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An dem Tag, an dem sich alles dies zutrug, hatte keine Fabrik auf der Welt ihre Tore geöffnet. Alle Büros und Schulen blieben geschlossen. Niemand wich vom Fernseher, nicht mal für einen kurzen Augenblick, um schnell eine Cola zu holen oder ein Baby zu füttern. Die Spannung war unerträglich. Alle hörten die Einladung des amerikanischen Präsidenten an die Menschen vom Mars, ihn im Weißen Haus zu besuchen. Sie hörten auch die merkwürdige gereimte Antwort, die so unheildrohend klang. Und sie hörten einen durchdringenden Schrei von Großmutter Josefine und gleich darauf den Ruf «Raus! Raus! Raus!» von Herrn Wonka. Niemand konnte sich einen Vers auf das Geschrei machen. Man hielt es für eine Art Marssprache. Aber als die acht geheimnisvollen Astronauten dann Hals über Kopf in ihre Glaskapsel zurückstürzten, konnte man die Seufzer der Erleichterung geradezu hören, die die Völker der Erde ausstießen. Telegramme und Eilbriefe strömten ins Weiße Haus - alle Welt gratulierte dem Präsidenten, der durch sein geniales Eingreifen die bedrohliche Situation gemeistert hatte.
Der Präsident selbst blieb ruhig und nachdenklich. Er saß an seinem Schreibtisch und rollte ein kleines Stückchen feuchtes Kaugummi zwischen Daumen und Zeigefinger. Er wartete auf den Augenblick, wo er es Tante Tibbs ins Gesicht schnippen konnte, ohne dass sie es sah. Er schnippte es und verfehlte Tante Tibbs, traf dafür aber den Innenminister an der Nasenspitze.
«Glauben Sie, dass die Menschen vom Mars die Einladung ins Weiße Haus angenommen haben?», fragte der Präsident.
«Aber selbstverständlich», antwortete der Außenminister. «Sie haben eine glänzende Rede gehalten, Sir.»
«Wahrscheinlich sind sie jetzt schon hierher unterwegs», meinte Tante Tibbs. «Geh und wasch dir schnell dieses ekelhafte, klebrige Kaugummi von den Fingern. Sie können jeden Augenblick eintreffen.»
«Lass uns erst mal ein Lied singen», sagte der Präsident. «Bitte, sing nochmal was über mich, Tante Tibbs!»
DAS LIED VON TANTE TIBBS
«Bravo, Tante Tibbs!», rief der Präsident und klatschte in die Hände. «Gut gemacht, Fräulein Vizepräsidentin!», riefen die anderen. «Phantastisch! Großartig!»
«Du liebe Zeit!», sagte der Präsident. «Diese Marsmenschen müssen jeden Augenblick hier landen! Was setzen wir ihnen denn bloß zum Mittagessen vor? Wo ist mein Chef koch?»
Der Chefkoch war Franzose. Er war nicht nur ein französischer Koch, sondern auch französischer Spion, und in dieser Eigenschaft horchte er gerade am Schlüsselloch zum Arbeitszimmer des Präsidenten. «Ici, Monsieur le President!», sagte er und platzte herein.
«Chefkoch», sagte der Präsident. «Was essen Marsmenschen zu Mittag?»
«Marsriegel», antwortete der Chefkoch.
«Ach ja?»
«Selbstverständlich, Herr Präsident», sagte der Chefkoch.
Da ertönte die Stimme des Astronauten Shuckworth aus dem Lautsprecher im Arbeitszimmer des Präsidenten. «Bitte um Erlaubnis, ankoppeln und an Bord des Raumhotels gehen zu dürfen!», sagte Shuckworth.
«Erlaubnis erteilt», sagte der Präsident. «Nur zu, Shuckworth. Die Lage ist bereinigt... nachdem ich eingegriffen habe.»
Und so kam es, dass die große, von Shuckworth, Shanks und Showler gelenkte Transportkapsel mit allen Hoteldirektoren und stellvertretenden Hoteldirektoren und Empfangschefs und Konditoren und Pagen und Serviererinnen und Zimmermädchen an Bord sachte an das riesige Raumhotel heranglitt und festmachte.
«He! He! Wir sehen nichts mehr auf dem Fernsehschirm!», rief der Präsident.
«Leider ist die Kamera - so ein Pech! - an der Bordwand des Raumhotels zerschellt, Herr Präsident», erwiderte Shuckworth.
Der Präsident sagte ein wenig feines Wort ins Mikrofon und zehn Millionen Kinder im ganzen Land wiederholten es begeistert und kriegten dafür von ihren Eltern eins hinter die Löffel.
«Alle Astronauten und hundertfünfzig Kopf Hotelpersonal wohlbehalten an Bord des Raumhotels, Herr Präsident», meldete Shuckworth über Funk. «Wir stehen im Augenblick in der Eingangshalle.»
