin, die mysteriöse Beschreibung.

Am Nachmittag ging Cartogeno zu seinem Boot und fuhr den Fluß hinab, um unterhalb der Siedlung die dort angelegte Schlangenfarm zu kontrollieren und neue Giftabstriche vorzunehmen.

Peter sah seinen Freund über den Fluß rudern. Als er außer Sichtweite war, rollte er sich zu dem Experimentiertisch und öffnete von neuem das geheimnisvolle Paket. Kurz entschlossen nahm er aus dem Sterilkasten eine Spritze, entblößte das linke Bein und stieß sich die Hohlnadel tief in die Muskeln. Langsam zog er das Blut ab, bis die Spritze gefüllt war. Es sah dunkel aus, krank, sauerstoffarm. Dann stillte er den Einstich mit Alkohol und beugte sich über das Mikroskop. Einen kleinen Spritzer seines Blutes brachte er auf die Glasscheibe und betrachtete — wohl zum ungezählten Mal! — die Veränderungen seiner Blutsubstanz. Mit verkniffenen Augen nahm er eine Ampulle aus der Watte, löste den Wachsstopfen und träufelte ein wenig von dem Ampulleninhalt in das verseuchte Blut.

Und das Unbegreifliche geschah: Das Blut veränderte sich, die Kristalle des Giftes lösten sich auf! Mit starrem Blick sah Peter durch das Okular. Er konnte es nicht begreifen, was er dort sah. Er konnte es einfach nicht verstehen. Immer und immer wieder schob er neue Objektträger unter den Tubus, spritzte sein Blut auf das Glas und gab von dem Serum dazu. Und immer wieder vollzog es sich vor seinen Augen: Das Blut wurde rein!

Ein Zittern überfiel Peter Perthes. Er starrte die neun noch gefüllten Ampullen an, riß den Deckel des Paketes an sich und suchte verzweifelt nach einem Zeichen des Absenders. Erlangen! Sonst nichts. Per Luftpost! Kein Name. Kein Hinweis.

Das erste Mittel gegen die >Schwarze Witwe<!

Als Dr. Cartogeno nach drei Stunden zurückkehrte, saß Peter noch immer am Tisch und schrieb mit fliegenden Händen in sein Tagebuch.»Fernando!«rief er.»Fernando, es ist ein Wunder — wirklich, es ist ein Wunder!«Er winkte dem sprachlosen Freund, näher zu treten, und zeigte auf das Mikroskop.»Es frißt das Gift auf. Ich habe es versucht — mit meinem Blut! Und ich kann es nicht begreifen. Ich kann es einfach nicht verstehen.. Das gewaltigste Mittel seit den Erfindungen Robert Kochs kommt anonym!«

Dr. Cartogeno starrte auf den hellen Kreis unter dem Mikroskop. Auch er begriff nicht, was er sah. Von dem Serum schienen Wirkstoffe auf das Gift überzugehen, die es völlig zersetzten und absorbierten. Es gab kein Gift der >Schwarzen Witwe< mehr.

«Leg dich aufs Bett, Peter«, sagte der Kolumbianer leise, indem er sich vom Tisch erhob,»wir wollen es versuchen.«

Auf seinem Rollstuhl fuhr Perthes an das Feldbett. Dann hob ihn Dr. Cartogeno hinüber und legte ihn auf den gespannten Drillichbezug. Aus dem Sterilkasten nahm er eine Spritze, setzte die Nadel ein und ergriff eine der Ampullen.»Zehn Kubikzentimeter — ohne Zusatz«, sagte er wie fragend.

«So steht es auf dem Zettel. «Dr. Perthes nickte und rieb sich selbst den linken Arm mit Alkohol ein. Dann legte er sich ein wenig Watte zurecht, während Cartogeno die Spritze langsam aus der Ampulle aufzog.

Der dünne, milchige Saft füllte den gläsernen Leib. Es sieht aus wie Aquacillin, dachte Peter. Merkwürdig, wie stark das Vorurteil der Menschen gegen Dinge ist, die sich nicht in der altgewohnten Weise präsentieren. Aber ich habe es ja im Mikroskop gesehen — es frißt das Gift auf!Es ist meine letzte Hoffnung.

Cartogeno beugte sich über Peters Arm. In seinem Innern war eine starke Erregung. Doch seine Hand, in allen Lagen gewohnt, den ärztlichen Dienst zu verrichten, war ruhig wie immer. Die Spitze der Nadel stieß durch die wie Leder gewordene Haut, traf die Vene, langsam zog Dr. Cartogeno ein wenig Blut auf, nickte leicht und spritzte dann das unbekannte Serum in Peters Blutbahn.

Angelas Serum.

Während Dr. Perthes auf den Einstich Watte preßte und sich auf sein Kissen zurückfallen ließ, nahm Dr. Cartogeno das Tagebuch vor sich auf die Knie und setzte sich zu Peter ans Bett. Genau beobachtete er die Wirkung der Spritze.

«Es wird heiß im Körper«, sagte Perthes nach einer Weile.»Es ist, als ob du Calcium injiziert hättest. Es brennt in den Adern.«

Dann schien ihn eine Schwäche zu überfallen. Er schloß die Augen. Sein Gesicht rötete sich, der Atem ging rasselnder.

