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Kapitel 16

Im Juni 1952 lebte Dr. Peter Perthes in München. Er forschte, kannte keine Ruhe, schlief in den Laboratorien, wo man ihm ein Feldbett aufgeschlagen hatte.

Die kleine Ampulle, die letzte der zehn, war nach wenigen Versuchen verbraucht — nach Versuchen, die zu keinem Ergebnis geführt hatten. Dieses Serum erwies sich als widerspenstig.

So war Dr. Perthes jetzt, nach Monaten, zu einer eigenen Versuchsreihe gekommen, zu der er sich das Gift der >Schwarzen Wit-we< vom Tropeninstitut hatte kommen lassen. Nun forschte er, ganze Ställe voller Affen und Kaninchen um sich herum, mit weniger Glück als Angela vor einem Jahr. Er kam nicht weiter.

Teilerfolge freuten ihn, bis er einsehen mußte, daß das Gift stärker

war und nach einer gewissen Zeit, genährt durch die Körperwärme, wieder durchschlug.

Er saß in den Kliniken an den Betten der Kranken, er hatte Zutritt zu allen Stationen der Universitäts-Krankenhäuser, er hockte in der serologischen Abteilung und ließ sich von Professor Dr. Donath die Erfolge und Mißerfolge der Münchener Wissenschaftler erklären.

Und dann ging er wieder durch die langen Gänge der Kliniken, arbeitete mit Gummihandschuhen in den Isolierstationen, stand die Nächte über im Keller der Anatomie und nahm selbst die Autopsie der Toten vor, die dem Ansturm der Viren und Bakterien erlegen waren.

Am Morgen stieg er dann von neuem ans Tageslicht, fahl, eingefallen, unrasiert, mit glänzenden Augen, wusch sich schnell in seinem Zimmer, nahm ein Bad, rasierte sich, trank hastig seinen Morgenkaffee, schlang ein Brötchen hinunter oder verzehrte ein Ei.

Dann eilte er schon wieder zu den Stationen und saß an den Betten der Kranken, beobachtete ihre Herztätigkeit oder impfte im Keller die Kaninchen und die Meerschweinchen mit neuen Präparaten.

Mit Präparaten, die wieder versagten.

Der Gedanke, laufend zu versagen, machte ihn hart gegen sich. Er hatte es erlebt, daß ein infizierter Affe nach drei Injektionen mit dem unbekannten Serum genas… diese drei Injektionen aber waren von dem letzten Impfstoff gemacht worden, den er besaß… und er stand vor dem Wunder, daß ein todkranker Körper sich erholte.

Er hatte es doch selbst gesehen, daß es einen Weg gab, daß das Dunkel nicht undurchdringlich war!

Dann war es wieder einmal, als habe er Erfolg. Er hatte eine Ratte mit dem Messer in den Rücken geritzt — und die Messerspitze war mit dem Gift der >Schwarzen Witwe<, das er aus Hamburg bekommen hatte, getränkt.

Nach zehn Minuten zeigten sich Krämpfe, die Ratte legte sich auf den Rücken, die Beine erlahmten, der Atem war pfeifend. In die-

sem Stadium, kurz vor der Atemlähmung, injizierte Dr. Perthes sein Serum 365, das Ergebnis des 365. Versuchs in der Retorte. Die Ratte erholte sich, sie stellte sich auf die Beine. Starr saß der Forscher vor dem kleinen Käfig und betrachtete diese Wandlung. Er dachte daran, daß sein letzter Versuch kurz vor dem Gelingen deshalb versagte, weil die Körperwärme das Gift über das Antitoxin brachte.

So nahm er jetzt die Ratte aus dem Käfig, setzte sie in einen Eisbehälter und packte das Tier in Eisstückchen, bis nur noch die spitze Schnauze mit den langen Barthaaren heraussahen.

Dort blieb die Ratte, bis sie fast steif gefroren war, und in diesen vereisten Körper injizierte er noch einmal das Serum. Er dachte an die neuen Kälteschlaf-Operationen, die von sich reden machten, an die neuen Methoden, das Herz und den Blutkreislauf durch Kälte so einzudämmen, daß man das Herz in aller Ruhe mit dem Skalpell angehen konnte. und die Ratte lebte weiter, bis man sie aus dem Eis befreite.

Dann ging sie ein.

Das Gift war stärker! Es hatte auch die Eiseskälte überstanden. Versuch 365 war mißlungen — kurz vor dem Triumph!

