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«Ich bin überzeugt», sagte Herr Wonka, an Großvater Georg, Großmutter Georgine und Großmutter Josefine gewandt, «ich bin fest überzeugt, dass Sie drei nach allem, was vorgefallen ist, jetzt aus dem Bett springen möchten und sich zusammen mit uns um die Schokoladenfabrik kümmern wollen.»
«Wer? Wir?», fragte Großmutter Josefine.
«Ja, Sie», sagte Herr Wonka.
«Sind Sie verrückt?», rief Großmutter Georgine. «Ich bleibe hier, wo ich bin, in diesem sehr schön bequemen Bett - vielen herzlichen Dank!»
«Ich auch», sagte Großvater Georg.
In diesem Augenblick entstand plötzlich Bewegung unter den Umpa-Lumpas am anderen Ende des Schokoladenraums. Man hörte aufgeregtes Stimmengewirr, sah Umpa-Lumpas hin und her rennen und mit den Armen fuchteln, und aus diesem Aufruhr tauchte schließlich ein einzelner Umpa-Lumpa auf und kam mit einem riesigen Brief in der Hand auf Herrn Wonka zu-gerannt. Er flüsterte ihm etwas zu und Herr Wonka beugte sich zu ihm hinunter.
«Vor dem Fabriktor?», rief Herr Wonka. «Leute!... Was für Leute?... Ja, aber sehen sie gefährlich aus?... Benehmen sie sich gefährlich?... Und ein was?... EIN HUBSCHRAUBER!... Und diese Leute sind aus dem Hubschrauber gestiegen?... Sie haben dir das gegeben?... »
Herr Wonka griff nach dem riesigen Umschlag, schlitzte ihn schnell auf und zog den zusammengefalteten Brief heraus. Es herrschte vollkommene Stille, als er nun das Geschriebene rasch überflog. Keiner rührte sich. Charlie erstarrte. Bestimmt würde sich nun etwas ganz Fürchterliches ereignen. Es roch deutlich nach Gefahr. Die Leute draußen vorm Tor, der Hubschrauber, die Zappeligkeit der Umpa-Lumpas... Er beobachtete Herrn Wonka scharf, ob nicht eine Veränderung seines Gesichtsausdrucks ihm verraten werde, wie schlimm die Nachricht war.
«Beim pfeifenden Pferdeschwanz!», rief Herr Wonka und sprang so hoch in die Luft, dass ihm beim Aufsetzen die Beine wegknickten und er auf seinem Hinterteil notlanden musste.
«Beim schnarchenden Schnepps!», schrie er, während er sich hochrappelte und mit dem Brief wedelte, als schlüge er damit nach Mücken. «Hört euch das mal alle an! Hört euch das bloß mal an!»
DAS WEISSE HAUS WASHINGTON, D.C.
An
HERRN WILLY WONKA Sehr geehrter Herr,
die ganze Nation, ja, die ganze Welt bejubelt heute die geglückte Rückkehr unserer Transportkapsel mit 136 Seelen an Bord aus dem Weltraum. Ohne die Hilfe, die diesen 136 Menschen von einem unbekannten Raumschiff zuteil wurde, wären sie niemals wieder heimgekehrt. Mir wurde berichtet, dass der Mut, den die acht Astronauten an Bord dieses unbekannten Raumschiffes bewiesen haben, außergewöhnlich war. Unsere Radarstationen haben dieses Raumschiff bei seiner Rückkehr zur Erde verfolgt und festgestellt, dass es an einem Ort heruntergekommen ist, der als Wonkas Schokoladenfabrik bekannt ist. Darum, sehr geehrter Herr, ist dieser Brief an Sie gerichtet. Um die Dankbarkeit der Nation zu beweisen, möchte ich nun diese acht unglaublich tapferen Astronauten allesamt einladen, mich auf ein paar Tage als meine Ehrengäste im Weißen Haus zu besuchen.
Ich bereite für heute Abend eine Feierstunde im Blauen Saal vor, bei der ich persönlich allen acht kühnen Fliegern einen Orden anheften werde. Die bedeutendsten Persönlichkeiten des Landes werden bei dieser Veranstaltung zugegen sein, um die Helden zu grüßen, deren weithin leuchtende Taten für immer in das Buch der Geschichte unseres Volkes eingeschrieben sind. Unter den Anwesenden werden sich befinden: die Vizepräsidentin (Fräulein Elvira Tibbs), alle Mitglieder meines Kabinetts, die Oberbefehlshaber des Heeres, der Marine und der Luftwaffe, alle Kongressmitglieder, ein berühmter Schwertschlucker aus Afghanistan und die Gouverneure sämtlicher Staaten der USA und natürlich meine Katze, Frau Taubsypuss.
Ein Hubschrauber erwartet Sie alle acht vorm Fabriktor. Ich selber erwarte Sie bei Ihrer Ankunft im Weißen Haus mit der größten Freude und Ungeduld.
Mit vorzüglicher Hochachtung verbleibe ich Ihr
Lancelot R. Gilligrass PRÄSIDENT DER VEREINIGTEN STAATEN
PS. Können Sie mir bitte ein paar Riegel/Tafeln Wonkas Wunder-Weich-Creme-Füllung mitbringen? Die esse ich so gerne, aber meine wird mir dauernd aus meiner Schreibtischschublade geklaut. Und bitte Tante Tibbs nichts davon sagen!