Dr. Cartogeno rannte zum Impfschrank und zog eine Spritze zur Bekämpfung des Kollapses auf. Dann eilte er zu Peter zurück, der ihn mit fiebrigen Augen ansah. Schweiß trat auf die Stirn Peters.

«Das Herz.«, röchelte er.»Das Herz setzt aus. Die Dosis ist zu stark. In meinem Körper brennt alles. «Er schwieg erschöpft und schloß von neuem die Augen.

Nach einer Stunde war der Anfall, so rasch er gekommen war, vorüber. Die Merkwürdigkeit dieses Fieberschauers war, daß sich Peter danach nicht erschöpft fühlte, sondern — im Gegenteil — ein wenig erfrischt und von einem Druck befreit, der ihm die ganzen Wochen über in den Gliedern des Körpers gesessen hatte.

Er las mit Staunen das Tagebuch durch, das Dr. Cartogeno in dieser Stunde geführt hatte, und wunderte sich über die starken Reaktionen seines Blutes auf das neue Serum.

«In drei Tagen die nächste Spritze«, sagte Dr. Perthes und saß schon wieder vor seinem Mikroskop. Im Lichtfeld des Okulars lag der milchige Saft aus den fremden Ampullen.»Jetzt ein Labor haben«, stöhnte er.»Analysieren können, aus welchen Stoffen das Serum besteht. Fernando, dafür gäbe ich viel!«

In den drei Tagen bis zur neuen Injektion fuhren sie wieder die Flüsse hinauf und hinab und sammelten giftige Insekten. Am Bra-za Amanaveni trafen sie plötzlich in einer versteckt liegenden Bucht auf Umari, den Unterhäuptling der Tarapas. Er erwartete die beiden Ärzte in einem breiten Kriegskanu, das von acht Ruderern bewegt wurde. Einer davon war ein Dolmetscher.

«Du willst Zapuare verlassen?«fragte Umari über den Dolmetscher Peter Perthes.

Der sah verwundert seinen Freund an. Er schwieg einen Augenblick. Sie haben gute Späher, dachte er. Sie wissen mehr als meine nächste Umgebung. Nie habe ich darüber gesprochen, auch Fernando nicht, mit keinem der Indios. Ich habe mich nur einmal heimlich in Villavicencio erkundigt, wann der nächste Dampfer von Buenaventura aus nach New York fährt. Eine Antwort habe ich noch nicht — aber Sapolana weiß es schon.

«Vielleicht«, antwortete er.»Ich weiß es noch nicht, Umari.«

«Du mußt bleiben!«entgegnete der Häuptling.

«Du liebst deine Heimat, Umari. «Peter zeigte auf den dichten Ur-wald.»Hier bist du geboren, und hier möchtest du sterben. Du würdest den Wald nie verlassen, wenn du nicht daraus vertrieben würdest. Auch ich habe Sehnsucht nach meiner Heimat, nach den Orten, wo ich als Kind spielte und glücklich war. Ich möchte diese Heimat noch einmal sehen. Dann komme ich zu euch zurück.«

Umari schüttelte den Kopf. Die Muscheln und Federn in seinen durchstochenen Ohrläppchen flatterten und klapperten. Grauenhaft anzusehen war es, wie die Schrumpfköpfe an dem Menschenhaargürtel um seinen Leib schaukelten.

«Sapolana und ich glauben dir nicht. Wenn du erst weg bist von Zapuare, wirst du nie wiederkommen. Aber der Große Häuptling wird dich nicht gehen lassen. Er braucht dich und deinen Zauber. «Er zeigte auf die Medikamentenkästen, die in dem Boot der Ärzte lagen.

«Ist Sapolana wieder krank?«fragte Perthes.

«Nicht er, aber viele seiner Krieger. Sie haben Fieber, sie sind von giftigen Mücken gestochen worden, sie sterben schnell. Du mußt die Tarapas retten, weißer Zauberer.«

«Ich werde euch alle impfen!«Peter nickte.»Aber erst muß ich nach Deutschland, Umari.«

«Du kannst nicht gehen. Deine Beine sind dir genommen.«

«Ich werde wieder gehen können!«Zuversicht klang in Peters Stimme. Seine Augen glänzten.»Aus meiner Heimat kam ein Mittel, dieses Mal wirklich ein Zaubermittel, und ich werde meine Beine wieder gebrauchen können. Ich werde ohne Krücken und ohne Rollstuhl zu euch zurückkehren, Umari, und euren Stamm mit neuen Mitteln impfen, auch gegen das Gift der >Schwarzen Witwe<! Sage das Sapolana!«

Umari nickte. Sein Speer, mit runenhaften Zeichen bedeckt, zeigte mit der Knochenspitze hinauf in den weißblauen Himmel.»Die Götter der Sonne werden bei dir sein. Der Große Häuptling wartet auf dich. Du wirst nicht fahren können. Du mußt in unseren Wäldern bleiben. Ich weiß, daß du nicht wiederkommst.«

Ein kurzer Schrei klang aus seiner Kehle. Die acht Ruderer war-fen sich nach vorn und trieben das Kanu mit starken Schlägen in die Mitte des Stromes. Pfeilschnell glitt es die Strömung hinab, dem Cuno Supari entgegen, den undurchdringbaren Wäldern von Ar-norua.