An diesem Abend blieb Dr. Perthes auf seinem Zimmer. Er ging nicht zum Essen, er nahm den Hörer nicht ab, als man anrief. Er verkroch sich und starrte vor sich hin.

Er brauchte in diesem Zustand keinen Trost. er konnte ihn nicht ertragen. Schmerzhafter als je zuvor hatte er heute eingesehen, daß er nur ein Mensch war, ein kleiner, armseliger, nichtswissender Mensch, den die Natur nach jedem neuen Versuch ins Gesicht schlug.

Aber er blieb in München, und er gab noch nicht auf.

Mit Herrn von Barthey hatte er sich geeinigt. Seine Forschungen an der Münchner Universität stellte er der langsam anlaufenden pharmazeutischen Fabrik in Köln zur Verfügung, nachdem er es fertiggebracht hatte, zwischen dem Bankhaus von Barthey und dem bayerischen Staat als Vertreter der Universität einen Vertrag zu lancieren, der dem Kölner Bankier die Auswertung aller Forschungen des Dr. Perthes in München übertrug — bei einer Beteiligung des Staates.

Mit Professor Window und Dr. Paul Sacher stand er in regem Briefwechsel. Einmal sogar besuchte Paul Sacher den Freund. Er freute sich über dessen Gesundheit, und wenn auch die Gehkraft der Beine nicht vollständig wiedergekommen war, so konnte Peter Perthes doch, auf einen Stock gestützt, rüstig gehen. Von einer Behinderung jedenfalls war nicht zu sprechen.

Aber der Inhalt der zehn Ampullen, jenes wunderbare Serum, das ihn anonym erreicht hatte, ließ ihm keine Ruhe. Wer war der Unbekannte, der sich nicht in die Karten schauen ließ und dem er, Dr. Perthes, nicht das Wasser reichen konnte, weil ihm, wie er jetzt fest glaubte, einfach der geniale Blick ins Geheimnisvolle versagt war.?

Angela Bender lebte in Gauting still und zufrieden. Der kleine Peter gedieh prächtig. Er war ein kräftiger, blonder Junge, der mit seinen dicken Beinen durch den Garten stolperte und mit seinem lauten Krähen das ganze Haus erfüllte.

Wenn Angela jetzt abends ihre Praxis zuschloß und sich ganz dem Kind widmen konnte, so wünschte sie sich nichts weiter vom Leben als das lange dauernde Glück, diese Tage mit ihrem Kind recht intensiv erleben zu dürfen.

In zwei oder drei Jahren, wenn alles gut weiterging, wollte sie sich in Gauting ein Häuschen bauen, mit einem weiten Garten, mit Liegewiese und Obstbäumen, und Peter sollte eine Jugendzeit verleben, die sie in diesem Alter nie gekannt hatte. Er sollte niemals den Vater vermissen — sie wollte ihm beides sein, Vater und Mutter.

Dafür arbeitete sie, dafür war sie nachts oft unterwegs, dafür assistierte sie in einer Kinderklinik und saß, wenn es die Praxis erlaubte, wenn Peter schlief oder mit dem neuerdings engagierten Hausmädchen ausgegangen war, in einem kleinen Labor, das sie sich in einer unbenutzten Dachkammer mit Erlaubnis der Frau Landsgerichtsratswitwe eingerichtet hatte. Dort baute sie neue Versuche auf ihr in Erlangen gelungenes Antitoxikum auf, konzentrierte die Wirkstoffe auf ein Maß, daß eine Injizierung von 4 ccm genügte, wo Pe-ter damals noch 10 spritzen mußte, und entwickelte ein Mittel, das neben dem Gift der >Schwarzen Witwe< auch eine Heilung bei anderen tierischen Giften versprach.

Sie dachte daran, nach der völligen Durchforschung des Komplexes ihr neues Serum der Öffentlichkeit vorzustellen und Peters Zukunft damit für alle Zeiten zu sichern.

Von Dr. Perthes hatte sie nichts mehr gehört.