Herr Wonka verstummte. Und in dem Schweigen, das nun einsetzte, konnte Charlie die Menschen atmen hören. Ihr Atem ging sehr viel rascher als gewöhnlich. Und das war noch nicht alles. So viele Empfindungen und Gefühle machten sich breit, so viel Freude und Glück, dass ihm ganz schwindlig davon wurde.
Großvater Josef war der Erste, der etwas sagte: «Jipppie!», schrie er und rannte zu Charlie und packte ihn bei der Hand, und schon tanzten die beiden am Ufer des Schokoladenflusses entlang. «Wir kommen hin, Charlie!», sang Großvater Josef. «Wir kommen doch noch ins Weiße Haus!» Auch Herr und Frau Bucket tanzten und lachten und sangen und Herr Wonka rannte überall im Raum herum und zeigte den Brief stolz den Umpa-Lumpas. Nach ungefähr einer Minute klatschte Herr Wonka in die Hände und bat um Aufmerksamkeit. «Kommen Sie, kommen Sie!», rief er laut. «Wir dürfen nicht bummeln! Wir dürfen nicht trödeln! Komm, Charlie! Und auch Sie, Großvater Josef! Und Herr und Frau Bucket! Der Hubschrauber steht vorm Tor! Wir können ihn nicht warten lassen!» Er schob die vier vor sich her zur Tür.
«He!», schrie Großmutter Georgine laut aus dem Bett. «Und wir? Wir sind auch eingeladen, oder haben Sie das etwa vergessen?»
«In dem Brief stand, wir alle acht sind eingeladen!», rief Großmutter Josefine.
«Und dazu gehöre auch ich», sagte Großvater Georg.
Herr Wonka drehte sich zu ihnen um. «Natürlich gehören Sie auch dazu», sagte er. «Aber dieses Bett kriegen wir ganz bestimmt nicht in den Hubschrauber rein. Es geht nicht durch die Tür.»
«Soll das heißen - wenn wir nicht aus dem Bett aufstehen, können wir nicht mit?», fragte Großmutter Georgine.
«Genau das soll es heißen», sagte Herr Wonka. «Geh weiter, Charlie!», flüsterte er und gab Charlie einen kleinen Schubs. «Geh immer weiter auf die Tür zu!»
Da hob plötzlich hinter ihnen ein lautes Rascheln von Bettzeug an und ein Knarren und Ping-Ping von Sprungfedern: die drei alten Leute sprangen aus dem Bett, als hätte man sie hinauskatapultiert. Sie flitzten hinter Herrn Wonka her und riefen: «Warten Sie! Warten Sie auf uns!» Man konnte nur staunen, wie schnell sie quer durch den großen Schokoladenraum rannten. Herr Wonka, Charlie und die anderen standen da und betrachteten sie mit großen Augen.
Sie hüpften über Wege und über kleine Sträucher wie Gazellen im Frühling; ihre nackten Beine blitzten, ihre Nachthemden flatterten und bauschten sich hinter ihnen.
Plötzlich bremste Großmutter Josefine mit einem solchen Ruck, dass sie noch fünf Meter weiter schlitterte, bevor sie ganz stand. «Wartet!», schrie sie schrill. «Wir müssen wohl verrückt sein! Wir können doch nicht zu einem berühmten Fest im Weißen Haus im Nachthemd gehen. Wir wollen nicht so gut wie nackt vor all den Leuten stehen, wenn der Präsident uns mit Orden besteckt!»
«O-o-o-oh!», jammerte Großmutter Georgine. «Was sollen wir bloß machen?»
«Haben Sie denn überhaupt nichts anzuziehen dabei?», fragte Herr Wonka.
«Natürlich nicht», sagte Großmutter Josefine. «Wir sind doch schon seit zwanzig Jahren nicht mehr aus dem Bett aufgestanden.»
«Wir können nicht mit!», klagte Großmutter Georgine. «Wir müssen hier bleiben!»
«Könnten wir uns denn nicht in einem Geschäft etwas kaufen?», meinte Großvater Georg.
«Womit?», fragte Großmutter Josefine. «Wir haben doch kein Geld!»
«Geld!», rief Herr Wonka. «Du lieber Himmel, nun zerbrechen Sie sich doch nicht den Kopf wegen Geld! Davon habe ich mehr als genug!»
«Hört mal», sagte Charlie, «wir könnten doch den Hubschrauberpiloten bitten, unterwegs auf dem Dach eines großen Warenhauses zu landen. Dann könnt ihr schnell nach unten rennen und kaufen, was ihr braucht.»
«Charlie!», rief Herr Wonka und packte ihn bei der Hand. «Was sollten wir ohne dich wohl machen? Das ist eine glänzende Idee! Kommt jetzt! Los geht's! Auf zum Besuch im Weißen Haus!»
Alle hakten sich ein und tanzten zum Schokoladenraum hinaus, die Gänge entlang und durch das große Hauptportal ins Freie, wo der Hubschrauber in der Nähe des Fabriktors wartete.
Mehrere außerordentlich bedeutend aussehende Herren in dunklen Anzügen kamen ihnen entgegen und verbeugten sich.
«Tja, Charlie», sagte Großvater Josef. «Das war ja nun wahrhaftig ein aufregender Tag.»
«Noch ist er nicht zu Ende», sagte Charlie und lachte. «Er hat noch nicht mal richtig angefangen.»