Eine Baumtrommel am Ufer in den Büschen verkündete dumpf die Zusammenkunft.

Dr. Cartogeno saß Peter gegenüber im Boot und rauchte eines seiner widerlich riechenden langen Zigarillos. Sein Gesicht war ernst.»Willst du wirklich zurück nach Deutschland?«fragte er nach einer ganzen Weile, in der sie langsam den Fluß abwärts trieben.

«Ja, Fernando, ich habe es dir noch nicht gesagt. Woher es Sapolana weiß, ist mir ein Rätsel. Als ich das Paket erhielt mit den zehn Ampullen, als ich im Mikroskop feststellte, daß es ein Gegengift ist, das mir die Bewegung der Beine wiedergeben kann, da habe ich mir geschworen, nach Deutschland zurückzufahren und den Mann zu suchen, von dem dieses Serum stammt. «Er beugte sich vor.»Verstehe es doch, Fernando! Ich muß diesen Mann finden! Nicht mein Leben allein, das Leben Tausender hängt doch an diesem milchigen Wasser! Du bleibst in Zapuare, führst unsere Arbeit weiter fort und wartest. Ich werde wiederkommen, bestimmt! Das schwöre ich dir. Ich kann ohne die riesigen Wälder nicht mehr sein, ohne den Ruf des Tukans und den Gesang der Ruderer, wenn sie zurückkommen, die Boote von Kautschuk und Orchideen entladen. Aber ich muß wissen, wer sich hinter diesem anonymen Paket verbirgt. Es kann ein Jahr dauern, vielleicht auch zwei oder drei Jahre. Es wird vielleicht schwer sein, in Deutschland den Mann zu finden, aber ich weiß auch, daß ich zu dir nach Zapuare zurückkehre und zu dir sagen werde: Fernando, hier bin ich wieder! Komm, rudere mich hinaus auf den Rio Guaviare, den Cuno Supari hinauf in die Wälder von Amorua und zu den unbekannten Quellen des Cuno Mataveni. «Er starrte auf seine Füße und wischte sich über das verschwitzte Haar.»Aber erst muß ich wieder laufen können. Ich muß auf das Wunder warten, Fernando!«

Einen Tag später injizierte Dr. Cartogeno die zweite Ampulle. Der

Körper reagierte nicht mehr so stark. Wohl stellte sich Atemnot ein, ein leichtes Fieber, aber der Verstand wurde nicht mehr getrübt. Auch das Brennen im Körper war weniger stark. Es war, als überflute eine plötzliche Hitzewelle das Blut. Dann war der Körper nach einer halben Stunde fieberfrei, und Perthes fühlte sich erfrischt.

In diesen Tagen beobachteten die beiden Ärzte, wie um sie ein Ring von Tarapas gelegt wurde. Sie kamen nicht bis Zapuare — aber unter- und oberhalb des Rio Guaviare, am Rio Uva in den Llanos de San Martin, am Rio Vichada, ja sogar in der Nähe von Villavi-cencio am Rio Moco hatte man die Krieger in den Wäldern beobachtet. Wohin die beiden in diesen Tagen in ihrem Boot auch fuhren — überall stießen sie auf Tarapas, die still und scheu in den Büschen und Sümpfen hockten und den Weg des Bootes mit ihren Baumtrommeln anmeldeten.

Ein Ring schloß sich um Peter Perthes; Sapolana bewachte ihn. Der geringste Versuch, nach Villavicencio durchzubrechen, würde von ihm vereitelt werden.

«Ich muß nach Deutschland, Fernando«, sagte Peter am zwölften Tag, nachdem er die vierte Spritze erhalten hatte.»Und wenn ich durchbrechen müßte. es geht hier um mehr als um den Willen Sapolanas. Ich werde versuchen, ihn selbst zu sprechen.«

Doch dieses Vorhaben erwies sich als reine Utopie. Sosehr sich Peter auch bemühte und verschiedene Krieger ansprach, die an den Ufern der Flüße saßen, oder gar Umari, als er ihn einmal wieder traf, um eine Unterredung mit dem Großen Häuptling bat — Sapolana schwieg. Nur der Ring wurde immer enger gezogen, er wurde dichter, deutlicher. die Warnung an den weißen Zauberer, die grüne Hölle nicht zu verlassen.

Am achtzehnten Tag nach Eintreffen des Paketes erhielt Dr. Perthes die letzte Injektion. Sechs Ampullen waren jetzt in seinem Blut. Der Körper reagierte ab der vierten Spritze nicht mehr auf das Serum. Kein Fieber mehr, keine Atembeschwerden, kein Brennen in den Adern. Es war, als spritze man aqua destillata. Und die Lähmung der Beine blieb.

Achtzehn Tage voller Hoffen. Wenn er allein war und Dr. Cartogeno die Schlangenfarm besuchte, versuchte Peter manchmal heimlich, aus dem Rollstuhl aufzustehen und einige Schritte zu gehen. Immer wieder knickten seine Beine ein — die Muskeln und Sehnen gehorchten ihm noch immer nicht. Das Serum schien sich doch als unwirksam zu erweisen. Unter dem Mikroskop vernichtete es zwar in kleinen Mengen die Gifte, aber im Körper, im großen Blutraum, wurde es anscheinend negativ aufgenommen, ohne seine heilende Kraft wirksam entfalten zu können.