Sie hatte damals das Serum ohne Absender an Dr. Cartogeno geschickt, der ihr nach dem einen Brief nicht wieder geschrieben hatte. Daß Peter Perthes aus Kolumbien zurückgekommen war, daß er jetzt ganz in ihrer Nähe in München lebte, davon wußte sie nichts. Sie hatte im Mikroskop gesehen, daß ihr Serum half, und das Bewußtsein, Peter von seiner Lähmung gerettet zu haben, erfüllte sie mit Freude — aber auch mit der Gewißheit, daß hiermit die letzte Verbindung zu ihm abgebrochen sei. Sie hatte ihm den Glauben an sich selbst wiedergegeben, einen Glauben, den er dazu ausnützen würde, um zu bleiben und weiterhin in den riesigen Urwäldern den giftigen Reptilien nachzujagen und seine Forschungen zu betreiben.

Für Dr. Angela Bender war mit diesen zehn Ampullen der Mensch Peter Perthes abgeschrieben. Sie selbst hatte es ihm ermöglicht, in den Tropen zu bleiben… und sie zwang sich nun, nicht mehr daran zu denken.

In diesem Juni 1952 flammte in Bayern, vor allem in München, eine Geißel der Menschheit von neuem auf: die spinale Kinderlähmung.

Die Kliniken hatten Großalarm. Die Ärzte standen vor einem Rätsel. Dr. Perthes jagte als Experte für Serologie von Konferenz zu Konferenz, von Krankenbett zu Krankenbett.

Die Kinderlähmung forderte bereits die ersten Opfer.

Der Virus griff um sich. Niemand wußte, woher er kam; keiner ahnte, wo es auftrat. Man stand vor einem Überfall durch diese Krankheit, die aus dem Dunkel zu kommen schien und dort auch endete.

Dr. Perthes arbeitete wieder einmal wie ein Besessener.

Die bisher angewandte Rekonvaleszenz-Serum-Therapie versagte.

Die anderen Sera hatten nur aufhaltende Wirkung. Und in der Stadt München, besonders bei den Müttern von kleineren Kindern, schien eine Panik auszubrechen.

Vierzehn Fälle von spinaler Kinderlähmung allein in der Universitätsklinik, davon bisher fünf tödlich.

Dr. Perthes saß an den Bettchen der Kinder, an den isolierten Lagern der Erwachsenen und wußte keinen Rat mehr. Daß einige Stationen weiter Dr. Bender auf einer Station für Scharlach arbeitete, ahnte er nicht. Drei dünne Wände trennten sie.

Einige Zimmer nur, die mit den großen Türen auf einen gemeinsamen Balkon hinausliefen. Aber das Schicksal wollte diese Türen nicht öffnen. Es spielte weiter mit den beiden Menschen mit einer Unergründlichkeit, die wir nicht begreifen können.

Schon schlich das Gespenst der Hilflosigkeit durch die Krankenhausflure, durch die Säle, durch die Isolierstationen, durch die Ärztezimmer. Der Leiter der serologischen Abteilung, Professor Dr. Panzer, saß mit seinen Mitarbeitern Nacht für Nacht über den Mikroskopen — am Tag besuchten sie die Kranken und gingen meistens achselzuckend aus den Zimmern hinaus.

Dr. Perthes hatte alle Freiheiten. Er verfügte über das riesenhafte Elektronenmikroskop, und es gab nichts, was ihm verschlossen war. Umsonst!

Die Fälle acht, neun und zehn starben. Fünf neue Lähmungen, bereits im sekundären Stadium, wurden eingeliefert.

Als Dr. Perthes sie untersuchte, konnte er nicht ahnen, daß die einliefernde Ärztin Frau Dr. Bender war. Er achtete einfach nicht darauf. Er las die bisherigen Anamnesen und verfluchte das Gleichmaß dieser satanischen Krankheit: Leichtes Fieber ohne Grund, Unruhe, eine Art von Erkältung, Schlaflosigkeit. Und plötzlich das Versagen der Nerven — die unheilbare Lähmung der Beine und — im schlimmsten Fall — ein grauenhaftes Ersticken.

Die Münchner standen vor den Krankenhäusern Schlange, um Schutzimpfungen machen zu lassen. Serumspritzen wurden jeden Tag gegeben, aber die Angst blieb — und neue Fälle wurden einge-liefert.

An einem Abend — es war der 24. Juni 1952, ein Dienstag — wurde in die Universitätsklinik auch ein Junge namens Peter Bender, eindreiviertel Jahre alt, eingeliefert.