«Und welchen Eindruck haben Sie?», fragte der Präsident. Er wusste, dass die ganze Welt gespannt lauschte, und wollte daher von Shuckworth hören, dass alles ganz wunderbar sei. Shuckworth enttäuschte ihn nicht.
«Mensch, Herr Präsident, es ist einfach toll!», sagte er. «Es ist unglaublich! So riesig! Und so... Mir fehlen einfach die Worte, um es zu beschreiben, weil es wirklich, ich übertreibe nicht, großartig ist, besonders die Kronleuchter und die Teppiche und alles! Der leitende Hoteldirektor, Herr T. Pich-Booden, steht gerade hier neben mir und bittet um die Ehre, mit Ihnen sprechen zu dürfen, Herr Präsident.»
«Ich höre», sagte der Präsident.
«Herr Präsident, hier spricht T. Pich-Booden. Was für ein luxuriöses Hotel! Die Ausstattung ist unübertrefflich!»
«Haben Sie bemerkt, dass alle Räume Teppichboden haben, Herr T. Pich-Booden?», fragte der Präsident.
«Ja, und ob, Sir!»
«Die Tapeten sind passend zum Teppichboden ausgesucht worden, Herr Tapeter Pich-Booden.»
«Ja, richtig, Herr Präsident! So gelungen! Es wird mir ein großes Vergnügen sein, solch ein schönes Hotel zu leiten!... He! Was ist denn da los? Da kommt was aus den Fahrstühlen! Hilfe!» Plötzlich drang eine ganze Serie grauenhafter Schreie aus dem Lautsprecher ins Arbeitszimmer des Präsidenten: «Eh-iiiiii! Au-u-u-u-u! Iiiiii! Hill-ffe! Hi-i-ill-ffe! Hilllllllfe!»
«Was ist denn da los?», fragte der Präsident. «Shuckworth! Sind Sie da, Shuckworth?... Shanks! Showler! Herr T. Pich-Booden! Wo sind Sie denn alle? Was geht dort vor?»
Die Schreie dauerten an. Sie waren so laut, dass der Präsident sich die Ohren zuhalten musste. In jedem Haus auf der Welt, in dem ein Fernsehapparat oder ein Radio stand, waren diese fürchterlichen Schreie zu hören. Und dazu noch andere Geräusche: lautes Grunzen und Schnauben und knirschendes, krachendes Schmatzen. Dann wurde es still.
Wie rasend rief der Präsident das Raumhotel über Funk. Houston rief das Raumhotel. Der Präsident rief Houston. Houston rief den Präsidenten. Dann riefen beide gleichzeitig noch einmal das Raumhotel. Aber eine Antwort kam nicht. Dort oben im Weltraum herrschte Schweigen.
«Da ist etwas Schlimmes passiert», sagte der Präsident.
«Bestimmt diese Marsmenschen», meinte der ehemalige Oberbefehlshaber des Heeres. «Ich habe Ihnen ja gesagt, Sie sollten mich sie in die Luft sprengen lassen!»
«Ruhe!», fuhr der Präsident ihn an. «Ich muss nachdenken.»
Im Lautsprecher knackte es. «Hallo!», meldete sich eine Stimme. «Hallo, hallo, hallo! Können Sie mich hören, Raumkontrolle Houston?»
Der Präsident griff nach dem Mikrofon auf seinem Schreibtisch. «Das übernehme ich, Houston!», rief er.
«Präsident Gilligrass hier! Ich höre Sie laut und deutlich!»
«Hier Astronaut Shuckworth, Herr Präsident, wieder an Bord der Transportkapsel... Gott sei Dank!»
«Was ist passiert, Shuckworth? Wer ist bei Ihnen?»
«Fast alle, Herr Präsident, das kann ich zum Glück sagen, Shanks und Showler sind hier bei mir, und noch ein ganzer Haufen andere Leute. Wir haben wohl alles in allem ungefähr zwei Dutzend Leute verloren, Konditoren, Portiers und so weiter. Das war vielleicht ein Gedränge, um da lebendig wieder rauszukommen!»
«Wie soll ich das verstehen, Sie haben zwei Dutzend Leute verloren?», rief der Präsident. «Wie haben Sie die verloren?»
«Die sind verschlungen worden!», antwortete Shuckworth. «Ein Haps, und weg waren sie! Ich habe einen über eins achtzig großen Direktorstellvertreter gesehen, der wurde runtergeschluckt, wie Sie einen Löffel Eis runterschlucken würden, Herr Präsident! Kein Kauen - nichts! Einfach runter durch den Schlund!»
«Aber wer?», brüllte der Präsident. «Von wem reden Sie? Wer hat verschluckt?»
«Moment!», rief Shuckworth. «Oje, da kommen sie alle an! Sie sind hinter uns her! Sie kommen in ganzen Schwärmen aus dem Raumhotel! In ganzen Schwärmen! Sie müssen mich einen Augenblick entschuldigen, Herr Präsident. Habe jetzt keine Zeit zum Reden!»