Mutlos saß Peter dann am Tisch und starrte hinaus in den abendlichen Urwald. Das Leben am Ufer fesselte ihn immer von neuem. Jetzt kannte er schon jeden Indio, der sammelnd durch die Wälder kroch und jede Woche seine Beute nach Zapuare brachte. Er kannte genau die Gewohnheiten der weißen Händler, ihre Kniffe und Betrügereien, mit denen sie die Indios übervorteilten. Er kannte genau den Mister McKinney, der wertlosen Glasschmuck gegen wertvolle Orchideensamen eintauschte, er kannte den alten Fuchs Abraham Futcher, der einmal einen Karton Waschpulver an die Indios verkaufte. Die saßen dann am Ufer vor dem Lagerfeuer, kochten aus dem Waschpulver eine Suppe, freuten sich kindlich über den kesselüberquellenden Schaum und aßen die Waschlauge mit Todesverachtung als neue Delikatesse.

«Alle Indios sind Idioten!«Das war die Ansicht der weißen Händler. Nur manchmal wurden sie still, wenn einer von ihnen bei einer Fahrt in dem Sumpf verschwand und nie mehr auftauchte. Ein Opfer Sapolanas — hieß es dann meistens. Und man sah den weißen Arzt noch scheeler an, der das Leben dieses Ungeheuers der Urwälder gerettet hatte.

Auch Dr. Cartogeno meinte, sein Zigarillo rauchend:»Ein weißer Schrumpfkopf mehr! Vielleicht sähen wir die Mumien von Farley und Parker wieder, wenn wir Sapolana noch einmal besuchen könnten. «Dann biß Peter die Lippen zusammen und starrte hinaus auf den Fluß.

Ein Gefangener seines mächtigen Freundes. Der lahme weiße Zau-berer von Amorua.

Nach zehn Tagen injizierte Dr. Cartogeno streng nach Vorschrift die siebente Spritze mit zehn Kubikzentimeter des Serums. Gleichgültig ließ es Peter mit sich geschehen. Seine Hoffnung war geschwunden. Er war mehr ein Befolgen der Zeilen auf dem Zettel als ein ernsthafter Wille, das Serum siegen zu sehen.

«Dein Blut ist heller geworden«, meinte Cartogeno nach der Injektion.»Ich glaube, daß das Gegengift nur seine Zeit braucht, um wirksam zu werden. «Es war ein billiger Trost, den Peter auch mit lächelndem Nicken erwiderte, als wolle er sagen: Nett, mein Junge! Du willst mir Mut machen. aber ich habe leider den Glauben völlig verloren.

Nach zwei Tagen folgte die letzte Spritze.

Dr. Cartogeno und Peter warteten. Einen Tag. Zwei… fünf. eine Woche. zwei Wochen.

Es geschah nichts. Die Beine blieben gelähmt. Nur das Blut war heller geworden. Unter dem Mikroskop sah es reiner aus, die Giftkristalle waren weniger geworden, und die Erythrozyten hatten sich vermehrt. Das war ein Fortschritt, den auch die Versuche unter dem Mikroskop zeigten. aber der Organismus des Körpers, das angegriffene Nervensystem reagierte nicht darauf.

In der dritten Woche nach der letzten Injektion schlossen sie das Tagebuch mit dem resignierenden Satz ab:

«80 ccm neues Serum aus Erlangen, Deutschland, nach vorgegebener Anweisung injiziert, reinigte Blut, hob aber Lähmung nicht auf. Der Versuch kann als mißlungen betrachtet werden.«

Mißlungen! In diesem Wort lag die ganze Tragik Dr. Peter Perthes'. Er sprach nicht mehr über die kleinen, wachsverschlossenen Ampullen. In einem Schrank versteckt lag der schmale Karton — mit Watte ausgeschlagen.

Auf seinen Krücken humpelte Dr. Perthes weiter umher, fuhr wieder mit seinem Rollstuhl, in einem breiten Baumkanu sitzend, die Flüsse hinauf und hinab, sprach gelegentlich mit Umari, der in letzter Zeit öfters an einsamen Stellen auftauchte und die kleinen Ex-kursionen ins Innere der Wälder begleitete. Von Deutschland erwähnte er nichts mehr. Seine geplante Reise in die Heimat war gegenstandslos geworden. Er war einer Täuschung, vielleicht einer Scharlatanerie zum Opfer gefallen — der gute Glaube an die Möglichkeit einer Rettung war enttäuscht worden.

Durch den Urwald hämmerten wieder Baumtrommeln: Der weiße Zauberer ist weiter gelähmt. Die Götter haben entschieden: Das weiße Wasser aus der Ferne war nicht gut.

Am Lago Jiro, den sie über den Cuno Supari erreichten, gründete Peter eine Impfstation. Die Tarapas bauten nach seinen Angaben eine feste Blockhütte mit drei Räumen. Sie wurde mit hohen, angespitzten Palisaden umgeben und lag direkt am See.

Soweit das Auge reichte, war das stille Wasser umgeben von einer turmhohen grünen Mauer. Hier blieben Peter und Cartogeno zwei Monate und ließen durch Umari die Krieger der Tarapas in Gruppen von zweihundert Mann pro Tag kommen. Untersuchungen ergaben, daß sehr viele an einem verschleppten Sumpffieber, einer Art von Malaria, litten, eine große Anzahl an Lungenkrankheiten, die Folge einer notdürftig geheilten Masern-Erkrankung.