Die Mutter, Dr. med. Angela Bender aus Gauting, brachte ihn selbst, gefaßt, bleich, mit einem Gesicht wie aus Eisen. Ihre Diagnose war klar, so klar wie bei allen ihren Einweisungen: Primäre Anzeichen einer Kinderlähmung sowie eine deutliche Agglutination im Blutbild. Sofortige Rekonvaleszenz-Serum-Therapie.

Die Ärztin spritzte selbst ihrem kleinen Peter das Gegenmittel. Dann saß sie die ganze Nacht an dem Bett, in dem sich sein fieberheißes Köpfchen hin und her warf. Sie weinte nicht — sie hatte mit starren Augen das Kind angesehen, dann schloß sie sie und ließ ihr ganzes Leben vor ihren inneren Augen vorbeiziehen.

Da war Köln, die Lindenburg, ihre Praxis. Da war plötzlich der große, lachende Dr. Perthes, der ihr ein verunglücktes Kind zur Behandlung brachte. Man ging durch den Stadtwald, man tanzte bei dem Bankier von Barthey, man küßte sich bei einem Tango in ihrer Wohnung, und man war so glücklich, wie es zwei Menschen nur sein können, die sich ganz gehören.

Sie erschrak. Professor Panzer war leise in das Zimmer getreten.

«Etwa Neues, Frau Kollegin?«fragte er.

Sie schüttelte den Kopf und fühlte den Puls ihres Kindes.»Nein, Herr Professor. Ich hoffe auf diese Nacht. Ich bete, daß das Fieber zurückgeht. «Sie senkte den Kopf auf die heiße, schweißige Hand des Kindes, auf die Hand, die klein und wie leblos auf der Bettdecke lag.»Ich weiß, ich bin hier machtlos.«

«Wir sind Tag und Nacht an der Arbeit«, versuchte Professor Panzer einen Trost.»Wir haben einen Weg in Sicht. Haben Sie Hoffnung, Frau Kollegin. Kämpfen Sie um Ihr Kind.«

«Das haben die anderen Mütter auch getan. Und trotzdem liegen die Kinder dort drüben. «Sie nickte aus dem Fenster in die Richtung, wo in der Dunkelheit der Nacht am Rande des Klinikgartens die flache Leichenhalle stand.

«Sie sehen zu schwarz«, meinte der Professor begütigend.

Die Stunden der Nacht gingen langsam dahin. Nie kann eine Stunde länger dauern, dachte Angela Bender, als wenn man erwartet, daß sie bald vorübergeht.

Gegen vier Uhr morgens wurde der kleine Peter stiller. Sein Atem ging ruhiger, aber das Fieber blieb.

Ein fahler, regnerischer Tag senkte sich über die große Stadt. Dr. Bender war am Bett ihres Kindes ein wenig eingenickt. Mit geschlossenen Augen saß sie aber trotzdem aufrecht neben dem Bett-chen. Die Müdigkeit übemannte sie. Die Angst um ihr Kind schwächte sie. Verzweiflung wich der Ohnmacht.

Wieder klappte die Tür in Angela Benders Rücken. Sie schreckte hoch, aber sie drehte sich nicht um. Es wird Professor Panzer sein, dachte sie.

«Das Kind wurde gestern eingeliefert?«fragte eine Stimme hinter ihr.

Sie zuckte zusammen wie unter einem harten Schlag. Diese Stimme. dieser Klang. Nein, das ist nicht wahr. Das kann doch nicht sein. Habe ich jetzt schon selbst das Fieber? Ich träume wohl noch.

Sie stand langsam auf und nickte, aber sie wagte es nicht, sich umzudrehen. Sie hörte weiter, wie hinter ihr auf dem Tisch ein Papier raschelte, wie Kasten klapperten, wie mit leisem Klirren eine Ampulle aufgezogen wurde.

Ein Zittern lief über sie. Warum hat er eine Spritze aufgezogen? Gleich wird er an das Bett kommen. Und er wird es nicht sein. Er kann es ja nicht sein. Er ist doch in Kolumbien, in den Urwäldern, bei seinen Wilden.

Das Hantieren hinter ihr hörte auf. Sie vernahm, wie die Seite eines Buches umgeblättert wurde. Dann wieder die Stimme:

«Sie kennen die Eltern, Frau Kollegin?«

Sie nickte verkrampft vor sich hin. Ja, ich kenne sie! schrie es in ihr. Ich bin die Mutter, und du — du hinter meinem Rücken — mit der ruhigen ärztlichen Stimme —, du Mann mit der Spritze in der Hand — du bist.

Du stehst vor deinem Kind, Peter Perthes! rief es in ihr weiter. Es trägt die Kinderlähmung in sich, die furchtbare Kinderlähmung, und du stehst wieder vor einer Station deines unruhigen Lebens. Komm doch endlich. Was zögerst du denn noch? So komm doch! Rette mein Kind, rette es doch! Unser Kind.

Sie hörte seine harten Schritte. Ein weißer, langer Mantel tauchte vor ihr auf.. Dann ein Kopf, hager, umrahmt von beinahe weißem Haar.

Da wollte sie aufschreien, aber ihr Mund blieb im Schrei offen, schlaff sanken ihre Arme an den Körper.

Auch Peter starrte sie an. Fassungslos, wortlos, versteinert.

So standen sie sich gegenüber und sahen sich an. Der große, durch Krankheit und Erleben weiß gewordene Mann — und die schmale, blasse, zitternde Frau. Er senkte den Blick und betrachtete die Spritze, die er in der aufrechten Hand hielt.

«Angela!«sagte er leise. Es war wie ein Gruß, aber in der Zaghaftigkeit des Wortes lag alles Weh dieser Welt.

«Ja, Peter.«

«Ich kann es nicht fassen. «Er schüttelte den Kopf.

«Ich glaube es auch so lange nicht, bis du mir deine Hand gegeben hast.«

Er gab sie ihr und fühlte ihren leichten Druck. Dann blickte er wieder verlegen seine Spritze an.

«Erst das Kind«, sage er und trat näher.»Ich habe heute nacht ein Serum entwickelt, aufbauend auf den Erkenntnissen des Rekonvaleszenz-Serums. Nur habe ich versucht, durch bisher unbekannte Sulfoverbindungen die Wirkung zu konzentrieren, verstehst du? Ob es hilft.«

Er zuckte mit den Schultern.»Ich möchte aber doch erst die Eltern des Kindes fragen, immerhin ist es ein Versuch. Sie müssen damit einverstanden sein.«

«Ja, Peter. Ich spreche doch täglich mit ihnen, stündlich.«

«Du hast also mit ihnen schon gesprochen?«

«Sie sind einverstanden. «Angela sah Peter groß an.»Immer! Auch jetzt, Peter.«

Da zuckte er zurück.

«Angela.«, stammelte er,»dieser Junge. ist.«

«Mein Kind, ja, Peter. Und er heißt — Peter. «Sie mußte sich abwenden.»Er ist jetzt eindreiviertel Jahre alt.«

Er stürzte auf sie zu, umfing ihre Schultern und drehte sie zu sich herum.

Ganz nah war ihr Gesicht, und er sah, daß Tränen in ihren geröteten Augen standen. Angelas Mund zuckte. Da preßte er den Kopf an seine Brust und streichelte ihn langsam.

«Angela«, sagte er leise,»Angela. Ich kann nichts mehr sagen. Nur noch eins, Angela: Ich schäme mich — ich schäme mich.«

Sie löste sich aus seinen Armen und wischte sich die Tränen mit einer schnellen Handbewegung aus den Augen.»Erst das Kind!«sagte nun auch sie stockend.»Rette es, Peter. Der Himmel hat dich zurückkommen lassen, um dein Kind zu retten, unser Kind.«

Dr. Perthes wandte sich ab, griff von neuem nach der Spritze und trat an das Bettchen. Der kleine Peter lag in den Kissen wie ein Wesen, das man verloren hatte. Noch schlief er, aber im Schlaf tastete seine Hand an den Hals, an den Nacken, als fühle er dort einen Schmerz.

«Typisch!«sagte Peter leise und setzte sich auf den Stuhl, den Angela herangeschoben hatte.»Schmerzen im Nacken nach einem Fieberanfall. «Er blickte zur Seite, wo Angela stand.»Fühlst du dich stark genug, um zu assistieren?«

«Ja, Peter. «Sie setzte sich ihm gegenüber, sie hielt den Arm ihres Kindes fest, rieb die Haut mit Alkohol ab und blickte dann den Arzt fest an.

Der saß vorgebeugt, die Spritze in der Hand, und starrte sein Kind an. Die blonden Haare waren voller Schweiß, die Haut auf dem Näs-chen zitterte. Der Mund war verkniffen.