Dr. Perthes saß, nur mit kurzen Hosen bekleidet, in seinem Rollstuhl und impfte seine Freunde, die Tarapas. Dr. Cartogeno bereitete die Impfungen vor, reichte das Impfmesser und übernahm die Untersuchungen von Männern, die Peter ihm bezeichnete, und die möglicherweise andere Krankheiten in sich trugen.

Über 3.000 Krieger gingen durch die Hände der beiden Ärzte; selbst der alte Medizinmann Sapolara kam, gestützt auf zwei junge Krieger, und verlangte eine Impfung. Sie kamen alle ohne Schmuck, ohne Bemalung, ohne die Tukanfedern in den Ohren und ohne Menschenhaargürtel um die Lenden. Nackt traten sie aus den Wäldern, braun, kräftig, mit Muskeln wie Stahl. Ohne Zuckungen ertrugen sie die Einritzungen und die Injektionen in die Brustmuskulatur. Es gab keine Ränge mehr — der Häuptling war dem kleinen Krieger gleich. Sie standen vor Peter, stumm, gaben den Arm und gingen grußlos wieder aus der Hütte.

Nach zwei Monaten kamen die letzten Krieger. Erstaunt sah Peter zu Umari, der die ganze Zeit über mit ihnen in der Blockhütte wohnte.»Und wo bleibt Sapolana?«fragte Peter.

Über Umaris Gesicht zog ein Leuchten.»Der Große Häuptling war hier«, sagte Umari feierlich.»Du hast ihn in den Arm geritzt und in die Brust gestochen wie alle anderen. Du hast ihn nicht erkannt. Er befahl es so.«

«Ich wollte ihn doch sprechen.«

«Aber der Große Häuptling wollte dich nicht sprechen. «Umari beugte den Kopf.»Wir müssen ihm gehorchen, Herr. «Und wieder ruderten die Boote über den Rio Guaviare, den Schicksalsstrom im Leben von Dr. Peter Perthes. Es saß in seinem Rollstuhl und blickte das Ufer entlang, das langsam an ihm vorbeiglitt. Hinter ihm saß Dr. Cartogeno und rechnete aus, was die Impfung an Medikamenten gekostet hatte. Es war eine hohe Summe.

«Ich werde dem kolumbianischen Staat eine Rechnung einreichen«, meinte er und klappte sein Taschenbuch zusammen.»Wir impfen seine Einwohner, und was tut er? Wozu haben sie in Bogota ein Gesundheitsministerium?«

Als sie in Zapuare anlegten stand an dem Kanuhafen ein großer, in blendendes Weiß gekleideter Herr und schwenkte grüßend beide Arme. Er hatte den Tropenhelm tief in die Stirn gedrückt, wie es alle Reisenden tun, die zum erstenmal in den Tropen sind, weil sie denken, damit einem Sonnenstich zu entgehen; sie schwitzen nur noch mehr.

Dr. Cartogeno schüttelte den Kopf und kam dann zu Peter an den Rollstuhl.»Kennst du den komischen Vogel dort vorn?«

Peter hatte die Hand über die Augen gelegt und spähte hinüber zum Ufer.»Von Zapuare ist er nicht. Vielleicht ein Zeitungsonkel aus den Staaten? Ein neues Interview: >Was halten sie von einer Kultivierung des Urwaldes?< — Antwort: >Nichts! Man soll den Wilden ihre Kultur lassen. Werden sie erst zivilisiert, hören sie auf, ein altes Kulturvolk zu sein<!«

«Bravo!«Dr. Cartogeno klatschte in die Hände.»Gib es ihm, Pe-ter! Der Urwalddoktor hält zu den Wilden! Eine Schlagzeile, die dich ehrt!«

Die Indios, die beim Anlegen halfen, rannten schon mit Tauen das Ufer entlang. Auch der fremde Herr in Weiß rannte und schwenkte noch immer die Arme.

«Hartnäckiger Bursche«, meinte Dr. Cartogeno.»Wir legen extra weiter unten an — und er rennt mit!«

Er wollte noch etwas sagen, verstummte aber mitten im Satz und starrte mit offenem Mund seinen Freund an. Peter hatte nämlich plötzlich beide Arme hochgerissen und winkte dem weißen Mann zurück. Sein Gesicht glänzte. Der Körper bäumte sich auf, als wolle er sich aufrichten. Dr. Cartogeno biß sich auf die Lippen.