«Mein Junge!«sagte er leise.»Mein Peter!«Dann legte er die Spritze weg.» Ich kann es nicht, Angela.«

«Peter!«Sie sah ihn entsetzt an.»Soll er denn sterben?«»Das Serum ist nicht erprobt, Angela. Heute nacht habe ich es erst entwickelt. Aus der Retorte habe ich es in die Ampulle umgefüllt. Ich weiß doch nicht, ob es hilft… ich habe große Hoffnungen, natürlich, aber.«

Er stockte.

Dann fuhr er leise fort:»Es kann auch der Tod sein, den ich unserem Jungen spritze.«

«Wage es, Peter!«Angela tastete mit ihrer Hand zu seiner Hand.»Wir sind nur Menschen, Peter. Hier muß Gott helfen.«

Mit starrem Gesicht setzte Dr. Peter Perthes die Nadel an, stieß in die Vene und drückte das neue Serum langsam in die Blutbahn des Kindes. Es zuckte bei jedem Stich zusammen, wollte mit der anderen Hand den Arm fassen, aber da beugte sich Angela über den Jungen und hielt seinen Arm fest.

Mit einem Ruck zog Perthes die Nadel heraus. Schweiß stand in dicken Tropfen auf seiner Stirn. Seine weißen Haare hingen unordentlich in die Stirn.

«In zwölf Stunden müssen die ersten Reaktionen kommen«, sagte er müde. Er blickte auf seine Armbanduhr.»Es ist jetzt sieben Uhr morgens. Bleibst du bei Peter?«

«Ja.«

«Das ist gut. «Er schellte und bestellte bei der hereinschauenden Schwester starken Kaffee.

Dann saßen sie bis gegen Mittag am Bett des Kindes. Wortlos. Nur ihre Hände hielten sich fest, als wollten sie sich aneinanderklammern, festklammern in ihrer Not und Hoffnung.

Der kleine Peter schlief weiter. Einmal drehte er sich auf die Seite, ohne aufzuwachen, und murmelte ein paar Worte, die man nicht verstehen konnte.

«Wann bist du zurückgekommen?«fragte sie leise.

«Voriges Jahr. Ich fuhr für ein paar Tage nach Erlangen.«

«Nach Erlangen?«Sie sah ihn ungläubig an.»Was wolltest du denn ausgerechnet in Erlangen?«

«Einen Mann suchen!«Er winkte ab.»Das ist eine lange Geschichte,

Angela. Ich muß sie dir erzählen, wenn Peter gesund ist und wir lange Abende Zeit haben, die Abenteuer des verlorenen Peter Perthes anzuhören. Ich könnte auch beginnen: Es war einmal. Es war auch ein Märchen, ein Lebensmärchen, das sich nun der Erfüllung zuneigt.«

«Ich weiß es. «Angela Bender lächelte leicht. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und blickte hinaus auf die langen Regenfäden, die trommelnd die Fenster hinunterliefen.

Bleigrau hing der Himmel über München.»Da geht ein Mann in den Urwald hinaus und rettet mit einem neuen Serum einen bösen Indianerhäuptling. Monatelang lebt er unter den Wilden, streift durch die Wälder, die noch kein Mensch betreten hat, er wird zum >Weißen Zauberer<, den alle Wilden gläubig verehren. Da wird er plötzlich von einer >Schwarzen Witwe<, der berüchtigten Giftspinne, gebissen und ist selbst todkrank.«

«Angela!«Peter wollte aufspringen, aber sie hielt ihn fest. Mit der rechten Hand verschloß sie seinen Mund und erzählte weiter:

«Mit dem gleichen Serum rettete sein Freund, Dr. Cartogeno, sein Leben, aber die Beine blieben gelähmt. Das Leben des großen weißen Urwalddoktors schien vernichtet. Auf Krücken humpelte er durch den Wald. Er wurde lebensmüde. Da schrieb Dr. Cartogeno in seiner Not nach Deutschland. Er schrieb auch an eine gewisse Angela Bender.«

«Fernando? Er hat an dich geschrieben?«

«Pst! Ich erzähle ein Märchen.«

Sie drückte ihn wieder auf den Stuhl zurück.»Wenn man ein Märchen hört, muß man ganz still sein, sonst spürt man nicht den Zauber, der durch den Raum geht. Diese Angela Bender war in Erlangen, nachdem sie ihren Sohn geboren hatte. Sie arbeitete an der Klinik. Heimlich aber forschte sie nach einem Serum. In langen nächtlichen Versuchen fand sie es, schickte zehn Ampullen nach Zapuare, wurde dann sehr krank und zog nach München, um für sich und ihren Jungen ein neues Leben aufzubauen. Sie verwischte alle Spuren hinter sich, sie nahm dem Laboratoriumsdiener Benischek das

Ehrenwort ab, nie zu verraten, wer da nachts in den Labors gearbeitet und geforscht hatte, und sie wollte auch nie mehr ihre alten Kölner Freunde wiedersehen. zuallerletzt einen gewissen Dr. Peter Perthes.«

«Das ist doch alles ein Traum!«Peter fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.»Das kann doch nicht Wirklichkeit sein! Angela, du — das Serum — die zehn Ampullen — meine Rettung.«

Er riß sie zu sich empor. Klein, schmächtig, aber mit leuchtenden Augen lag sie an seiner Brust. Sie nickte nur.

«Ich habe dir also mein Leben, alle meine Erfolge zu verdanken, alles! Und ich? Ich verließ dich. Ich habe dich hintergangen, belogen, in der größten Not allein gelassen! Du hast dieses Kind geboren, du hast für es bis zum Zusammenbrechen gearbeitet… und ich. «Er schüttelte den Kopf.»Wie schuftig habe ich gehandelt… wie gemein!«Er drehte sich um und wollte zur Tür gehen.

«Wohin willst du gehen?«fragte Angela, am Bett stehend.

«Fort. Irgendwohin!«

Er drückte die Türklinke herunter.»Leb wohl, Angela. Ich muß jetzt mit meiner Schuld allein sein.«

«Und dein Kind?«

Sie rührte sich nicht vom Bett des Jungen.»In ein paar Stunden werden die Reaktionen deines Serums auftreten. Willst du Peter damit allein lassen?«

«Du rufst mich noch, Angela?«

«Mein ganzes Leben war doch ein einziger Ruf nach dir, Peter. Du hast ihn nur nie gehört. Auch heute nicht, Peter?«

Er drehte sich von der Tür ab und ließ die Klinke los. Langsam kam er zurück ans Bett, beugte sich über die Kissen und küßte den kleinen Peter auf die schweißnasse Stirn.

Dann nahm er beinahe ehrfürchtig Angelas Hand und küßte auch sie.

In der Gebärde lag Demut, Dank und. ein Versprechen.»Wenn ihr mich noch haben wollt, ihr beide… dann bleibe ich… für immer.«, flüsterte er stockend.

Und sie blieben zusammen. Nach vier Tagen war die Krisis des kleinen Peter vorüber, er genas zusehends. Mit hoffnungsvollen Gesichtern begann man in den Labors, das neue Serum Dr. Perthes' herzustellen und im großen zu erproben.

Fünf Wochen nach der Heimkehr des kleinen Peter heirateten Peter Perthes und Angela Bender. Eine lange Irrfahrt zweier Herzen endete im Hafen gleichgestimmter Seelen.

In Köln begann die große pharmazeutische Fabrik mit der serienmäßigen Herstellung der neuen Medikamente.

Professor Window, Dr. Sacher und der Bankier von Barthey — auch Professor Dr. Purr aus Erlangen gratulierten persönlich bei der Hochzeitsfeier.

Und auf dem Tisch lag ein Telegramm aus Zapuare:»Endlich, mein Junge! Fernando.«

«Fernando«, sagte er sinnend und schaute dann Angela an.»Ich habe ihn unter dreitausend Wilden zurückgelassen. Dort sitzt er jetzt — allein und abgeschnitten — und wartet.«

Peter umarmte seine junge Frau und gab ihr das Telegramm.»Angela, ich bin und bleibe ein ruheloser Mensch! Ich muß ein Versprechen einlösen. Nicht dieses Jahr — aber im nächsten fahre ich zurück nach Zapuare.«

«Peter!«Sie sah ihn ungläubig an.

«Und du fährst mit — du und Peterle! Wir drei wollen meinen Fernando besuchen. Er hat es verdient, daß er mit uns glücklich ist!«Er drehte ihr Gesicht zu sich empor.»Bist du mir jetzt sehr böse?«

Angela lächelte und schüttelte den Kopf.»Aber nein, Peter. Wie kann ich dir nach alledem böse sein?«Sie strich ihm über die Haare.»Wir sind nur Menschen, Peter.«