«Hallo!«schrie Peter.»Hallo! Wir legen an! Willkommen in Zapuare!«Und zu Dr. Cartogeno sagte er:»Fernando, an das Ufer! Es ist Herr von Barthey aus Köln!«

«Auch das noch!«Cartogeno gab den Ruderern einen Wink.»Der Geldgeber! Und wir haben an dreitausend Wilde sein Geld verimpft! Ein Unglück kommt wirklich selten allein.«

Als sie anlegten, stürzte Wolf von Barthey dem Boot entgegen. Schon beim Herausrollen des Fahrstuhls drückte er Peter die Hände und half mit, das Gefährt an Land zu bringen.»Viele Grüße aus Köln!«rief er.»Sie sehen gut aus, Doktor, blendend sehen sie aus! Braun, frisch, kräftig — ich bin glücklich. Sie so zu sehen!«

«Bis auf die Beine. «Peter versuchte ein Lächeln.»Die wollen nicht.«

«Die Beine!«Von Barthey winkte ab.»Pfeifen sie auf die Beine — Sie haben Ihr Lächeln, Sie haben Ihren Mut, Ihren Geist, Ihren Frohsinn. Was haben da die Beine zu sagen!«Er schob den Rollstuhl auf das Ufer und atmete tief auf.»Endlich sind Sie da, Dr. Perthes! Seit drei Wochen sitze ich schon hier in diesem Wanzennest und warte auf Sie! Schauermärchen erzählt man sich von Ihnen, mein Bester! Sie sollen in den Urwäldern die Kopfjäger impfen, damit sie lange gesund bleiben und recht viele weiße Schrumpfköpfe sammeln können. Haha!«Er lachte dröhnend.»Und mit dem größten Satan der grünen Hölle stehen Sie auf du und du? Mensch, Doktor, wenn das die Kölner Kapazitäten in der Lindenburg wüßten!«

Seine Vitalität riß Peter Perthes und Dr. Cartogeno mit. Man ging ins Haus, und Peter humpelte auf seinen Krücken herum, während der Kolumbianer in kurzen Worten berichtete, woher sie kamen.»Kurzum.«, meinte er am Schluß sarkastisch,»Sie haben es mit Ihrem Geld, Herr von Barthey, ermöglicht, daß dreitausend Wilde länger leben werden!«

«Wenn ich das meinen Bankdirektoren erzähle, zerreißen sie mich in der Luft!«Wolf von Barthey lachte schallend.»Also stimmt das alles, was man über Dr. Perthes erzählt? Bis Bogota — ach was, bis New York geht sein Ruf!«Er wandte sich an Peter, der aus seinem Kühlschrank eine flache Schale nahm.»Haben Sie mir einen Pudding kaltgestellt?«rief der Bankier lustig.

«Etwas Ähnliches. «Perthes winkte, und von Barthey trat an den Experimentiertisch. Er blickte in die Porzellanschale, auf deren flachem Boden ein Blutkuchen lag. Die geronnene kalte Masse sah braun und fleckig aus.

«Wenig appetitlich«, meinte der Bankier und wurde plötzlich ernst.»Ihr Blut?«fragte er Peter.

«Nein, das Blut eines Tapirs. Es enthält in konzentrierter Form so viel Curarin, daß man mit diesem Blutkuchen leicht zwanzigtausend Menschen umbringen könnte.«

Wolf von Barthey betrachtete die Schüssel voller Grauen.

«Und was machen Sie damit?«

«Das folgende Experiment soll meine Begrüßung für Sie sein. «Er nahm mit der Pinzette einen kleinen Teil des geronnenen Blutes aus der Schüssel und löste es in Wasser auf. Dann zog er die tödlichen Flüssigkeit in eine Spritze auf und hielt sie vor die Augen des Bankiers.»Diese Spritze enthält jetzt so viel Giftstoff, wie er sonst an hundert normalen vergifteten Pflanzen anzutreffen wäre. «Er ging damit zu einem Käfig im Nebenraum und holte einen kleinen Affen heraus.»Dieses Gift injiziere ich jetzt dem Tier.«

«Lassen Sie das Äffchen leben, Doktor!«rief von Barthey. Er blickte das zitternde Tier an und wandte sich dann ab.

Während Dr. Cartogeno den quiekenden Affen festhielt, stieß Peter die Spritze mit dem Giftstoff tief in den Schenkel des Tieres. Es fiel fast augenblicklich in Zuckungen.

«Sehen Sie es?«fragte Dr. Perthes laut. Der Bankier drehte sich um, seine Augen waren geweitet.»Das Äffchen liegt im Sterben. Das Curarin lähmt sofort die Muskeln und Organe. «Nun wandte sich Perthes zu Dr. Cartogeno um, der bereits eine andere Spritze in der Hand hielt.

«Antitoxikum, Fernando!«Perthes nahm die Spritze und stieß sie dem immer apathischer werdenden Affen in den gleichen Schenkel.»So«, sagte er dann zufrieden, und sah Herrn von Barthey groß an,»wenn der Affe jetzt noch stirbt, dürfen Sie mich einen Scharlatan nennen!«

Wolf von Barthey wischte sich über die Augen und lehnte gegen den Tisch.»Das ist ja unheimlich, Doktor Perthes, das ist. «Ihm versagten die Worte. Der Affe hatte sich aufgerichtet, streichelte mit beleckten Fingern die beiden Einstichstellen und flüchtete dann auf einen der Schränke, wo er hocken blieb und zu den drei Menschen hinunterkeifte.

Wolf von Barthey aber stürzte auf Peter Perthes zu und schloß ihn überschwenglich in seine Arme.»Sie haben es geschafft! Ich wußte es ja, ich habe es allen gesagt, allen, die nicht daran glauben wollten! Der alte Miesmacher Window und der sachliche Dr. Sacher — sie zweifelten! Aber ich habe gesagt: Er schafft es! Er ist nicht umsonst in den Wäldern, habe ich gesagt, er bringt uns das Gegengift gegen Curare, das einzige Mittel, das hilft! Mensch, Doktor. Ach was, Peter nenne ich Sie jetzt, Peter, mein Junge. «Rührung überfiel ihn. Er ließ den Arzt los und setzte sich auf das Feldbett.»Ich erlebe ein Wunder.«, stotterte er.»Ist das Ihr neues Serum?«

«Ja. Es muß jetzt noch von tüchtigen Serologen erprobt und klinisch untersucht werden. Ich mußte Sie damit begrüßen, Herr von Barthey: Es ist das Serum, das Sie mit nach Deutschland nehmen! Der Stamm unserer pharmazeutischen Fabrik, ihre Grundlage sozusagen: die Herstellung eines bisher unbekannten Physostigmins, entwickelt aus Phytotomie der Toxiferen.«

«Hören Sie auf!Hören Sie auf!«Der Bankier hielt sich die Ohren zu.»Ich ersticke an diesen schrecklichen Ausdrücken!«Während Dr. Perthes sachlich und ein wenig stolz seine Erfolge mit dem Gegengift erläuterte, lief Dr. Cartogeno in die nächste Bar und erstand einige Flaschen Whisky und lauwarmes Sodawasser, das er sogleich in den Kühlschrank stellte. Ein Benzinmotor hielt ratternd das verzweigte Kühlsystem der Schränke in Betrieb und spendete Strom für die Lampen und alle Geräte.

Am Abend erzählte Wolf von Barthey von seiner Fahrt. Vor vier Wochen schon war er in Buenaventura angekommen, von da fuhr er nach Bogota. Dort hielt man seinen Besuch für geschäftlich und erklärte ihn für einen Selbstmörder, als er den Wunsch äußerte, nach Zapuare zu Dr. Perthes zu fahren. Zwei Herren des Ministeriums versicherten, daß der kolumbianische Staat für nichts haftbar zu machen sei, wenn er in die Hände der Tarapas fallen würde. Man erzählte ihm alle Geschichten von dem >Teufel Sapolana<, den Kopfjägern, man zeigte ihm im Museum die Schrumpfköpfe und die Giftpfeile, Blasrohre, Speere, Keulen und Beile der Indianer, ja, man führte ihm sogar in einer Klinik Versuche mit Curare vor und erklärte ihm, daß ein Ritz mit diesem Gift unheilbar sei.

Der Bankier aus Köln ließ sich nicht abhalten. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, Dr. Perthes zu besuchen. Und wo der lebte — warum sollte er da nicht auch leben können? Achselzuckend brachte man ihn nach Villavicencio, wo man einen Führer mietete und Herrn von Barthey mit diesem in die unwegsamen Wälder schickte.

Zwei Männer im Land der Tarapas! Nach acht Tagen kamen sie in Zapuare an, ohne einem Wilden begegnet zu sein. Wohl hörten sie in ihrem Rücken und ringsherum den Klang von Trommeln, aber sie maßen dem keinerlei Bedeutung zu. Daß es die Nachricht war, ein Freund des weißen Zauberers ziehe durch den Wald und stehe unter dem Schutz des Großen Häuptlings — das ahnte von Barthey nicht. Er hörte die Trommeln und zog an seinem Tod vorbei, weil er zu Dr. Peter Perthes reiste.

«In Köln warten alle auf Sie«, sagte der Bankier weiter und trank Peter zu.»Wenn Sie hier fertig sind, bauen Sie ab und kommen zurück nach Deutschland, mein Lieber! Sie müssen Ihre Entdeckungen mit auswerten, und Ihr Freund Dr. Cartogeno auch.«

Peter schüttelte den Kopf.»Es wird nicht gehen«, sagte er langsam. Fernando Cartogeno stockte der Atem, und er starrte Peter ungläubig an.»Ich kann meine Hütte hier am Rio Guaviare nicht allein lassen. Die Tarapas brauchen mich. Sie haben das Gegenmittel — Sie werten es aus und machen es groß und berühmt. Wir werden immer in Verbindung bleiben. Ich werde Ihnen vielleicht auch neue Sera schicken, Ratschläge geben und die Eroberungen Ihrer Forscher in der großen Praxis des Urwaldes bestätigen. Aber mit nach Deutschland. «Er schüttelte den Kopf.»Es wird nicht gehen. «Er betrachtete seine gelähmten Beine.»Was sollte ich auch in Köln? Im Rollstuhl durch den Garten der Lindenburg fahren? Das Mitleid der Kollegen im Rücken? Nein, das könnte ich nicht.«

Wolf von Barthey wollte etwas sagen, aber er biß sich auf die Lippen und schwieg. Er starrte auf Peters Beine, die leblos vom Sitz des Rollstuhls herunterhingen.»Was ich schon bei der Begrüßung sagte: Ich soll Sie von allen grüßen«, fuhr er dann fort.»Professor Dr. Window übrigens ist vor einigen Wochen die erste operative Linderung der kaum erforschten multiplen Sklerose gelungen. Es war eine Sensation in der medizinischen Welt.«

«Der gute Professor!«Peter lachte vor sich hin.»Und Dr. Sacher?«

«Dr. Sacher war nach Erlangen gefahren, um.«

Perthes und Cartogeno sprangen auf.»Nach Erlangen?«rief der Kolumbianer.

«Ja — ein Besuch bei Professor Dr. Purr. «Herr von Barthey dachte gerade noch rechtzeitig daran, daß er nichts über Angela Bender sagen durfte, und wand sich aus der heiklen Situation heraus.»Er war nur kurz dort. Sonst ist er der alte geblieben.«

Der Bankier lachte noch einmal ein wenig gequält.»Denken Sie nur! Er wollte doch tatsächlich mit nach Zapuare und Ihnen Gesellschaft leisten! Er wollte sogar hier bleiben! Wir haben es ihm lange ausreden müssen, bis er dann doch einsah, daß er an der Lindenburg als tüchtiger Chirurg mehr leisten kann als im Urwald beim Kampf gegen giftige Ameisen und Spinnen!«

Dr. Perthes nickte zögernd. Eine Frage würgte in seiner Kehle. Es schien schwer zu sein, sie auszusprechen. Er wollte einen Namen nennen, den er eigentlich aus seinem Gedächtnis längst gestrichen haben sollte.»Und — was macht Angela?«sagte er endlich.

«Dr. Bender?«Von Barthey stockte.»Sie wissen es nicht?«

«Nein! Was weiß ich nicht?«

«Ach. «Wolf von Barthey überlegte. Ich muß ihm etwas sagen, ohne zu verraten.»Dr. Bender ist doch weg aus Köln.«

«Ja, das weiß ich. Vorübergehend, nicht wahr? Auf Urlaub im Allgäu? Und dann?«Dr. Perthes betrachtete den Bankier aufmerksam.

«Nein, Peter, an dem Tag, als Sie von Bremerhaven aus in See stachen, löste sie alle Verträge in Köln. Sie gab ihre Praxis auf, fuhr dann ins Allgäu und ist nun schon seit Monaten verschwunden.«

«Verschwunden?«Dr. Perthes richtete sich im Sitzen auf.»Soll das heißen, daß niemand weiß, wo sich Angela jetzt befindet?«

Wolf von Barthey nickte. Die Lüge kam ihm nur stockend über die Lippen. Peter deutete es gottlob als Erschütterung.»Ja, so ist es. Dr. Bender ist irgendwo untergetaucht.«

«Angela untergetaucht?«Peter sprang aus seinem Rollstuhl auf und schwankte an den Tisch.»Sie hat Köln ganz verlassen? So liebte sie mich. «Und leiser:»Ich war schlecht zu ihr, so schlecht.«

Mit offenem Mund starrte Dr. Cartogeno den Freund an. Blässe, Entsetzen im Gesicht, dachte er: Er ist aufgesprungen! Er ist doch ein paar Schritte gegangen! Die Beine! Mein Gott, Peters Beine — sie tragen ihn wieder. Er kann gehen. Die Beine.

Ein Aufschrei Dr. Cartogenos ließ Peter herumfahren. Er sah die ausgestreckte Hand Fernandos, sah den Zeigefinger zitternd auf seine Beine gerichtet… sah die starren Augen. Dr. Perthes blickte an sich hinunter. Tastend ging er ein paar Schritte. Die Beine bewegten sich! Die Beine trugen ihn. Und er begriff das Wunder — es überfiel ihn wie ein Schlag. Es schmetterte ihn zu Boden. Mit ei-nem Aufschrei warf er die Arme empor und sank vornüber.»Fernando!«schrie er.»Fernando… ich… gehe. «Dann fiel er zu Boden und schüttelte sich wie im Krampf.

Doch ehe der Kolumbianer und der Bankier bei ihm waren, kniete er schon wieder und stand langsam, zitternd auf. Frei stand er jetzt im Zimmer, die Arme weit ausgebreitet. Vorsichtig setzte er die Füße. Fuß nach Fuß. Er ging. ging dreimal durch den Raum. ein wenig schwankend noch, unsicher, hinkend. aber er ging mit seinen Beinen.

Dr. Cartogeno stürzten die Tränen übers Gesicht. Auch der Bankier wandte sich ab und mußte sich die Nase putzen. Er verließ das Zimmer. Dann stand er auf der Veranda und blickte über den Fluß.

«Das Serum, Fernando. «Peter ging auf Cartogeno zu, der ihn stumm umarmte.»Das Serum hat geholfen. Das anonyme Mittel aus Deutschland. aus Erlangen!«Und plötzlich fiel sein Kopf an Dr. Cartogenos Schulter, und Schluchzen durchzitterte den Körper.»Ich kann es noch nicht fassen, Fernando, sag mir, daß ich träume. Sag mir doch, daß ich wieder laufen kann. Ich glaube es nicht. ich kann es nicht glauben! Sag es mir.«

«Du bist gesund, Peter. «Der Kolumbianer drückte den deutschen Freund an sich.»Du kannst wieder gehen! Hörst du — gehen. gehen.«

«Ja, Fernando, ja. «Peter umklammerte die Schultern seines Freundes.»Und ich werde meine Beine gebrauchen, um den Mann zu suchen, der mir das Serum geschickt hat. Ich werde gehen, wenn es sein muß, rund um die Erde. «Er richtete sich auf und schrie:»Ich fahre nach Deutschland! Ich fahre nach Deutschland!«

Weithin gellte es durch den Garten.

Draußen stand der Bankier von Barthey aus Köln und faltete die Hände. Er konnte sich nicht besinnen, wann er das letztemal gebetet hatte.